Die Kranichschnäbler im Herzog Ernst B: Hybridwesen zwischen Bewunderung und Bestialität

Auf ihrer Reise nach Jerusalem verschlägt ein Sturm den Herzog Ernst und seine Gefährten in die wundersame und prächtige Stadt Grippia. Die Episode in Grippia und die Begegnung des Herzogs Ernst mit den dort ansässigen Kranichmenschen nimmt im Herzog Ernst B beinahe ein Drittel des gesamten Versromans ein und ist daher von besonderer Bedeutung. Die Stadt Grippia befindet sich am Rand der bekannten Welt und bildet einen topographischen Übergangsraum zwischen dem rîche und dem Orient,[1] der Bekanntes und Fremdes, Vertrautes und Unvertrautes wie in einem Mosaik vereint. Ebenso verhält es sich mit den Bewohnern und Erbauern der Stadt, den Kranichschnäblern. Sie sind biform,[2] ihre Körper sind menschlich, ihre Hälse und Köpfe sind jedoch die von Kranichen. Ihre Lebensform ist höfisch und sie tragen prachtvolle Kleidung. Die Stadt Grippia, ausgestattet mit Bädern, Kunst und Reichtum, ist Zeugnis der zivilisatorischen Errungenschaften der Kranichmenschen, die im Verlauf der Geschichte mit maßloser Gewalt und sexualisierter Bestialität kontrastiert wird. Im Folgenden soll die ambige Hybridität der Kranichmenschen näher beleuchtet werden, deren Einordnung sich im Verlauf der Episode zusehends vom menschlichen Spektrum ins tierisch-monströse verschiebt. Diese Verschiebung wird besonders anhand ihres Umgangs mit der geraubten Menschenprinzessin aus India sichtbar. Die Behandlung der christlichen Prinzessin und ihre folgende ‘Erschnäbelung‘ löst eine Verschiebung in der Wahrnehmung der Kranichmenschen vom kultivierten Exoten ins Bestialische aus.

It’s a trap! Die Kranichmenschen und ihre fabelhafte Stadt

Die in Grippia beheimateten Kranichschnäbler sind das erste Wundervolk, denen Herzog Ernst auf seiner Orientreise begegnet. Der Herzog und seine Ritter werden nach einem heftigen Sturm ausgehungert im paradiesisch anmutenden Land Grippia angespült. Auf der Suche nach Nahrung betreten sie die schönste Stadt, die die Welt je gesehen hat: „Ez wart nie burc sô maere/ Geworht ûf dirre erden/ Noch nimmer kunde werden/ Erbûwen alsô schône“.[3] Sie entdecken gedeckte Tische, speisen erlesen und decken sich vor der Rückkehr auf ihr Schiff mit Lebensmitteln ein. Zurück an Bord, beschließt der Herzog gemeinsam mit dem Grafen Wetzel die Stadt noch ein weiteres Mal zu erkunden. Die folgende Beschreibung der Stadt erstreckt sich über weite Teile der Grippia-Episode und ist eine faszinierende „visuelle tour de force“,[4] die das Exotische mit dem Bekannten vereint:

“The topography of the city displays perfect order and suggests recognition, but reveals simultaneously an unknown component. The city appears beautiful and exotic.”[5]

Spiegelbildlich zur Stadt verhält es sich auch mit ihren Bewohnern, die gerade von einem Raubzug aus India zurückkehren und Wetzel und Ernst bei der Stadtsichtung überraschen. Sie verstecken sich daraufhin in der Stadt und beobachten die Kranichschnäbler fasziniert. Die unermesslichen Reichtümer und die Schönheit der Stadt passen zur Schönheit und Wohlgestalt ihrer Bewohner:

di wâren an îe lîben,
sie waeren junc oder alt,
schoene unde wol gestalt
an füezen und an henden
in allen enden schoene liute und herlich,
wan hals und houbet was gelîch
als den kranichen getân. [6]

Der einzige Makel an ihren sonst stattlichen Körpern, sind ihre langen Hälse und Köpfe.[7] Trotz der körperlichen Seltsamkeiten entdecken Wetzel und Ernst, dass die gesellschaftliche Organisation der Kranichschnäbler ihnen bekannten feudalen Mustern folgt. Sie haben einen König, edle Leute, pflegen einen höfischen Lebensstil und scheinen sich durchaus auch kriegerisch zu betätigen. Zwar wirken die Kranichmenschen insgesamt seltsam[8] und wunderlich, durch ihre hochentwickelte Urbanität werden sie jedoch eindeutig im menschlichen Spektrum als liute[9] verortet. Der zivilisatorische Entwicklungsgrad ist es auch, der die Kranichschnäbler von anderen monströsen Rassen abhebt. Diese halten sich für gewöhnlich eher in der Wildnis auf, statt sich in einem komplexen städtischen Umfeld zu bewegen,[10] in dem man sich wohlerzogen verhält und vor dem Essen sogar die Hände wäscht.[11]

Ein weiterer Indikator dafür, dass sie sich trotz ihrer Tierköpfe zunächst eher als menschlich denn als Tiere wahrgenommen werden, ist zum einen ihre kostbare Kleidung, die äußerst detailliert und im Ton der Bewunderung beschrieben wird. Weiterhin ist noch ihre Bewaffnung zu nennen: Sie tragen Pfeil und Bogen mit edler Verzierung und aus feinem Material. Aufgrund ihrer distinguierten Aufmachung, aber auch aufgrund ihrer zierlichen Hälse, werden sie von Ernst und seinen Rittern daher zunächst nicht als bedrohlich oder gar als wilde Monster wahrgenommen. Vielmehr sind sie ein Faszinosum: „Much like their city, they are fascinating to stare at, but potentially dangerous. They, too, may seem to be one thing, but are in fact another.”[12]

An der Charakterisierung der Grippianer fällt auf, dass sie zunächst keinem religiösen Kontexte zugeordnet werden. Vielmehr werden die Kranichschnäbler als draufgängerische Genussmenschen charakterisiert, ihr festlicher Lebensstil wird als „vîl vermezzen […] stolz und gemeit[13] beschrieben. Durch die im Herzog Ernst bekannte kompromisslose Kreuzzugsmentalität[14] „erhält auch die Faszination der Christen angesichts der orientalischen Pracht der Residenzstadt des fremden Landes ein deutlich negatives Vorzeichen“.[15]

Von fabelhaft zu schnabelhaft: Die Verschiebung der Einordnung ins Monströse

Als Ernst und Wetzel die Kranichmenschen zum ersten Mal in Augenschein nehmen, befinden sich diese in Vorfreude auf ein Festmahl. Der König der Kranichschnäbler möchte die aus Indien entführte Menschenprinzessin, die nur aufgrund ihrer einzigartigen Schönheit überleben durfte, zur Frau nehmen. Bemerkenswert ist auch die Beschreibung der indischen Prinzessin, die mit weißer Haut und blondem Haar[16] europäische Schönheitsideale bedient und damit für Ernst und Wetzel im eigenen, christlichen, Kosmos zu verorten ist. Die Ausgelassenheit und Freude der Kranichschnäbler steht in krassem Gegensatz zur Trauer der verängstigten Prinzessin, für die, wie auch für Ernst und Wetzel, die Sprache der Kranichschnäbler ein furchterregendes Krächzen bleibt.[17] Die nicht-menschliche Sprache der Kranichschnäbler ist der Menschenprinzessin ebenso fremd wie die Küsse des Königs von Grippia: „als dicke er sie kuste, sen snabel stiez er ir in den munt. / solh minne was ir ê unkunt.[18]

Der Schnabel, unfähig der menschlichen Sprache, lässt die Kranichschnäbler trotz ihrer Kultiviertheit zusehends als unmenschlich erscheinen. Beim Akt des Kusses gewinnt der Schnabel des Königs zudem eine phallische Komponente und der Kuss selbst die Qualität einer symbolischen Vergewaltigung.[19] Beim sexuellen Übergriff durch den Kranichkönig zieht Ernst eine eindeutige Grenze zu den Fremden. Die Beobachtung dieser Szene und das offensichtliche Unglück der Prinzessin führt in Ernst zu dem unheilvollen Entschluss, die Prinzessin gewaltsam und zur Rettung ihrer Ehre[20] aus der inkompatiblen Verbindung zu befreien. Die Küsse des Königs sind auch ein Wendepunkt in der Wahrnehmung der Kranichschnäbler. Waren diese zuvor seltsame Exoten, werden sie mit dem symbolischen sexuellen Übergriff auf die Prinzessin, eindeutig als Feinde wahrgenommen und zusehends entmenschlicht. Interessant ist hier, dass sich Ernst zur Rechtfertigung von Waffengewalt auf Gott beruft[21] und die Grippianer damit auch eindeutig als religiös anders einstuft. Wetzel geht sogar noch einen Schritt weiter:  Er fühlt sich den Kranichschnäblern nicht nur militärisch und moralisch überlegen, sondern klassifiziert sie auch als Tiere, die er plant zu schlachten wie Vieh: „wir slahens als das vihe nider. […] wir trenkens mit ir bluotes flôz.[22]

Es gelingt Ernst und Wetzel zwar, den König und einige Treuen noch vor dem eigentlichen Vollzug der Ehe in den Brautgemächern zu erschlagen, die Prinzessin indes können sie nicht retten, da ihr Plan entdeckt wird. Einige Kranichschnäbler, in der Vermutung dass Ernst und Wetzel ebenfalls aus India stammen, erstechen die Prinzessin daraufhin unerwartet brutal mit ihren Schnäbeln. Durch den Gewaltausbrauch des ‘Erschnäbelns‘, die Tötung der Prinzessin mit dem Schnabel und nicht etwa durch kultiviert erscheinenden Waffengebrauch, werden die Kranichschnäbler, anders als zuvor, stark im tierischen Spektrum verortet. Die Erschnäbelung der Prinzessin vollendet zudem die penetrierenden Küsse des Königs der Kranichschnäbler in einem rachelüsternen gang rape, was den Kranichschnäblern Eigenschaften wie Unbeherrschtheit, Bestialität und brutaler Rohheit zuweist.

Im darauffolgenden verlustreichen Kampf gegen die für Ernst „ungetoufte liute und ahtent nicht ûf got“,[23] gelingt es Ernst und seinen Gefährten unerwartet vielen Kranichschnäblern mit ihren Schwertern die Hälse zu durchtrennen. Das Abschneiden der Hälse steht hierbei nicht nur für die bloße Tötung im Kampf, sondern ist die Parade sexuell konnotierter Gewalt. Das Durchschneiden des langen schmalen Halses als der Verlängerung des Schnabels, der Phallus und Mordinstrument zugleich ist, gleicht einer symbolischen Kastration. Die Entmannung und Entwaffnung der monströsen Kranichschnäbler bleibt jedoch partiell.  Nur wenige von Ernsts Gefährten überleben den Kampf gegen die zahlenmäßig überlegenen Kranichschnäbler und müssen unter enormen Verlusten aus Grippia auf ihr Schiff fliehen.

Die Wahrnehmung der Kranichschnäbler erlebt während des Grippia-Aufenthalts von Herzog Ernst und seinen Rittern eine signifikante Verschiebung. Zu Beginn der Episode werden sie trotz ihrer Biformität als vortreffliche Baumeister und kultiviertes Volk bewundert. Sie sind nicht nur märchenhaft reich und in ihrer Hybridität faszinierend schön, in ihrer Urbanität und zivilisatorischen Entwicklung sind sie den Reisenden sogar um einiges überlegen. Hinter der Pracht und Kultur, tritt der animalische Teil der Kranichschnäbler daher in der Wahrnehmung zunächst stark zurück. Die Bewunderung und Faszination für die Kranichschnäbler schlägt jedoch in Verachtung und Vernichtungswillen um, als der König der Kranichschnäbler der christlichen Prinzessin den Mund mit seinem Schnabel penetriert. Beim folgenden Gewaltexzess, bei der die Kranichmenschen ihren Schnabel als phallisches Tötungsinstrument verwenden, werden die heidnischen Kranichschnäbler vom fabelhaften Wundervolk zu „oriental monsters“ [24] deklassiert.


[1]Vgl. zu den biformes Lazda–Cazers, Rasma (20): Hybrity and Liminaltiy in Herzog Ernst B. In: Daphnis 33 (1-2), 2004, S. 79–96 (hier S.79).
[2] Vgl. Stock, Markus: Knowledge, Hybridity, and the King of the Crane-Heads. In: Daphnis 45 (3-4), 2017 S. 391–411 (hier S. 410).
[3] Sowinski Sowinski, Bernhard (Hg.): Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek, 8352),  2015, V. 2785–2788; im Folgenden zitiert unter der Sigle HE.
[4] Bowden, Sarah (2013): A false Dawn. The Grippia Episode in Three Versions of Herzog Ernst. In: Oxford German Studies 41 (1), 2013, S.15–31 (hier, S. 20).
[5] Lazda–Cazers 2004, S. 88
[6] HE   V. 2852-2859.
[7] Vgl. HE V 2872-2875.
[8] HE V. 2880.
[9] HE V. 2880.
[10] Zu Otherness und der Orientalisierung der Kranichschnäbler Vgl.  Bowden 2013, S. 24 und  Stock 2017, S. 403 und 409-10.
[11] Vgl. V. 3175-3182 und 2225-26.
[12] Bowden 2013, S 25.
[13] HE V. 2884-2885.
[14] Vgl. HE V. 3765.
[15] Goerlitz, Uta: »… Ob sye heiden synt ader cristen …«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (4), 2009 S. 65–104 (hier S.89).
[16] Vgl. HE V. 3098-3102.
[17] Zur Kommunikation der Kranichmenschen, siehe den Artikel zur Kultur im Herzog Ernst.
[18] HE V. 3244-46.
[19] Laszda-Cazers erkennt zwischen der symbolischen Vergewaltigung der Prinzessin eine Reflexion von Ernsts vorangegangener Penetration der Stadt: „In an act of mimicry, he must see his own deeds reflected, as he himself turns into the king of the crane beaks and the unprotected city turns into the princess, unable to escape penetration.” Lazda–Cazers 2004, S. 89.
[20] Vgl. HE V. 3330.
[21] Vgl. HE V. 3286.
[22] HE V. 3295-97.
[23] HE V. 3753.
[24] Stock 2017, S. 410.

Von Potter bis Physiologus – Der Phönix in moderner, abendländischer und antiker Literatur

Einleitung

Der Phönix aus Harry Potter zählt bei den Fans zu den beliebtesten Fabelwesen der Fantasy-Reihe. Dies lässt sich zweifelsohne auf sein anmutiges Äußeres und seine liebenswürdigen Eigenschaften zurückführen, welche ihn besonders in zwei der sieben Bücher, Harry Potter and the Chamber of Secrets und Harry Potter and the Order of the Phoenix, zu einer Schlüsselfigur im Plot werden lassen. Dass er sogar namensgebend für eine wichtige Zauberervereinigung in der Geschichte und somit auch für den Titel des fünften Bandes ist, unterstreicht seine Bedeutung in diesem Kontext.

Was viele Fans nicht wissen: Bei diversen Fantastic Beasts bediente sich die Autorin antiker oder abendländischer Vorbilder, deren Aussehen und Eigenschaften sie häufig zu großen Teilen für ihre Geschichte übernahm. So sind der Basilisk, Zentauren und Einhörner, ja selbst der dreiköpfige Hund keineswegs neue Erfindungen, sondern waren bereits in der mittelalterlichen Literatur verbreitet.

Dieser Artikel wird sich  mit der Frage beschäftigen, inwiefern sich die Darstellungen des Phönix‘ in Harry Potter und dem ergänzenden Lexikon Fantastic Beasts and where to find them von denen in mittelalterlichen Werken wie dem Millstätter Physiologus unterscheiden oder sich gleichen.

Der Phönix als treues Haustier: Fawkes

„Professor, […] your bird – I couldn’t do anything – he just caught fire“[1]

Der Phönix Fawkes taucht erstmalig im zwölften Kapitel des zweiten Bandes Harry Potter and the Chamber of Secrets auf. Während der Zauberschüler auf den Schulleiter wartet, entdeckt er infolge eines „eigenartige[n], würgende[n] Geräusch[es] hinter ihm“ („strange, gagging noise behind him“[2]) einen heruntergekommen aussehenden Vogel, welcher einem halb-gerupften Truthahn ähnelt[3] und auf einer goldenen Stange sitzt. Er wird als kränklich aussehendes Geschöpf mit ausdruckslosen Augen und einem permanent an Volumen verlierendem Federkleid vorgestellt, als er auch schon wenige Zeilen im Anschluss in Flammen aufgeht. Inmitten eines lodernden Feuerballs gibt der Vogel einen lauten Schrei von sich, bevor er zu einem Haufen Asche auf dem Boden zusammenfällt. Wie sich schnell herausstellt, hat Harry jedoch gerade nicht dem dramatischen Feuertod des Haustieres seines Schulleiters beigewohnt, sondern wurde lediglich Beobachter eines regelmäßigen Spektakels. Als Albus Dumbledore bei seinem Eintreffen den aufgelösten Zwölfjährigen vorfindet, erklärt er ihm, dass Phönixe in Flammen aufgingen, wenn es Zeit für sie sei, zu sterben um aus der Asche wiedergeboren zu werden. Dies geschieht sogleich im nächsten Moment:
„A tiny, wrinkled, new-born bird poked its head out of the ashes. It was quite as ugly as the old one.“[4]

Dumbledore fährt fort, dass Fawkes, abgesehen von der Zeit vor und an seinem „Burning Day“, mit seinem wundervollen roten und goldenen Gefieder sehr stattlich aussehe. Außerdem erwähnt er im Folgenden, dass Phönixe faszinierende Geschöpfe seien, aufgrund ihrer Fähigkeiten, ungemein schwere Lasten tragen zu können und Tränen mit heilenden Kräften zu besitzen. Zudem seien sie sehr treue Haustiere.

Phönixdarstellung[5]
Dies beweist sich vor allem im fünften Buch Harry Potter and the Order of the Phoenix, als Fawkes einen für Dumbledore bestimmten Todesfluch mit dem Schnabel auffängt. Offenbar kann dem Vogel neben einem natürlichen und endgültigen Tod auch ein solcher Fluch nichts anhaben, da er zwar nach der Rettung seines Besitzers in Flammen aufgeht, jedoch auch im Anschluss einfach wieder aus der Asche aufersteht.[6]

Gegen Ende des Buches erfährt der Leser dann noch einige zusätzliche Eigenschaften des Vogels, dessen Namen J.K. Rowling vermutlich in Anlehnung an einen Sprengstoff-Attentäter aus dem Jahre 1605 und die gleichzeitige Symbolfigur der alljährlichen Bonfire Night gewählt hat.[7] So ist der Phönix scheinbar in der Lage, eine Musik zu erzeugen, welche als „schaurig, den Rücken kalt herunterlaufend, überirdisch“ („eerie, spine-tingling, unearthly“[8]) beschrieben wird. Sie wirkt ergreifend auf Harry, der das Gefühl hat, sein Herz würde auf die doppelte Größe anschwellen. Die Melodie erreicht eine solche Tonlage, dass er sie als Vibration in seinem Körper spüren kann. Offenbar kann sie auch allein durch ihre Frequenz Feuer entfachen.[9] Im von Joanne K. Rowling ergänzend zur Geschichte verfassten Bestiarien-Lexikon Fantastic Beasts and where to find them wird hierzu erklärt, dass der magische Gesang des Vogels den Mut in reinen Herzen steigere und Angst in unreinen Herzen sähen würde.[10] Der Phönix hat die Größe eines Schwans, einen glitzernden goldenen Schwanz, dessen Federn die Länge von Pfauenfedern haben und sich „seltsam heiß“ („strangely hot[11]) anfühlen. Des Weiteren besitzt er goldene Krallen, verfügt über einen scharfen langen Schnabel und wachsame schwarze Augen. In Harry Potter and the Order of the Phoenix wird zudem deutlich, dass der Phönix fähig ist, zu apparieren.[12] Dies schreibt Joanne K. Rowling auch in ihrem Nachschlagewerk. Dort steht außerdem, dass der Phönix sein Nest auf Bergspitzen in Äqypten, Indien oder China zu bauen pflegt und eine sanftmütige Art besitzt. Da er nicht tötet, besteht seine Nahrung ausschließlich aus Kräutern.

Der Phönix als Ebenbild Gottes

Im Millstätter Physiologus, welcher wahrscheinlich um 1200 abgefasst wurde, wird der Phönix mit Gott höchstpersönlich in Verbindung gebracht, der sich mit dem Vogel vergleicht:

Ich han gewalt, minen lip ze lazzene unde widir ze nemene |
andir nieman hat ubir mich gewalt[13]

So stünde der Vogel selbst für Christus, seine Flügel für das Alte und das Neue Testament.[14] Auch hier wird als Heimat des Vogels Indien[15] genannt. Während Joanne K. Rowling nur davon schreibt, dass der Phönix ein hohes Alter erreichen könne, geht der unbekannte vermutlich geistliche Verfasser des Naturlehrbuches mehr ins Detail.
Mit dem Erreichen seines fünfhundertsten Lebensjahres, beginnt der Phönix hiernach im März mit den Vorbereitungen für seine Auferstehung. Er fliegt in einen Wald mit dem Namen Libanus und baut aus den dort gesammelten duftenden Kräutern ein Nest, unter das er viel Holz legt. Anschließend fliegt er mit einem Hölzchen zur Sonne und fängt dadurch Feuer. Danach begibt er sich in sein Nest und verbrennt darin. Aus seiner Asche entsteht am ersten Tag ein Wurm, welcher sich im Verlaufe des zweiten Tages zu einem Vogel entwickelt und „am dritten sieht er aus wie vorher, nämlich bewundernswert“.[16] Was dieses Erscheinungsbild im Detail ausmacht, wird nicht beschrieben. Im Text der Ebstorfer Weltkarte ist dafür aber von neun Tagen die Rede, die es braucht, bis der Phönix sich wieder als ein Vogel aus der Asche erheben kann.

Die Auferstehung des Phönix‘ auf der Ebstorfer Weltkarte [17]
Die Regenerationszeit scheint also nicht festgelegt zu sein. Bei Harry Potter handelt es sich sogar nur um wenige Minuten. Für diese Zeitkürzung könnte sich die Autorin aber auch wider besseren Wissens aus dramaturgischen Gründen entschieden haben.
Isidor von Sevilla geht in Ethymologiae auf die Namensgebung des Vogels ein. Diese ergebe sich in Anlehnung an seine purpurne, also phönizische Farbe „oder weil er auf der ganzen Welt einzig und einmalig ist. Denn die Araber meinen mit phoenix einzigartig“.[18] Dieser Fakt findet sich in zahlreichen Schriftstücken aus dem Mittelalter.[19] Hier und da wird er zwar nicht explizit als solcher genannt, jedoch ist in der abendländischen Literatur nahezu immer von „dem Phönix“ in der Einzahl die Rede. Auch wird nirgendwo beschrieben, wann und auf welche Weise der Phönix zum ersten Mal geboren wird, was darauf hindeutet, dass er sich nicht mit einem Artgenossen fortpflanzen und Eier legen kann, sondern vermutlich eher ein gottgeschaffenes Wesen ist, was seit jeher existiert. In einigen Schriften ist jedoch   einem Vater die Rede, den der neugeborene Phönix zur Stadt Hyperions bringt.[20] Orientiert man sich auch an antiker Literatur, wie beispielsweise Metamorphosen Ovids, klingt es eher danach, als würde alle 500 Jahre ein neuer Phönix aus der Asche seines Vorgängers geboren werden.[21] Ovid schreibt:

Hierauf, heißt es, entsteht aus dem Körper des Vaters ein kleiner Phönix, dem ebenso viele Jahre zu leben bestimmt sind. Hat ihm das Alter die Kraft, die Bürde zu tragen, verliehen, hebt von den Ästen des hohen Baums er die Last seines Nests und trägt seine Wiege getreulich davon und das Grab seines Vaters, kommt durch die leichten Lüfte zur Stadt Hyperions und legt das Nest im Haus Hyperions ab vor der heiligen Pforte.[22]

Dies stünde im Gegensatz zu der Darstellung bei Harry Potter, wo schon allein durch die Weiterverwendung desselben Namens „Fawkes“ suggeriert wird, dass es sich auch um denselben Vogel handelt. Da ein Vatervogel[23] aber zumeist in vormittelalterlichen Texten seine Erwähnung findet, ist anzunehmen, dass sich die Ansichten diesbezüglich mit der Zeit geändert haben, oder der Vorgänger aus anderen Gründen weggelassen wurde, beispielsweise um die Einmaligkeit des Phönix‘ stärker hervorzuheben.

Fazit

Die heutige Darstellung des Phönix‘ bei Harry Potter gleicht der mittelalterlichen und der antiken im Wesentlichen in der Beschreibung des Äußeren und der Eigenschaft, aus der eigenen Asche wieder aufzuerstehen. In der mittelalterlichen Darstellung findet sich außerdem ein deutlicher Gottesbezug, welcher in J. K. Rowlings Erzählung keine Erwähnung findet. Hier hingegen werden für den Phönix magische Attribute, wie die heilenden Tränen oder der wesensverändernde Gesang, als Merkmale angeführt.
Es deutet sich zudem eine Gemeinsamkeit der Darstellungen bezüglich der Fähigkeit an, schwere Lasten tragen zu können, wenn man sein Augenmerk verstärkt auf die antike Überlieferung legt. Unklar ist, ob es in der Zaubererwelt nur einen einzigen Phönix gibt. Dagegen spräche, dass Phönixfedern auch als Kerne von Zauberstäben verwendet werden und der Zauberstabmacher Olivander Harry einmal erklärt, dass der Phönix, dessen Feder in Harrys Zauberstab verarbeitet ist, nur eine weitere Feder für diese Zwecke gegeben habe.[24] Dies wiederum würde zum einen Fawkes als der Spender dieser Federn bedeuten und zum anderen, dass es nur zwei Zauberstäbe in der gesamten magischen Welt mit einem Phönixfederkern gäbe. Dann müssten allerdings alle verbleibenden Zauberstäbe aus Einhornhaar oder Drachenherzfaser bestehen.[25]


[1] Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, London, 1998, S. 155

[2] Ebd.

[3] „a decrepit-looking bird which resembled a half-plucked turkey“, ebd.

[4] Ebd.

[5] Rowling, Joanne K.: Fantastic Beasts and where to find them, London, 2017, S. 69

[6] „Fawkes […] opened his beak wide and swallowed the jet of green light whole: he burst into flame and fell to the floor, small, wirnkled and flightless […] and the baby phoenix Fawkes croaking feebly on the floor“, Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Order oft he Phoenix, London, 2003, S. 719

[7] Der englische Offizier Guy Fawkes (1570-1606) scheiterte 1605 bei dem Versuch, das englische Parlament mit Sprengstoff zu zerstören. Zur Feier des misslungenen Plots wird heute jedes Jahr am 5. November vielerorts in England im Rahmen der Bonfire Night mit Fackelumzügen und dem Verbrennen einer Guy-Fawkes-Puppe des Ereignisses gedacht.

[8] Rowling, Joanne K: Harry Potter and the Chamber of Secrets, S. 232

[9] Vgl. Rowling, Joanne K: Harry Potter and the Chamber of Secrets, S. 232

[10] Rowling, Joanne K.: Fantastic Beasts and where to find them, London, 2017, S. 68f.

[11] Rowling, Joanne K: Harry Potter and the Chamber of Secrets, S. 239

[12] Entlehnt aus dem englischen „appear“ „disappear, Fähigkeit, an einem Ort zu verschwinden, um an einem willentlich gewählten wieder zu erscheinen.

[13]„Ich habe Macht, mein Leben zu lassen und es wieder zu nehmen. Niemand anderer hat über mich Gewalt.“ Schröder, Christian: Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar, Würzburg, 2005, S. 140-143

[14] Der Phönix steht des Weiteren für die Menschwerdung Christi, die Erlösung, Auferstehung, Taufe und Eucharistie.

[15] Oftmals ist aber auch von Arabien oder Ägypten die Rede.

[16] Schröder, Christian: Der Millstätter Physiologus – Text, Übersetzung, Kommentar, Würzburg, 2005, Vers 179

[17] http://www.uni-lueneburg.de/hyperimage/EbsKart/start.html, zuletzt abgerufen 26.07.2018

[18] Aus Möller, Lenelotte (Übers.): Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, Wiesbaden, 2008, S. 480

[19] Vgl. Ebstorfer Weltkarte, siehe http://www.uni-lueneburg.de/hyperimage/EbsKart/start.html

[20] Vgl. Suchier, E: Ovid Metamorphosen aus: http://www.gottwein.de/Lat/ov/met15de.php, 15, V. 391-407, zuletzt abgerufen 05.08.2018

[21] In einigen Darstellungen wird auch beschrieben, dass der Vorgänger vom neuen Phönix in einer Kugel aus Myrrhe in den Tempel der Sonne gebracht und begraben wird,  Vgl. hierzu auch Herodotus [Verf.]; Nesselrath, Heinz-Günther [Übers.] [Herausg.]: Historien, Stuttgart, 2017, Buch 2

[22] Ovidius Naso, Publius [Verf.]; Holzberg, Niklas [Hrsg.]/[Übers.]: Metamorphosen: lateinisch-deutsch, Berlin, 2017, 15, 401-407

[23] Von einem weiblichen Vorgänger ist nie die Rede. Es ist also davon auszugehen, dass der Phönix immer männlichen Geschlechts ist.

[24] Vgl. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Philosopher’s Stone, London, 1997, S. 56

[25] Siehe hierzu: https://www.pottermore.com/writing-by-jk-rowling/wand-cores

Die Fremdheit des Monsters

Die Monster von heute und die des Mittelalters sind vor allem eines: anders als der ‚normale’ Mensch. Durch ihr Aussehen, ihr (Sozial-) Verhalten und andere Attribute wirken sie fremd, zumindest aus der Sicht des Menschen. Die Fremdheit des Monsters steht also im konkreten Bezug zum Menschen, die Entstehung von Monstern deutet damit bereits eine psychologische Notwendigkeit für den Menschen an.

Im Folgenden soll sich mit der Frage beschäftigt werden, inwiefern das Fremde sich im Monster widerspiegelt und ob sich in dieser Versinnbildlichung ein psychologischer Zweck findet. Im Zuge dessen wird hinterfragt, ob die monstra des Mittelalters als Prinzip der Fremdheit zu verstehen sind oder ob fremde Menschen (aus europäischer Sicht) zu Monstern gemacht werden. Zunächst soll dazu der zeitgenössische Fremdheitsbegriff und der des Mittelalters bestimmt werden, um im Weiteren auf den Fremdheitsaspekt des Monsters genauer eingehen zu können. Methodisch wird dazu verschiedene Sekundärliteratur zur Fremdheit allgemein und im Mittelalter und dem Fremdheitsaspekt des Monsters herangezogen. Es wird nicht auf einzelne Primärquellen eingegangen, um einen eher allgemeinen Blickwinkel zu ermöglichen.

 Zeitgenössischer Fremdheitsbegriff und des Mittelalter

 „Fremde werden gemacht, früher wie heute. Denn das Fremde ist keine Eigenschaft von Sachen oder Personen an sich, sondern steht in Relation zu ihnen.“1  Das Fremde bezieht sich also immer auf das Eigene, Gewohnte und Vertraute. Erst durch die offensichtliche Andersartigkeit entsteht das Fremde.

Das Fremde erscheint dabei durchweg als ein relationaler Begriff der Abgrenzung vom Eigenen nach unterschiedlichen Kategorien, wobei die Frage, welche Kriterien denn als „fremd“ (und nicht als „anders“) vom Eigenen abgrenzen, keineswegs einhellig zu klären ist, da „Fremdheit“ in erster Linie ein Resultat der subjektiven Empfindung und Mentalität ist.2

Fremdheit lässt sich also nicht als statischer Begriff definieren. Der Begriff hängt demnach von einer subjektiven Perspektive ab und ist folglich anhand unterschiedlicher Kategorien differenzierbar.

Insgesamt betrachtet, unterscheiden sich „Fremde“ danach vom „Eigenen“ (potentiell) durch Herkunft, Aussehen und Verhalten, Glauben, Sitten und Sprache sowie mangelnde Integration oder, allgemein, durch eine „kulturelle Unvertrautheit“ (Münkler), doch ist letztlich zwischen unterschiedlichen Fremdheitskategorien zu differenzieren (kulturell, regional, gesellschaftlich, religiös und ethno-politisch).3

Abseits von den verschiedenen Kategorien und Formen der Fremdheitsbestimmungen muss beachtet werden, dass der moderne Begriff nicht einfach auf den mittelalterlichen übertragen werden kann – auch wenn es dem mittelalterlichen Denken, bei der Konstituierung des Fremden, ebenfalls um eine Abgrenzung zum Eigenen ging.4

Goetz untersuchte dazu die verschiedenen mittelalterlichen Fremdheitsbegriffe: advena (der von außen hinzuziehende), alenius bzw. alenigenus (Entfernung von der Kategorie räumlicher Herkunft, Einschließung rechtlicher Aspekte), exter(n)us (Abgrenzung des Eigenen zur Außenwelt, ohne erkennbare Merkmale) und extraneus (Abgrenzung zum Eigenen in jeder erdenklichen Weise, z.B. Volk, Reich, Herrschaft, Religion etc.).5 Außerdem lässt sich Fremdheit nicht nur als objekt-bezogene Perspektive in mittelalterlichen Texten finden, sondern auch als eine Art des Sich-Fremd-Fühlens.6

Das Konzept von Andersartigkeit und Fremdheit war im Mittelalter durchaus bekannt und präsent, auch Unterschiede in ethnischer, politischer, geographischer, religiöser und kultureller Sicht, jedoch wurde danach nicht aktiv kategorisiert.7
Im Folgenden soll betrachtet werden, wie sich das mittelalterliche Konzept von Fremdheit in Bezug zum Monströsen verhält.

Die Fremdheit des Monsters

Laut Simek dient „das Monströse […] nicht der Darstellung von Bedrohlichkeit, sondern in erster Linie der Definition des Anderen, des Fremden, und zwar vorrangig des Fremden in großer Ferne.“8 Dabei wäre genauer zu untersuchen, um welche Art von Fremdheit es sich bei der Ausgestaltung des Monströsen handelt:  das Fremde im Monster als generelles Prinzip oder als Inspiration realer Begegnungen mit dem Fremden (aus europäischer Sicht), welche zur Ausgestaltung der Monster führen.

Zunächst sollte dazu der Begriff des Monsters genauer differenziert werden. (Siehe hier: Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs? )Volker Scior bezeichnet Monster generell als deformierte Körper und unterscheidet dabei zwischen Individuen und Völkerschaften.9 Die Differenzierung zwischen einheimischen Missbildungen (bzw. sog. Missgeburten) und fremden, weit entfernt wohnenden Völkern, tauchte erstmalig bei Plinius auf. Erstere seien in psychiatrischen oder medizinischen Gutachten zu finden, letztere verzeichnet in den mittelalterlichen mappae mundi und in Reiseberichten.10

Die mittelalterlichen monstra (Monster) oder homines monstruosi (monströse Menschen) stellen also eine Abweichung, meist körperlich, zum bekannten und idealtypischen Menschen dar. Von einzelnen deformierten Körperteilen bis zu Mischwesen, zwischen Tier und Mensch oder zwei Geschlechtern, lassen sich viele verschiedene Formen des Monströsen – und damit der Andersartigkeit – in mittelalterlichen Texten finden.11

Durch die Differenzierung von individuellen Monstern und Wundervölkern wurde bereits eine erste Unterscheidung von Fremdheit gemacht: Die individuellen Monster oder Missbildungen sind bekannt und erfahrbar, während die Völkerschaften weit entfernt wohnen und dadurch besonders fremd bzw. phantastisch wirken. Trotzdem stellen sich beide Arten durch ihre Andersartigkeit heraus. Diese Fremdheit besteht jedoch nicht als natürlicher Zustand – das Monster entsteht durch die Relation zum ‚normalen’ (subjektiv betrachtet) Menschen:

Die ‚Existenz’ von monstra ist vom Menschen abhängig. Sie wird medial vermittelt. Monster existieren lediglich als von Menschen so Bezeichnete und Gedachte. Das Monster dient als ein Konzept, um den Menschen zu denken, in Abgrenzung etwa zu dem, was als nicht mehr menschlich angesehen wird.12

Es wird also bereits eine Parallele bemerkbar: Wie das zuvor definierte Fremde, ist das Monster abhängig von einer subjektiven Perspektive (hier, der idealtypische Mensch) und tritt durch seine Andersartigkeit des Vertrauten, in Erscheinung. Auch Foucault behauptet, „daß das Monster das große Modell aller kleinen Abweichungen“13 sei. Simek erläutert, dass die Fremdheit des Monsters besonders durch seine Mängel hervorgehoben wird (z.B. keine verständliche Sprache, keine manierlichen Sitten, kein geordnetes Sozialwesen usw.).14 All diese Kategorien stellen ebenfalls eine Bewertung eines subjektiven Blickwinkels dar und stellen Andersartigkeit heraus. Es scheint, das monstrum fungiere als Grenzziehung zum Eigenen und Vertrauten – also als Grenzziehung zum Menschen.

Das Monster als Ausdrucksmittel der Alterität

Diese Beobachtung führt zur Frage der Alterität, also der (in Philosophie und Psychologie bezeichneten) „identitätsstiftende[n] Verschiedenheit zweier aufeinander bezogener Identitäten.“15 Zunächst soll also betrachtet werden, inwiefern das Fremde eine abgrenzende Wirkung zum Eigenen und damit einer anthropologischen Selbstfindung nützlich sein könnte. Albrecht Classen schreibt dazu: „Zugleich konstituiert das ‚Fremde’ in reflexiver Weise das ‚Eigene’ und bietet ihm durch die binäre Opposition den notwendigen Raum, um sich eine Identität zu schaffen.“16

Fremdheit herauszustellen dient also vor allem auch der Identitätsbildung, laut Meier gilt dies auch für das Mittelalter.17  Durch die Hervorhebung der Andersartigkeit zum Eigenen und Vertrauten, wird sich der Mensch dessen erst bzw. besonders bewusst. Wie zuvor festgestellt, unterscheidet sich das Monster nicht nur durch sein Äußeres, sondern auch durch sein Verhalten, zum ’normalen‘ Menschen. Folgt man also der These der Alterität, spiegelt sich im Monster das Gegenbild vom Idealtypus des (mittelalterlichen) Menschen wider und dient somit der Selbstfindung durch Abgrenzung: „Das Monster dient als ein Konzept, um den Menschen zu denken, in Abgrenzung etwa zu dem, was als nicht mehr menschlich angesehen wird.“18

Die Frage nach der prinzipiellen Fremdheit des Monsters ließe sich also damit bestätigen, dass sich seine Andersartigkeit als Grenzzug zum Menschen realisiert. Das Monster könnte also auch durch interkulturelle Begegnungen bzw. Begegnungen mit Fremden entstehen bzw. als überzeichnete Darstellung des Fremden.

Diese Frage müsste man vor allem auf die Wundervölker beziehen, da diese in den entlegenen Gebieten wohnen und nur aus Reiseberichten bekannt sind.

Das Monster als Gestaltung ethnographischer Fremdheit

Interessanterweise verschob „die zunehmende Kenntnis der Erde […] die Grenzen des Erfahrbaren und damit die möglichen Wohnorte der Wundervölker immer weiter an den Rand der bekannten Welt“.19 Dies bedeutet, dass das Monster eher als ein fantasievolles Konzept der Fremdheit gesehen werden muss bzw. als eine imaginäre Fremdheitsvorstellung.

Friedrich schreibt dazu: „Dort wo die Ethnographie in unbekannte Räume ausgreift, wird die Leere zur Projektionsfläche von Phantasmen.“20 Hier stellt sich die Frage, ob die Wundervölker im Mittelalter als reine Fiktion gesehen werden müssen oder ob sich zu ihnen auch ethnographische Inspirationen finden, welche möglicherweise durch Reisende, in Begegnung zu fremden Kulturen, geweckt worden sind.

Simek versuchte einen derartig ethnologischen Erklärungsansatz zu bieten und suchte nach möglichen Inspirationsquellen einzelner Monster: „Auf konkret ethnologische Erfahrungen zurückgehen dürften viele Wundervölker, die hypertrophe, aber nicht medizinisch-pathologisch zu erklärende Körperteile aufweisen.“21

So führt er beispielsweise die Amycterae (Großlippler), dessen Lippen, in mittelalterlichen Erzählungen, so groß sind, dass sie sich diese über den Kopf stülpen können und sich damit vor der Sonne schützen, an. Dieses Wundervolk könnte durch die Lippendehnungen der Ubangi in Afrika und verschiedene polynesische Stämme inspiriert worden sein.22

Zu den Panoti bzw. Großohren schreibt Simek:

Zwar ist die Darstellung von mehr als bodenlangen Ohren übertrieben, von Bewohnern der Salomoninseln wird jedoch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts berichtet, dass ihre von zahlreichen Öffnungen durchbrochenen Ohrläppchen in einer Weise gedehnt wurden, dass mache Eingeborene einen beträchtlichen Teil ihres Hab und Guts in diesen Öffnungen hängend mit sich tragen konnten.23

Die Acephalen, also Kopflose, gehen möglicherweise auf Menschen zurück, die bemalte Masken trugen, welche eine kopflose Illusion erzeugten, 24 während die Cynocephalen (Hundsköpfige mit Menschenkörper) auf die Sichtung von Menschenaffen zurückgehen könnten.25 Simek schreibt zu letzteren jedoch, dass die körperliche Deformation der Cynocephalen zweitrangig sei und eher akustische Attribute, also die fremdwirkende Sprache an ein Bellen erinnert haben könnte, welches möglicherweise zur Ausgestaltung des Hundekopfs führte.26

Es zeigt sich also, dass fremdwirkende bzw. exotische Attribute als eine Art Inspiration für die Ausgestaltung der Wundervölker dienen könnten, jedoch in einer eher hyperbolischen Weise. Es muss also beachtet werden, dass sich, laut Schmitz „i[I]n historischen Reiseberichten über exotische Völker und fremdartige Tiere […], Empirisches und Imaginäres aufs Engste [vermischen].“27 Es scheint also, dass interkulturelle Begegnungen eher eine Inspirationsquelle darstellen, als dass sie durch ihre Andersartigkeit zu Monstern gemacht werden.

Fazit

Die Ausgangsfrage, ob sich das Fremde in den Monstern des Mittelalters widerspiegelt, hat sich in vielfacher Hinsicht bestätigt. Das Monster lässt sich durchaus als Konzept der Fremdheit verstehen, vor allem in der psychologischen Funktion als Abgrenzung zum idealtypischen Menschen (aus europäischer Sicht). Es dient vor allem einem anthropologischen Zweck und damit der Menschwerdung.

Außerdem hat sich herausgestellt, dass die Begegnung mit fremden Kulturen als Inspiration der Monster dienen könnte. Fremde Menschen, aus Perspektive des europäischen Menschen, werden jedoch eher nicht zu Monstern gemacht. Schließlich sind die Gestaltungen auch eine Übertreibung von möglicherweise realen Begegnungen, das Fremde wird also gewissermaßen stärker verfremdet, um das Exotische und Verwunderliche zu illustrieren. Außerdem muss beachtet werden, dass die Entstehung der Monster nicht nur die Funktion des Fremdseins (und damit der Abgrenzung) begrenzt ist, sondern vor allem auch auf religiöse, mythologische und medizinische Erklärungen zurückzuführen ist. Trotzdem scheint der Fremdheitsaspekt des Monsters in diesem Korrelat eine wichtige Rolle zu spielen.

In dem Artikel wurde nicht berücksichtigt, wie der Mensch in mittelalterlichen Texten den fremden Wundervölkern begegnet, da sich dieses Gebiet als sehr unterschiedlich erweist. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass dem Fremden (und fremden Monstern) grundsätzlich feindlich oder abwertend gegenübergetreten wird. Die unterschiedlichen Haltungen gegenüber der Wundervölker, sind beispielsweise im Herzog Ernst zu finden. Nach welchen Kategorien und Situationen dabei unterschieden wird, zeigt dieser Artikel: Ein Blick ins wunderbare Fremde – Eine Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen Kultur und dem Monströsen im Herzog Ernst

Ein Blick ins wunderbare Fremde – Eine Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen Kultur und dem Monströsen im Herzog Ernst

Der folgende Eintrag beschäftigt sich mit den Begegnungen mit Wundervölkern im Herzog Ernst, genauer mit den Grippianern und den Arimaspi bzw. Einsternen. Die Frage, unter der diese Begegnungen untersucht werden sollen lautet: Inwiefern spielt das Monströse und das Kulturelle der Wundervölker eine Rolle im Kontakt mit diesen und wie ist die Gewichtung dieser im Herzog Ernst? Hierbei wird ein Blick auf Schilderungen der Kultur und Monstrosität der Wundervölker geworfen, um zu sehen, ob und wie diese beiden Themen den Kontakt mit dem Unbekannten beeinflussen. Aus dieser Untersuchung heraus wird geschlussfolgert, ob es sich bei der Darstellung von Monstern um eine Legitimierung dieses Weltbildes handelt. Ausgehend von diesem Ausgangsziel, wird die Einstellung Ernsts dem Fremden gegenüber nicht in den Fokus genommen.

Eine Definition des Begriffes Kultur

Für diesen Blogeintrag wird die folgende Kulturdefinition Heringers verwendet:

Eine Kultur ist eine Lebensform. […] Wie Sprache ist sie eine menschliche Institution, die auf gemeinsamen Wissen basiert. Kultur ist entstanden, sie ist geworden in gemeinsamem menschlichen Handeln. Nicht, dass sie gewollt ist. Sie ist vielmehr ein Produkt der Unsichtbaren Hand. Sie ist ein Potenzial für gemeinsames sinnträchtiges Handeln. Aber das Potenzial zeigt sich nur in der Performanz, im Vollzug. Und es ist entstanden über Performanz. [2]

Potenzial beinhaltet für Heringer Wissen, Haltung, Sprache, Sitten und Gebräuche sowie Werte. Performanz ist die Realisierung, Aktivierung und das Handeln nach jenem Potenzial, welches sich als Produkt in Artefakten, Literatur, Musik, Kunstwerken und Bauten wiederspiegelt. Auch anzumerken ist, dass „Kultur uns Menschen selbstverständlich, im Handeln nicht bewusst [ist]. […] Bewusst wird sie uns, wenn wir mit einer anderen Kultur in Berührung kommen.“ [3] Die Ableitung von Werten aus den Beschreibungen der Wundervölker und ihrer Städte ist demnach durchaus möglich. Dies ist jedoch sehr spekulativ und kann schnell zu einer Überinterpretation führen. Um dies zu vermeiden, wird der Blick demnach eher auf die Wertung des Erzählers, gerichtet. So wird erlaubt zu untersuchen, ob und wie diese Wertungen in den Verlauf des Werkes bzw. den Kontakt mit den Wundervölkern einfließen, um darauf aufbauend eine Interpretation zu ermöglichen.

Grippia

De erste Kontakt zwischen dem Herzog und den Grippianern ist bemerkenswert gestaltet. Anstatt den Herzog von vornherein mit den Grippianern in Kontakt treten zu lassen, wird durch die Abwesenheit der Grippianer aus ihrer Stadt und die Erforschung dieser durch Herzog Ernst der Fokus komplett von der Monstrosität ihrer Bewohner genommen und auf ihre kulturellen Errungenschaften gerichtet. Ihre Abwesenheit dient weiterhin als Einführungspunkt in die Monstrosität der Wesen, mit dem Hintergrund ihres Potenzials. Damit ist gemeint, dass mit der ersten Begegnung beider der Fokus sofort auf die sprachliche Barriere gelernt wird:

Dô sie daz wunder gar gesâhen,
dô hôrten sie in allen gâhnen
ein wunderlîchen stimme,
starc unde grimme
vor der bürge an dem gevilde,
ob ez kraniche wilde
bevangen haeten über al,
alsô ungefügen schal als ie man vernam.[4]

Um zu sehen, ob der Konflikt mit den Grippianern aufgrund der Sprachbarriere zustande kommt, muss erst geklärt werden, wie Grippa und ihre Produkte, sowie die Grippianer und ihre Potenziale, hier besonders ihre Sitten und Gebräuche, vom Erzähler dargestellt werden. Dies ermöglicht zu sehen, wie nahe ihre Kultur an der europäischen ist. Gleich zu Anfang wird die kulturelle Nähe der Grippianer angedeutet. Das Mosaik der Stadtmauern, zeigt „maniger hande bilde, beide zam und wilde“[5], die sogleich das Fremde, aber auch das Vertraute dieser orientalischen Stadt in den Vordergrund stellt. In der Anlegung der Stadt, besonders der Wehranlangen, ihrer Bäder und dem Reinigungssystem der Straßen sind diese Fremden den Europäern technisch gesehen mindestens gleichauf. Die Handwerkskunst und die Pracht der Stadt beeindrucken den gebildeten, im Kontakt mit anderen Kulturen stehenden Ernst sehr: „des fröwete sich der helt guot, Ernst der recke vil gemeint.[6] Mit dem Auftritt der Grippianer nach der Nächtigung in der Burg wird diese Vermutung weiter ausgeführt. Bei ihrem Auftritt wird ihre Kleidung bis ins kleinste Detail beschrieben, besonders die Hosen werden verglichen mit der heimischen Mode sie sind „zerhouwen wol nâch hübeschen siten.“[7] Ihr Verhalten wird als höfisch dargestellt: „ir zuht und ir gebaere die herren dûht vil lobelîch.“[8] Die Grippianer beerdigen ihre Toten: „dô truogen sie die tôten und begruoben sie vil drâte“ [9] und kümmern sich um ihre Kranken: „und gewunnen arzâte die heilten die wunden.“[10] Sie wählen, in Anlehnung an das Heilige Römische Reich, einen neuen König: „unde welten zuo den stunden ze ir rîche einen andern man“[11] All das tun sie, obwohl „sie wâren kranichen ouch gelîch.“[12]

Die Einführung der Grippianer ist dichotomisch. Die Betrachtung der Stadt bringt ein zivilisiertes Bild mit sich, dass in vielen Belangen einer höfischen Gesellschaft stark ähnelt. Gleichzeitig wird jedoch die Fremdartigkeit der Bewohner durch ihre Monstrosität wiedergespiegelt. Das Schicksal der Prinzessin ist dabei eine Metapher dieser Problematik und bildet den Kern des misslungenen Kontaktes. Die Verfehlung der Grippianer, die diese in Konflikt mit Ernst bringt, ist in ihrem Verhalten bedingt und wird durch ihre anatomischen Differenzen ins Groteske geführt und löst so den Konflikt aus. Die Grippianer entführen die Prinzessin, nachdem sie das Schiff ihres Vaters, dem König Indiens, überfallen und alle an Bord töten; lediglich sie wird wegen ihrer Schönheit verschont. Hierbei ist anzumerken, dass die Kraniche anscheinend das gleiche Schönheitsideal wie die Europäer besitzen. Aus dem Monolog der Prinzessin geht hervor, das ihre größte Klage sich in der bereits angesprochenen Sprachbarriere findet. Dies, zusammen mit der Übertretung im Sinne der Luxuria, der Wolllust, und dem Fehlen einer höfischen Minnevorstellung, die diese animalisch darstellt und so mit ihrem tierischen Kopf korrespondiert, ist der Grund für den Konflikt zwischen Ernst und den Grippianern. Der Kuss mit dem Schnabel sowie die Ermordung der Prinzessin durch die Schnäbel der Grippianer bringt eine starke phallische Konnotation mit sich, die das animalisch-sexuelle Verhalten der Grippianer im Gegenteil zu den Europäern, die sich auf einem Kreuzzug und so auf „heiliger Mission“ befinden und dem christlichen Weltbild:

als dicke er sie kuste,
den snabel stiez er ir in den munt.
solh minne was ir ê unkunt
die wîl sie was in Indîâ. […]
mit den snebelen sie sie stâchen
allenthalben durch den lîp.[14]

Dies wird bei Sivri weiter unterstrichen. Er schreibt, dass die körperliche Hässlichkeit der Grippianer, bzw. der türkischen Truppen, die er in den Grippianern identifiziert, im Gegenteil zur fast vollkommenen Schönheit der Stadt steht. [15] Dies spiegelt die moralische Verfehlung der Grippianer wieder, die sich mit dem Gedanken der Spiegelung innerer Schönheit im Äußeren deckt. Hier kann bereits festgestellt werden, dass der Konflikt bedingt wertebasiert ist. Bei den Grippianern handelt es sich um Heiden, die die christlichen Wertevorstellungen nicht teilen und so den Konflikt kulturell erscheinen lassen. Dies legt eine Wechselbeziehung zwischen Monstrosität, Konfliktpunkt und der moralischen Verfehlung nahe.

Arimaspi

Im starken Kontrast zu den Vorgängen in Grippa steht die Arimaspi-Episode. Der Kontakt mit den Einsternen verläuft friedlich, Ernst erlernt die Sprache der Wesen und schafft es sogar zum Vasallen des dortigen Königs zu werden und darf ein Stück Land verwalten. Der Kontakt ist erfolgreich. Es soll nun herausgefunden werden, warum.

Das Monströse der Einsterne besteht darin, dass diese bloß ein Auge besitzen:

die liute wâren wunderlîch
die daz lant heten besezzen.
sie wâren vil vermezzen:
des mugen wir niht gelougen.
Sie heten niht wan ein ouge
vorne an dem hirne. [16]

Dies wird bloß ein einziges Mal zu Anfang erwähnt. Sie scheinen abgesehen davon gar nicht monströs und werden auch nicht so dargestellt. Tatsächlich könnte man glauben, Ernst würde sich wieder in Europa befinden, auch wenn über die Kultur der Einsterne, im Vergleich zu Grippia, relativ wenig Information gegeben sind.  Auch sie sind, wie die Grippianer und die Europäer, feudal organisiert, was sich an der Beschreibung der Titel sehen lässt: „grâven vor der bürge tor, der mit rittern da vor.“[17] Auch hier gibt es eine sprachliche Barriere „ir sprache was in unbekant“[18] und sie verhalten sich nach höfischen Normen tadellos „der grâve was ein gouter man“[19] und scheinen ähnliche Ideale wie die Europäer zu haben. Dies wird offensichtlich sobald Ernst und sein Gefolge dem König der Arimaspi vorgeführt werden. Der König, die Fremden nicht verstehend, lässt ein Pferd herbeiholen, um zu sehen, „welher der tiurste waere.“[20] Dies setzt eine starke kulturelle Nähe voraus. So können beide Parteien durch ihre gemeinsame kulturelle Nähe nonverbal durch höfisches Zeremoniell und Taten miteinander kommunizieren. Diese nonverbale Verständigung ist wahrscheinlich, neben der Tatsache, dass die Sprache der Einsterne erlernt werden kann, der Grund für den Erfolg der Kommunikation zwischen den beiden Parteien.  Dies ist auch der Grund, warum die Forschung die Arimaspi-Episode als Analogie zum rîche sehen und sie als metaphorische Aufarbeitung des Reichkonflikts betrachten.[21] Die kulturelle Nähe zu den Einsternen, erlaubt es ihm die soziale Position einzunehmen, die ihm im rîche zustehen würde.[22]

Der Sinn des Ganzen

Der Kontakt mit den Wundervölkern ist hier nun durch ihre Kultur und ihre Monstrosität definiert, wobei die Gewichtung dieser Werte im Folgenden noch etwas genauer zusammengefasst werden soll.  Hierfür wurde versucht den Blick auf die Wertungen und Vergleiche des Erzählers über die Kulturen der Wundervölker aus dem Werk herauszufiltern, um zu sehen, wie nahe der Erzähler diese an Europa verortet. Zum anderen wurde ein Blick auf die Natur und Wertung der Monstrosität der Wundervölker durch den Erzähler geworfen, um dort einen möglichen Grund zu finden. Das Ergebnis dieser kurzen Untersuchung scheint auf zwei Dinge hinzudeuten. Zum einen scheint das Fremde nicht zu fremd, da der Erzähler viele Bezüge zur heimischen europäisch-feudalen Kultur herstellt. Zum anderen scheint hier eine Wechselbeziehung zwischen Kultur und Monstrosität zu bestehen. Die Einsterne besitzen ein Auge, sind jedoch in ihren sonstigen Merkmalen menschlich und dies spiegelt sich in der Beschreibung und Interaktion mit diesen Wesen wieder. Sie besitzen keine Verfehlungen, wie die Grippianer und werden durch den Erzähler nicht verunmenschlicht. Sie sprechen eine fremde, aber erlernbare Sprache. Die Grippianer besitzen durch ihren Kranichkopf eine unmenschliche, animalische Komponente, die dem Herzog und seinem Gefolge im Sinne des exklusiven Weltbildes des Mittelalters einen Rechtsanspruch gegenüber diesen Wesen gibt, der ultimativ zu Ernst‘ superbia, d.h. seinem Hochmut gegenüber den Grippianern führt.[23] Ihre Sprache wird als Gekrächze beschrieben und ihre animalisch-sexuellen Triebe der Prinzessin gegenüber sowie der Blutdurst im Kontakt mit den Indern stehen im Spannungsverhältnis zum kirchlich geprägten Weltbild des Mittelalters, genauer der Keuschheit[24] bzw. der Sanftmütigkeit.[25] Somit lässt sich weiterführend die Frage eröffnen ob und inwiefern der hier ausgeblendete Blick Ernstes ins Fremde durch das Werk bearbeitet und bewertet wird; besonders unter dem Gesichtspunkt des Erfolges mit den Einsternen.


[2]     Heringer, Hans Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Tübingen: A. Francke Verlag 2014, S.110.

[3]     Ebd.

[4]     Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. Mhd./Nhd. Hg. v. Bernhard Sowinski. Stuttgart: Reclam, 1998, S. 161 V.2817-2825. (Hier die Fassung B)

[5]     Herzog Ernst B: V. 2225f.

[6]     Ebd. V. 2598f.

[7]     Ebd. V. 3006.

[8]     Ebd. V. 3054f.

[9]     Ebd. V. 3874.

[10]   Herzog Ernst B: V. 3876.

[11]   Ebd. V. 3879.

[12]   Ebd. V. 3055.

[14]   Ebd. V. 3245f u. V. 3426f.

[15]   Vgl. Sivri, Yücel: Mittelhochdeutsche Orientliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. ‚Graf Rudolf‘ und ‚Herzog Ernst‘. Ein Beitrag zur interkulturellen Auseinandersetzung im Hochmittelalter. Frankfurt a. M.: Peter Lang Edition 2016, S.121.

[16]   Herzog Ernst B: V. 4514-4519.

[17]   Ebd. V. 4530.

[18]   Ebd. V. 4539.

[19]   Ebd. V. 4543.

[20]   Ebd. V. 4606.

[21]   Siehe Sivri: Orient S.166.

[22]   Siehe Sivri: Orient S.166.

[23]   Der Begriff der Exklusivität im interkulturellen Kontext bezeichnet einen Absolutheitsanspruch der eigenen religiösen bzw. philosophischen Weltanschauung. Dies findet sich besonders im Kontakt mit den Grippianern bei Ernst wieder und entwickelt sich später. Siehe: Yousefi, Hamid Reza: Grundbegriffe der interkulturellen Kommunikation. Konstanz [u.a.]: UVK [u.a.] 2014, S. 97.

[24]   Siehe Hauser, Richard: Keuschheit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie online. Basel: Schwabe AG 1976, unter: https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav#__elibrary__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.keuschheit%27%5D__1531323687194 [letzter Zugriff 11.07.2018].

[25]   Siehe HWPh online unter: https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav#__elibrary__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.zorn%27%5D__1531473501153 [letzter Zugriff 11.07.2018].

Ein Vergleich der Drachen im Beowulf und in Tolkiens Hobbit

J.R.R. Tolkien ist vor allem durch seine Werke wie Herr der Ringe oder Der Hobbit bekannt. Doch Tolkien war auch Professor für englische Sprache und beschäftigte sich intensiv mit Beowulf. Auf die Frage nach der Beziehung zwischen Hobbit und Beowulf gibt er in einem Brief zur Antwort, dass Beowulf zu seinen wertvollsten Quellen gehört:

Beowulf is among my most valued sources; though it was not consciously present to the mind in the process of writing, in which the episode of the theft arose naturally (and almost inevitably) from the circumstances. 1

Tolkiens intensive Beschäftigung im Besonderen mit Drachen ist in einem weiteren Brief enthalten, in dem er seine Meinung über den Beowulf-Drachen äußert:

I find ‚dragons‘ a fascinating product of imagination. But I don’t think the Beowulf one is frightfully good. But the whole problem of the intrusion of the ‚dragon‘ into northern imagination and its transformation there is one I do not know enough about. Fáfnir in the late Norse versions of the Sigurd-story is better; and Smaug and his conversation is in debt there. 2

Aus seinem Aufsatz über das altenglische Epos „The Monsters and the Critics“ kann zudem herausgelesen werden, dass er einen besonderen Fokus auf die Ungeheuer der Erzählung gelegt hat, wozu auch der Feuerdrache gehört:

And dragons, real dragons, essential both to the machinery and the ideas of a poem or tale, are actually rare. [The Beowulf poet] esteemed dragons, as rare as they are dire, as some do still. He liked them – as a poet, not as a sober zoologist; and he had good reason.3

Geradezu naheliegend scheint da der Vergleich zwischen dem Drachen im Beowulf und dem Drachen im Hobbit; daher wird in diesem Artikel untersucht, in welchen Merkmalen sich die beiden Drachen ähneln oder unterscheiden, wie ihre Beziehungen zu anderen Figuren dargestellt werden und welche jeweiligen Rollen und Funktionen beide in der Erzählung haben.

Vergleich der Drachen

Im Vergleich der Merkmale und des Verhaltens beider Drachen sieht man mehrere Punkte, in denen sich die Drachen stark ähneln.  Es gibt im Beowulf keine ausführliche Beschreibung des Drachens,  er erscheint  in der Handlung ohne jedwede Hinführung, wie auch Gwyn Jones schreibt: „Admittedly one would be troubled to draw the dragon in any detail“4. Durch bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen lassen sich jedoch einige Informationen ableiten.

Tolkien hingegen beschreibt den Drachen im Hobbit ausführlich. Der Drache Smaug wird eingehend dargestellt, einmal aus einer auktorialen Erzählperspektive, die den Drachen visuell vorstellt, ein weiteres Mal durch mehrere Passagen, in denen Smaug selbst die Erzählperspektive einnimmt. So tritt Smaug als „rotgoldner[…] Drache“5 mit einem langen mächtigen Schwanz (H vgl.S. 217) auf und wird bei der Beschreibung seiner Flügel mit einer „Fledermaus“ (H S. 217) verglichen.

Stellt man die hier gewonnenen Informationen zusammen, ergeben sich erkennbare Verbindungen: Sowohl Smaug als auch der Drache im Beowulf sind nachtaktiv; Beowulfs Drache zeichnet sich genau durch dieses Verhalten aus, es wird explizit sein Bezug zur Nacht betont.

Der Tag war endlich vergangen / Nach Wunsch des wütenden Drachen.6

Zum Hort floh er zurück, / Zum geheimen Höhlenraum, vor hellem Tagesanbruch (B V. 2319f.)

Auch Smaug verbreitet sein Unglück nachts. Bereits zu Anfang der Erzählung bei der ersten Vorstellung Smaugs als das Monster, welches es zu bezwingen gilt, wird sein Erscheinen in der Nacht betont:

Die Kiefern rauschten auf der Höhe  und die Winde stöhnten in der Nacht. Das Feuer war rot und barst wie ein Glutball.  Die Bäume brannten hell wie Fackeln.  (H S.21)

Sogar die Reaktionen der mit den Drachen verbundenen Menschen ähneln sich stark in ihrer Wortwahl. Demnach heißt es bei Beowulf: „Der helle Feuerschein / Flößte den Leuten im Land Entsetzen ein“ (B V. 2313f.) und Tolkien schreibt in dem Lied der Zwerge: „[…] und die Menschen schauten mit fahlen Gesichtern herauf:  der Zorn des Drachen entbrannte noch heller als Feuer“ (H S. 22). Beide Drachen, wie man den gerade genannten Textstellen entnehmen kann, können Feuer speien und sind flugfähig. Feuer geht mit dem Bild des Drachen einher, es ist das erste Anzeichen für einen Drachen und die Methode seiner Zerstörung, „the monster and the fire turn out to be the same thing“7. Außerdem zeichnen sich die Drachen durch ihre außerordentlich starken Panzer aus. Am Kopf des Beowulf-Drachen zerbricht Beowulfs Schwert Nägeling (vgl. B V. 2680). Allerdings besitzt der Panzer eine verwundbare Stelle: „Indem [Wiglaf] den Kampffeind am Körper weiter unten traf / […]. Das ruhmreiche Schwert drang ein“ (B V. 2269f.). Auch Smaug wird durch einen starken Panzer geschützt; aber er ist im Vergleich zum Beowulf-Drachen noch weiter gestärkt und geschmückt:

[…] versprühte [Smaugs] untere Panzerseite im Mondlicht weißes Edelsteingeglitzer – aber ein einzelner Fleck blieb stumpf. […] Der Pfeil schlug ein […] (H S.251-252)

Anhand der Analyse der Kenningar von Hertha Marquardt wird der Beowulf-Drache nämlich sowohl „Schatzhüter“8  als auch „Hüter des Berges“9 bezeichnet, Begriffe die auch auf Smaug zutreffen. Ferner erreichen beide Drachen ein hohes Alter, im Beowulf heißt es: „So bewohnte der gewalttätige Volksfeind dreihundert Winter lang […]“ (B V.2278). Während im Hobbit Smaug spricht:

Ich brachte die alten Krieger um, und solche Krieger gibt es heute in der Welt nicht mehr. Und damals war ich noch jung und zart. Jetzt aber bin ich alt und stark, stark, stark […] (H S.229)

Beziehung zu anderen Figuren

Um die Charakterisierung fortzusetzen, sollen nun die Verknüpfungen der Drachen mit anderen Figuren betrachtet werden. Beide Drachen kommen mit nur einer kleinen Anzahl an Figuren in Berührung. Smaug trifft auf Bilbo Beutlin, den Meisterdieb, der den Pokal entwendete und seinen Bewacher damit aus dem Schlaf holte; und auf Bard den Bogenschützen, der ihn mit einem gezielten Schuss an seiner Schwachstelle trifft und tötet. Mit ähnlich vielen Personen tritt der Drache im Beowulf in Kontakt. Vor allem der Held Beowulf selbst setzt sich mit dem Drachen auseinander; dazu kommt Wiglaf, der den Drachen durch einen gezielten Stoß in seine Schwachstelle zum Tod verhilft. Dieser Drache trifft auch auf ‚seinen‘ Dieb. Der Dieb ist hier ebenso der Grund für das Aufwachen des Drachens.

Der Beowulf-Drache kommt im Wesentlichen aber nur mit einer Figur in Berührung: König Beowulf. Dieser Kampf, in dem der Drache mit Feuer und voller Wut versucht, Beowulf zu töten, ist die einzige Auseinandersetzung. Gegenüber anderen Figuren reagiert der Drache nur mit Wut und Zorn. Den Dieb sucht er „[k]ochend vor Wut“ (B V. 2296) in der Umgebung; gegenüber Beowulf wird „sein Zorn entzündet“ (B V. 2555), sobald er Beowulf hört. Der Drache ist in diesem Moment nur auf einen Kampf aus (vgl. B V. 2561).

Ein weiterer Mensch, der insbesondere für den Tod des Drachen eine große Rolle spielt, ist Wiglaf. Dieser lenkt den Drachen durch einen geschickten Stoß, in eine sich am Bauch befindende Schwachstelle (vgl. B V. 2269-70), ab, sodass Beowulf den Drachen töten kann, bevor er selbst kurze Zeit später – an einer von dem Drachen zugefügten Wunde – stirbt. „Wiglaf ist der eigentliche Überwinder des Drachens, stellt aber seine Hilfe ganz bescheiden dar […]“10, da der Tod des Drachens zu Gunsten Beowulfs geschieht.

Im Hobbit ist es insbesondere Bilbo, der durch den Dialog mit dem Drachen und den Beobachtungen, die er währenddessen anstellt, Smaug mehr Tiefe verleiht. Bilbo hat bei seinem zweiten Gang in die Höhle eine lange Unterhaltung mit Smaug. Smaug kann sprechen und sich mit Bilbo unterhalten, was einen bedeutenden Unterschied zwischen beiden Drachen darstellt. Smaug entwickelt sich zu mehr als einer gewalttätigen Bestie, die es zu erschlagen gilt. Denn, obgleich der Beowulf-Drache nicht vollständig einem Tier bezüglich seiner Intelligenz gleicht, ist er doch weit entfernt von der geistigen Auseinandersetzung zwischen Bilbo und Smaug.

Bilbo schleicht unsichtbar durch die Halle und lenkt Smaug mit Schmeicheleien und Rätseln ab. Der Drache bemerkt das zwar sofort (vgl. H  S.2 25) und hält „kein einziges Wort Bilbos für wahr“ (H S. 225), lässt sich aber trotzdem auf die Rätsel und Komplimente ein. Im Laufe der Unterhaltung entlockt er Bilbo mehrere Details über seine Herkunft und Gruppe (vgl. H S. 225), oftmals durch kleine Fehler des Hobbits, die der Drache sofort bemerkt. Es gelingt ihm sogar, Bilbo zu verunsichern, indem er auf seine bereits bestehenden Zweifel eingeht, wodurch dieser tatsächlich beginnt, die Zwerge zu verdächtigen (vgl. H  S. 228). Damit hat Smaug einen Konflikt in Bilbo erkannt, von dem dieser selbst noch nicht einmal wusste. „Drachenzauber“ (H S. 228) wird Smaugs Einfluss genannt, seine Persönlichkeit ist so „überwältigend“ (H S. 228), dass Bilbo dagegen ankämpfen muss. Während der gesamten Unterhaltung kommt Smaugs Arroganz zum Vorschein, sein Stolz über seine Kraft und seinen Besitz; diese Arroganz verleitet ihn jedoch dazu, auf Bilbos Bitte einzugehen, seine Unterseite zu offenbaren, und seine Schwachstelle zu entblößen:

[…] und daß es [Bilbo] aus ganz besonderen Gründen gelüstete, noch einmal genauer nachzuschauen. Der Drache rollte sich herum. „Schau“, sagte er. „Was meinst du dazu?“

[…] Aber im Innern dachte er: Alter Narr! Da ist doch ein leerer Fleck an seiner linken Brust, so nackt wie eine Schnecke ohne Haus! (H S. 229f.)

Funktion in der Handlung

Die Funktion und Rolle der Drachen ist anhand der Handlung klar auszumachen: Smaug ist der Antagonist des Hobbits, und wird schon im ersten Kapitel vorgestellt. Der Drache im Beowulf ist auch das zu bezwingende Monster,  wird allerdings erst sehr spät in Vers 2211 eingeführt. Trotz der Tatsache, dass sich beide Handlungen in nur scheinbar wenigen Details unterscheiden, haben Smaug und der Beowulf-Drache zwei grundlegend unterschiedliche Positionen in der Handlung.

Der erste große Unterschied zwischen beiden Werken findet sich in den Vorstellungen der Drachen, und der damit erzeugten Wirkung. Der Drache im Beowulf wird nur so weit präsentiert, als dass der König Beowulf einen Anlass, hat gegen das Monster zu kämpfen, „the dragon was in his right place, fulfilling his proper function“11, während Smaug genaustens beschrieben wird und  in der Gesamthandlung einen deutlich größeren Platz einnimmt. Die bereits erwähnten wiederholten Treffen mit Bilbo ermöglichen ein konkretes Bild des Drachens.

An genau dieser unterschiedlichen Gewichtung ist die Bedeutung der Drachen für die Erzählung festzumachen; Smaug begründet den Rahmen, in dem einerseits die Erzählung stattfindet, und den es andererseits zu brechen gilt. Der Beowulf-Drache dagegen dient im Schlusskapitel als Mittel zum Zweck für ein glorreiches Ende des Königs (vgl. B V.2842f.), und wie William Lawrence schreibt: „The dragon fits Beowulf as any dragon fits any hero.“12

Zweitens werden durch die längere Zeitspanne, die die Erzählung dem Drachen widmet, die tatsächlichen Begegnungen mit Smaug mit mehr Bedeutung beladen. Außerdem ist die Konfrontation das Resultat einer Erwartungshaltung, die während des gesamten Romans Kapitel für Kapitel gesteigert wurde: Die Handlung strebte von Anfang an auf das Treffen und Überwältigen Smaugs zu.

Im Beowulf dagegen beschäftigt sich der Autor nur kurz mit dem Drachen, da dieser als Monster weithin bekannt war: „that a man fights a dragon is commonplace of story“13, wodurch eine ausführliche Vorstellung ausfällt:„The dragon was so well known on Germanic soil that the poet of Beowulf did not even give him a name.”14
Mit diesem Satz illustriert Lawrence noch eindringlicher den grundlegenden Unterschied zwischen beiden Drachen. Wie schon angedeutet wurde, sind die ‚Namen‘ der Drachen wichtig. Der Drache im Hobbit trägt einen Namen, der im Beowulf allerdings nicht, wodurch auch seine Rolle in der Erzählung beeinflusst wird.

Deutlich wird diese Betrachtung anhand des Todes beider Drachen: In Smaugs letzten Momenten ist der Drache nämlich selbst im Fokus der Erzählung; der Tod des Drachen im Beowulf ist eine Randhandlung für die ausführliche Schilderung des langsamen Todes des Königs.

Smaug wird wie eine Figur behandelt, zeigt ein komplexes Innenleben und besitzt eine eigene Erzählperspektive. Sein Agieren mit Bilbo zeigt im Weiteren eine fast menschliche Intelligenz und konkrete Charakterzüge: Er ist arrogant, gierig, aber auch überaus intelligent und geradezu intrigant in seiner Fähigkeit, Bilbos Unsicherheiten auszunutzen. Tolkiens Drache reagiert nicht nur auf seine Umwelt, er besitzt in der Geschichte einen starken Willen, um eigenständig zu handeln. Sein Verhalten ist eigenständig und den anderen Figuren im Hobbit gleichgestellt.

Der Drache im Beowulf hingegen bleibt namenlos, die Erzählperspektive betrachtet den Drachen distanziert und führt ihn nur zum Zweck der Machtdemonstration des Königs ein. Der Kampf König gegen Drachen vollzieht sich in kurzen Zügen, und dient dem „Heldentod“ (B V.2842f.) Beowulfs, als ehrenvoller Abschluss des „Heldenleben[s]“ 15. Smaugs Tod hingegen beschäftigt sich nur mit Smaug, und offenbart die unterschiedlichen Gewichtungen der Drachen in beiden Erzählungen; der Drache im Beowulf ist Beowulf untergeordnet, Smaug im Hobbit ist die Ordnung, der sich die Erzählung anpasst.

Die Funktion des Monsters Marrien in Wirnts von Grafenberg Wigalois

Der Wigalois1 ist ein zwischen 1210 und 1220 entstandener Artusroman und Wirnts von Grafenberg einziges belegbares Werk. Eming lobt Wirnts besondere Leistung „in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß mit dem Wunderbaren zu arbeiten,“2 und spielt damit nicht nur auf Zauberei, sondern auch auf monströse Gestalten und magische Dinge an. Überhaupt ist die „ritterlich-höfische Dichtung (1180–1230) […] stark von der mittelalterlichen Monsterkultur geprägt.“3 Behr argumentiert jedoch, dass die Monster, die in den arthurischen Romanen auftreten „offenbar zu keinem anderen Zweck geschaffen wurden als dem, edle Ritter und unschuldige Jungfrauen zu bedrohen und dafür vom Titelhelden nach mehr oder weniger hartem Kampf erschlagen zu werden […].“4

Die Rolle von Monstern in Literatur, Kunst und Wissenschaft entsprang meist der theologischen Diskussion der mittelalterlichen Frage „nach dem Sinn und [ihrem] Stellenwert […] in Gottes Schöpfungsplan.“5 Aus diesem Grund muss die Funktion von Monstern auch immer in einem bestimmten Kontext gesehen werden, da gerade die höfische Literatur des Mittelalters christlich-religiös gekennzeichnet ist. Daher wurden jegliche Arten von Monstern schnell zu Trägern negativer Eigenschaften und Verhaltensweisen und als „feindselig, bösartig, widerwärtig, ungestüm, gierig, schändlich und abscheulich“6 identifiziert. Eine Vielzahl von Mediävisten hat den Wigalois – einen bekanntlich christlich-religiösen Text – für ihre Studien zu Wundern und übernatürlichen  Wesen  herangezogen,  ohne  dabei  jemals  den theologischen Rahmen der fiktiven Dichtung außer Acht zu lassen. Im Folgenden soll daher am Beispiel des Monsters Marrien untersucht werden, welche Funktion dieses fremdartige Wesen im Wigalois besitzt und wie es in Hinblick auf seine körperlichen Besonderheiten dargestellt wird.

Die vremdiu crêatiure

Wigalois begegnet im Verlaufe seines Abenteuers mehreren monströsen Wesen, vor allem im dämonischen Reich von Korntin, wo er auf seinen Endgegner Roaz trifft. Der Weg zu Roaz wird von Wächtern beschützt, darunter auch von einer vremdiu crêatiure (V. 6932). Es ist Marrien, ein Ungeheuer, das als halb Mensch, halb Tier beschrieben wird. Es hat einen Hundekopf mit glühenden Augen, einen menschlichen Oberkörper und den Unterkörper eines Pferdes. Außerdem wird der Körper dieses fremdartigen geschepftes (V. 6951) von Schuppen bedeckt, die härter als Stein sind, und es kann nicht eindeutig bestimmt werden, ob Marrien männlich oder weiblich ist.

ein vremdiu crêatiure;
diu bestuont in mit viure.
si hêt ein houbet als ein hunt,
lange zene, wîten munt,
diu ougen tief, viurvar;
niderhalp der gürtel gar
hêt si eines rosses lîp.
weder ez man ode wîp
wære, des enweiz ich niht. […]
enzwischen gürtel und houbet
was sie geschaffen als ein man;
breite schuopen wâren dran
gewahsen herter danne ein stein (V. 6932–6946)

Um Wigalois von seinem Weg abzubringen, wirft Marrien mit einem Feuer nach ihm, das es in einem eisernen Topf bei sich trägt. Es ist ein Zauberfeuer, das alles verbrennt, was damit in Berührung kommt und mit Wasser nicht gelöscht werden kann. Erst als es Wigalois gelingt, Marrien eines der vier Beine abzuschlagen, stellt er fest, dass das Blut des Ungeheuers das Feuer löschen kann. Marrien flieht verwundet in den Pechnebel eines Moors und findet dort den Tod.

Die Vermischung zweier Monstra

Marrien trägt verschiedene monströse Merkmale, sodass eine Zuordnung zu einer bestimmten Art von Monster nicht möglich ist. Das liegt an Wirnts Versuch „verschiedene Traditionen und Tendenzen zu kombinieren, so dass eine besondere Monstervorstellung daraus entspringt.“7 Das auffälligste an Marriens Gestalt sind die „Merkmale zweier der beliebtesten mittelalterlichen Monstra […]: die des Kynocephalen und des Kentauren.“8 Simek zählt die Kentauren zu den Sonderformen der Monster, da sie für gewöhnlich nicht als Einzelwesen, sondern als ganze Völkerschaften auftreten.9 Der Kopf und der Oberkörper eines Mannes treten entweder mit dem Leib und den Beinen eines Pferdes (Hippocentaur), seltener eines Esels (Onocentaur), auf. Zudem werden ihnen aufgrund antiker Mythen Eigenschaften wie Wildheit, Trunkenheit, sexuelle Aggressivität und Kampfeslust nachgesagt.10 Friedrich beschreibt sie als stereotype Mischwesen mit einem undurchdringlichen Fell und meist unritterlichen Waffen wie Speer, Bogen und Feuer. In antiken Mythen war ihr Ansehen positiv, in der mittelalterlichen höfischen Literatur dagegen negativ, denn die Funktion ihrer Gestalt wurde je nach Bedarf variiert: germanisch-heldenepisch (Tier), exotisch-ethnographisch (wilder Reiterkrieger) oder christlich-dämonisch (Teufel).11

 Die Kynocephalen werden als eine „Rasse von Menschen mit Hundeköpfen [beschrieben], die sich durch Bellen verständigen.“12 Isidor von Sevilla bestimmt Indien als ihren Geburtsort.13 Das fehlende Sprachvermögen der sogenannten Hundsköpfigen führte dazu, dass ihre Menschlichkeit in Frage gestellt wurde.14 Auch Isidor schreibt sie durch diesen Umstand eher der Tier- als der Menschenwelt zu.15 Ihr Bellen und die Tatsache, dass sie zu den Anthropophagen (Menschenfresser) gezählt werden,16 scheint die Zuordnung in das Reich der Tiere zu bekräftigen, andererseits werden sie als streitsüchtige Menschen und Verräter17 bezeichnet, was dem vehement widerspricht. Interessant ist, das Wirnt gerade diese beiden Wesen, die doch so unterschiedlich zu sein scheinen,  zu einer Lebensform vereint, wie Antunes darstellt:

„Da der menschliche Kopf [der Kentauren] den animalischen Unterkörper beherrscht, wird er als ein zum Denken fähiges und die Bekehrung suchendes Wesen aufgefasst, im Gegensatz zu den Kynocephalen, die einen vom Tierkopf beherrschten Menschenkörper besitzen und infolgedessen oft als unzivilisiert gelten.“18

Was auch immer Marrien ist, es stecken menschliche und tierische Eigenschaften in dem fremdartigen Wesen. In dieser Doppelnatur sieht Gottzmann die Versinnbildlichung von „Häresie und Lasterhaftigkeit“.19 Auch Lohbeck sieht – neben unbändiger, roher Gewalt – verschiedene Laster, die durch die Mischung aus Fischschuppen, Hund und Pferd entstehen: Neid, Zorn und Unreinheit.20 Als vâlant (V. 6976) und tievel (V. 7001) bezeichnet, wird Marrien somit „deutlich zum Funktionselement des Teufels: nunmehr ausgerüstet mit ‚infernalischem‘ Feuer.“21

Als „Hüter der teuflischen Herrschaft“22 fungiert Marrien als ein Hindernis, dem sich der Held auf seinem Weg stellen muss. Als „Helfershelfer“23 unterstützt Marrien das diabolische Vorhaben Roaz‘, der „als heide […] zur dämonischen, fremden Gesellschaft jenseits der Christenheit [gehört].“24 Da die Christen über die  Heiden siegen, sterben  auch  die Widersacher, gegen die sich  Wigalois zur Wehr setzen muss.

Fazit

Die Überlieferungen von Tieren, Mischwesen und besonders Monstern dienten im Mittelalter als Instrumente für das Verständnis von Gottes Schöpfungsplan, heizten die Unsicherheit und Befremdung über die – nach dem mittelalterlichen Weltbild ursprünglich meist orientalischen – Monster aber auch weiter an. „Um Laster und Tugenden begrifflich und inhaltlich vorstellbar zu machen, kombiniert die Scholastik ganz rational Montagen aus Tieren und Menschen.“25 Überwiegend wurde dieses Wissen in einem theologischen Rahmen verarbeitet. Die christliche Ausrichtung des Wigalois spiegelt sich kontinuierlich im Text wieder. Friedrich bemerkt ebenfalls, dass die „poetische Funktion weitgehend vom theologischen Diskurs absorbiert“26 wird. „Aufgrund dieser Beobachtung kann vermutet werden, dass, wenn der Verfasser des Wig[alois] ein orientbezogenes Szenario als Schauplatz für einen großen Teil seines Romans wählte […], Teile der Monstertradition aufgenommen wurden.“27

Die Verwendung von Monstern, die entweder menschliche oder tierisch-menschliche Merkmale vorweisen, erhält damit eine zugeschnittene Funktion: „Das Monströse [dient] als Definition des Anderen, des Fremden.“28 Marriens monströses Aussehen macht es unmöglich, es als ein bestimmtes Wesen zu identifizieren, besonders wegen der Vermischung von Merkmalen mehrerer sehr unterschiedlicher Monster. Außerdem benutzt Marrien magische Utensilien wie das Zauberfeuer, und schließt sich durch die Verbindung zu Roazʻ Teufelsreich selbst aus dem Christenreich aus.

Doch die theologische Perspektive auf Monster wie Marrien ist auch zweckmäßig: Das (je nach Funktion) interpretierte Wissen um ihre Existenz, der Kampf mit ihnen und ihre Überwindung, stellen Hindernisse dar, die der Romanheld auf seiner heiligen  Mission  überwinden muss. Und  nicht  zuletzt dadurch  erweisen  sich  diese Hindernisse als eine Belehrung.29 Diese Belehrung ist auf dem Bewährungsweg des christlichen Helden überaus wichtig, denn „die Beseitigung der Teufelsherrschaft heidnischen Unglaubens ist ständig von der Möglichkeit eines Scheiterns begleitet […].“30 Es ist allein der unerschütterliche Glaube an Gott, der Wigalois auf seinem scheinbar aussichtlosen Weg bekräftigt. Und dieser Weg wird bewacht von dem absonderlichen Monster Marrien, das durch seine dämonische Codierung als „Repräsentan[t] des Teufels“31 fungiert.

Der Drache Pfetan in Wirnts von Grafenberg Wigalois

Wirnts von Grafenberg Roman Wigalois hat seinen Ursprung um 1210/1220 und gehört zu den wichtigsten Artusromanen des Mittelalters.1 Gabriela Antunes betont die herausragende Stellung in der mittelalterlichen deutschen Literatur und seine enorme Bedeutung für die Entwicklung des Artusromans.2 Wigalois ist Ritter der Tafelrunde und der Sohn Gaweins. Im Verlauf der Erzählung soll Wigalois das Land Korntin von teuflischen Kreaturen befreien. In einem Kampf besiegt er den Drachen Pfetan. Als christlicher Held vertraut er dabei auf die Unterstützung von Gott und wird so zum Gottesstreiter.3Der Drache Pfetan wird in Wirnts von Grafenberg Wigalois als deheine crêature4 dargestellt. Für den Verlauf der Geschichte steht er in einem direkten Zusammenhang mit der Befreiung Korntins, denn Pfetan repräsentiert das Chaos und das Böse, welches die Gesellschaft in seiner Ordnung bedroht. Ihn zu bezwingen gilt als Bekämpfung des Bösen – Wigalois, von Gott auserwählt, bezwingt den Drachen und ist in der Lage die (höfische) Ordnung wieder herzustellen.5

Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, wie der Drache Pfetan als teuflische Kreatur oder gar als Teufel selbst dargestellt wird.

Definition

Der Definition nach ist ein Drache

„zumeist […] von echsenartiger, mit Schuppen bedeckter Gestalt mit fledermausartigen Flügeln und zwei oder vier raubtierartigen Krallenfüßen, […] er kann mehrköpfig sein, […] speit Feuer, hat einen giftigen Atem und den bösen Blick.“ 6

Dem Drachen werden durchaus auch positive Attribute zugeschrieben, so erzählt Hildegard von Bingen, dass das Drachenblut eine heilende Wirkung besitzt7 und ein Drachenherz, welches im Ackerboden vergraben wird, vor Schaden bewahrt.8 Allerdings gilt er in der abendländischen Tradition „als Verkörperung von Zerstörung und Chaos“9, als „die Inkarnation des Bösen in der Welt, des Teufels Gesellen“.10Claude Lecouteux definiert einen Drachen als jedes Wesen, dass im Originaltext als Drache bzw. mit einem synonymen Begriff, wie Wurm, Wyrm, Draca, Lint, Lintdrache, Lintwurm oder dergleichen bezeichnet wird.11

Darstellung des Drachens im Wigalois

In Wirnts von Grafenberg Wigalois wird der Drache Pfetan detailliert und facettenreich beschrieben.
Er wird als riesenhafte Gestalt dargestellt; die Haut seines Körpers ist geschuppt, Kopf und Beine sind behaart. Vom Kopf bis zum Schwanz sitzt eine scharfe, gelbe, feste Schuppenreihe, die laut Erzähler an die Gestalt eines Krokodils erinnert. Eine weitere Darstellung seines Äußeren vervollständigen das Bild des Drachen: Er trägt einen Hahnenkamm, hat Greifenbeine, Flügel, die wie Pfauenfedern schillern und die Ohren eines Maultiers. Sein Leib ist kerzenförmig, sein Hals knorrig und er besitzt einen langen Schwanz, der drachenspezifische Eigenschaften aufweist, auf die Isidor von Sevilla näher eingeht.

einen kamp hêt er als ein han,
wan daz er ungevüege was;
sîn bûch was grüene alsam ein gras,
diu ougen rôt, sîn sîte gel;
der wurm der was sinwel
als ein kerze hin zetal;
sîn scharfer grât der was val;
zwei ôren hêt er als ein mûl;
sîn houbt was âne mâze grôz,
swarz, rûch; sîn snabel blôz,
eins klâfters lanc, wol ellen breit,
vor gespitzet, unde sneit
als ein niuwesliffen sper;
in sînem giele hêt er
lange zene als ein swîn;
breite schuopen hürnîn
wâren an im über al;
von dem houbet hin ze tal
stuont ûf im ein scharfer grât,
als der kokodrille hât,
dâ er die kiele kliubet mit12

Laut Claude Lecouteux sind die an Pfetan beschriebenen Maultierohren ein eher untypisches Drachenattribut, werden jedoch in der Teufelsdarstellung angewendet und könnten ein Indiz dafür sein, dass Pfetan eine Teufelsfigur darstellen soll.13 Lecouteux betont, dass die umfangreiche Beschreibung Pfetans nicht nur einmalig für die mittelhochdeutsche Literatur sei, sondern überdies auch an den naturkundlichen Quellen von Isidor von Sevilla14, Hildegard von Bingen15 und Konrad von Megenberg 16 anzuknüpfen scheint.17Der Drache Pfetan ist durchaus als Schlüsselfigur im Wigalois zu betrachten. Der tapfere Held Wigalois befreit die Menschheit von dem Bösen, das durch den Drachen Pfetan verkörpert wird. Der Drache scheint zunächst unverwundbar und ist nur mit Hilfe von magischen Hilfsmitteln zu besiegen.18Der faulige Atem des Drachens ist sogar in der Lage ein ganzes Heer zu vernichten und verdeutlicht die von Pfetan ausgehende Gefahr. Dazu steht im Wigalois von sînem stanke verdürbe ein her der im ûz dem halse gêt“19Pfetan wird an mehreren Stellen als Verbündeter des Teufels „tievels bot“20 oder sogar als der „tievel“21 selbst begriffen. Stephan Fuchs bezeichnet den Drachen als „Wurzel des Chaotischen“22, was er unter anderem damit belegt, dass Roaz selbst den Drachen nicht vernichten kann und auch Wigalois durch den Drachen in einen (vorübergehenden) chaotischen, ungeordneten, außergesellschaftlichen Urzustand geworfen wird.23

Darstellung des Drachens in der christlichen Überlieferung

Schon im neuen Testament finden sich Hinweise auf den Drachen als ein Bote des Teufels.
Dort wird er in der Offenbarung des Johannes als Wesen mit sieben Köpfen und zehn Hörnern beschrieben.24 Auf jedem Haupt sitzt eine Krone. Durch seine Zerstörung schlägt er mit seinem Schwanz ein Drittel aller Sterne vom Himmel auf die Erde.25
Es wird von einem Drachen berichtet, der am Himmel erscheint und das Kind einer gebärenden Frau verschlingen will. Mit Gottes Hilfe gelingt es der Frau jedoch, sich zu retten und einen Sohn zu gebären, dem die Herrschaft über alle Völker verheißen ist. Doch währenddessen entbrennt im Himmel ein Kampf zwischen dem bedrohlichen Drachen und dem Erzengel Michael und seinen Engeln, infolgedessen der Drache zur Erde gestürzt wird.

Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten und verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt, und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.26

Diese Passage ist prägend für das europäische Drachenverständnis, da der Drache hier mit der Figur des Teufels in Verbindung gebracht wird.
Die Offenbarung wird als Endzeitgeschichte dargestellt.Auch im Wigalois ist eine deutliche Verbindung zwischen dem Weltlichen und Geistlichen zu finden ist.  Als Wigalois den Drachen sieht, betet er zu Gott, er möge ihm helfen:

nu hilf, keiser, herre got,
daz mich dirre tievels bot
iht scheide vin dem lîbe,
daz ich dem süezen wîbe
erledige ir gesellen.
du solt den tievel vellen,
wand er der werlte schaden tuot.27

Der Drachenkampf steht hier sinnbildlich für die Auseinandersetzung mit Satan, dem Bösen schlechthin. Der Sieg über ihn wird gleichgesetzt mit dem Sieg über alles Lebens- und Gottesfeindliche. Andreas Hammer bezeichnet Wigalois als einen vollkommenen Held, der in seinem eigenen Seelenheil unerschütterlich wirkt. Weiter bemerkt Hammer, dass die starke Besinnung auf christliche Symbole im Wigalois, die sich auch im Aufgreifen der Zweifelsthematik zeigt, die Identifikation des Drachen mit dem Teufel im Sinne der biblischen Offenbarung oder der mittelalterlichen Tierallegorien gestattet.28Allerdings darf dabei die Bedeutung und Herkunft der Schlangen nicht außer Acht gelassen werden, da die Schlange als biblisches Geschöpf eine besondere Stellung einnimmt. Auch im alten Testament dient sie als Instrument des Teufels, indem durch sie durch Hinterlist und Tücke die Menschen aus dem Paradies treibt.29

Darstellung des Drachen bei Isidor von Sevilla

Isidor von Sevilla versucht zunächst eine neutralere Betrachtung des Drachen; so bezeichnet er in seinen Etymologiae Drachen als eine Unterart der Schlangen (serpentes).30 Damit erhalten sie den Stellenwert eines real existierenden Lebewesens, das mit einer Seele ausgestattet ist.31Laut Isidor von Sevilla ist ein Drache gewaltig und mit seinem Schwanz in der Lage Elefanten zu töten, indem er sie damit umwickelt, um sie dann zu strangulieren.32
Hier findet sich eine deutliche Parallele zu Pfetan, der seine Beute ähnlich zu jagen scheint.

der wurm hêt nâch wurmes sit
einen zagel langen;
dâ mit hêt er bevangen
vier rîter lussam,
die er vor dem walde nam,
als im diu vrouwe hêt geseit
durch die er nâch dem wurme reit.
vil kûme hêten si ir leben;
der zagel was umb si gegeben
wol mit drin valten;
sus hêt er si behalten,
als er si ezzen wolde33

Im Hinblick auf Isidor von Sevilla ist lediglich das christliche Drachenbild negativ in seiner Darstellung und basiert auf den Überlieferungen der Bibel. Naturkundlich betrachtet, wird der Drache ausschließlich als Tier wahrgenommen und nicht als böse.34 Denn obwohl Isidor von Sevilla den Begriff „monstrum“ nicht in Verbindung mit dem Drachen verwendet, impliziert er durchaus monströse Eigenschaften, indem er von der physischen Exorbitanz des Drachen spricht.35

Fazit

Viele der genannten Textstellen identifizieren den Drachen Pfetan mit dem Teufel. Da die mittelalterliche Literatur von einem starken christlichen Einfluss geprägt ist, scheint dies auch im Sinne der biblischen Offenbarung zu sein.36
Es ist anzunehmen, dass der Drache nicht für das absolute Böse, für den Teufel steht, sondern als ein Teufel zu betrachten ist, der durchaus auszutauschen oder zu ersetzen ist. Sabine und Ulrich Seelbach sehen im Wigalois eindeutige Parallelen zwischen Pfetan und dem Teufel, die durch das Gesamtkonzept des Romans unterstützt werden. Dabei ist zu bedenken,

dass der Roman sowohl „das Problem des Zweifels [als] Zentrum menschlicher Entwicklung und Bewährung“, wie es typisch für die Literatur im Grenzbereich zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre ist, als auch die axiomatische Ethikkonzeption, wie sie an den dilemmatischen Situationen der Artusromane chretienscher Prägung präsent ist, kennt und beartet.37

Der Drache Pfetan scheint folglich eine literarische Rolle einzunehmen; der vermeidliche Held der Geschichte muss sich seinem übermenschlichen Gegner, der hier als Drache dargestellt wird, stellen und besiegen. Durch den Sieg erlangt der Held eine neue heldenhafte Identität und steigt in seinem Ansehen. Durch die detaillierte, furchteinflößende Beschreibung seines Aussehens, wirkt Pfetan noch bedrohlicher und mächtiger. Diese Attribute vervollständigen auch das Bild des vollkommenen Helden Wigalois. Schlussendlich ist dem Drachen Pfetan durch die Zuordnung zur Gattung der Schlangen, der Verbindung zum Christentum und der sprachlichen Zuordnung im Wigalois zwar eine begriffliche Nähe zum Teufel zuzusprechen, jedoch weist er am Ende keine dämonischen Eigenschaften auf, da er von Wigalois in einem ritterlichen Kampf bezwungen wird;38 Wigalois, der verschiedene Hilfsmittel zur Drachenbekämpfung mit sich führt, die zum einen aus übernatürlichen, christlichen Dimensionen zum anderen aus weltlichen Dimensionen bestehen, besiegt Pfetan nicht durch übernatürliche Kräfte, sondern mit dem Stich seiner Lanze.39

Der Basilisk – Intertextuelle Bezüge in J.K. Rowlings Harry Potter-Universum und mittelalterlichen Literaturen

Der Basilisk in J.K. Rowlings Harry Potter-Universum

Im zweiten Teil der Harry Potter-Fantasy-Romanreihe von J.K. Rowling, Harry Potter and the Chamber of Secrets (1998), spielt ein monströses Schlangenwesen eine zentrale Rolle: der Basilisk. Auf der zusammengeknüllten Buchseite, die Ron und Harry in Hermines versteinerter Faust finden, wird der Basilisk wie folgt beschrieben:

Of the many fearsome beasts and monsters that roam our land, there is none more curious or more deadly than the Basilisk, known also as the King of Serpents. This snake, which may reach gigantic size, and live many hundreds of years, is born from a chicken’s egg, hatched beneath a toad. Its methods of killing are most wondrous, for aside from its deadly and venomous fangs, the Basilisk has a murderous stare, and all who are fixed with the beam of its eye shall suffer instant death. Spiders flee before the Basilisk, for it is their mortal enemy, and the Basilisk flees only from the crowing of the rooster, which is fatal to it.1

In Rowlings fiktionaler Enzyklopädie magizoologischer Kreaturen Fantastic Beasts and Where to Find Them (2001) ist ihm darüber hinaus ebenfalls ein Eintrag gewidmet, der die fiktiven Eigenschaften des schlangenähnlichen Monsters beschreibt:

The first recorded Basilisk was bred by Herpo the Foul, a Greek Dark wizard and Parselmouth […]. The Basilisk is a brilliant green serpent that may reach up to fifty feet in length. The male has a scarlet plume upon its head. It has exceptionally venomous fangs but its most dangerous means of attack is the gaze of its large yellow eyes. Anyone looking directly into these will suffer instant death. If the food source is sufficient (the Basilisk will eat all mammals and birds and most reptiles), the serpent may attain a very great age. Herpo the Foul’s Basilisk is believed to have lived for close on nine hundred years. The creation of Basilisks has been illegal since medieval times although the practice is easily concealed by simply removing the chicken egg from beneath the toad when the Department for the Regulation and Control of Magical Creatures comes to call. 2

J.K. Rowling bediente sich an tradierten Vorstellungen vom Basilisken, die über das Mittelalter bis in die Antike zurückreichen. Im Folgenden sollen Kontinuitäten innerhalb Rowlings Basilisken-Darstellung und der abendländischen Bedeutungsgeschichte des Basilisken aufgezeigt werden. Dabei sollen mittelalterliche naturgeschichtliche Quellen und ihre antiken Vorbilder sowie exemplarisch mittelalterliche erzählende Literatur berücksichtigt werden.

Naturgeschichtliche Basilisken-Darstellungen

Zu Beginn sollen zunächst die antiken Berichte von Plinius dem Älteren aus dem 1. Jahrhundert in der Naturalis Historiae und der Reisebericht des von Plinius abhängigen Solinus, vermutlich aus dem 4. Jahrhundert, hinsichtlich intertextueller Bezüge analysiert werden, da diese Werke zum Kanon der mittelalterlichen Schullektüre zählten und deshalb allgemein bekannt waren.3 Plinius schreibt im 8. Buch seiner Naturkunde Folgendes über den Basilisken:

Dieser [der Katoblepas] ist daher immer zur Erde hinabgebeugt; wäre es anders, so würde das Menschengeschlecht vernichtet werden, da alle, die ihm in die Augen sehen, auf der Stelle den Tod finden. Die gleiche Kraft besitzt auch der Basilisk, eine Schlangenart. Er ist heimisch in der Provinz Kyrenaika [eine Küstenlandschaft in Nordafrika mit der Hauptstadt Kyrene, Anm. d. V.], ist nicht länger als zwölf Finger [etwa 24 cm, Anm. d. V.] und hat am Kopf einen weißen Fleck, der ihn wie ein Diadem schmückt. Durch sein Zischen verjagt er alle Schlangen und bewegt nicht, wie die anderen, seinen Körper durch vielfache Windungen, sondern geht stolz und halb aufgerichtet einher. Er läßt die Sträucher absterben, nicht nur durch die Berührung, sondern auch schon durch den Anhauch, versengt die Kräuter und sprengt Steine: eine solche Stärke hat dieses Untier. Man glaubte, daß jemand ihn einst zu Pferde mit einem Speer erlegt habe und daß das wirkende Gift an diesem emporstieg und nicht nur dem Reiter, sondern auch dem Pferd den Tod brachte. 4

Das Motiv des tödlichen Blickes ist somit bereits bei Plinius zu finden. Darüber hinaus identifiziert Plinius den Basilisken als eine Schlangenart, die anderen Schlangen durch ihr Zischen und ihre aufrechte Fortbewegung überlegen ist. Es handelt sich nicht um eine Schlange überdurchschnittlicher Größe wie bei Rowling, jedoch zeichnet sie sich ebenfalls durch eine übernatürliche Stärke und Giftigkeit aus. Was ein Gegengift betrifft, ist in weiteren mittelalterlichen naturkundlichen Quellen von Bibergeil, ein Duftsekret des Bibers, die Rede5, jedoch nicht von Phönixtränen wie bei Rowling.6 Laut Solinus sollen nicht einmal die sterblichen Überreste des Basilisken ihr Gift verlieren.7 So weiß er von einem Apoll-Tempel zu berichten, den Spinnen und Vögel gleichermaßen mieden, seit man einen toten Basilisken in einem goldenen Netz darin aufgehängt hatte.8 Die Angst der Spinnen vor dem Basilisken ist wiederum eine Parallele zum Harry Potter-Universum.

Auf Grundlage der genannten antiken Quellen entwickelte Isidor von Sevilla im 7. Jahrhundert in seinen Etymologiae eine Definition des Basilisken, die für seine Bedeutungsgeschichte entscheidende Weichenstellungen enthält.9 Isidor definiert den Basilisken in Buch XII der Etymologiae wie folgt:

Der Basilisk [ist] griechisch [und] wird lateinisch mit regulus (kleiner König) übersetzt, weil er der König der Schlangen ist, so dass die, die ihn sehen, fliehen, weil er sie mit seinem Geruch tötet, denn auch wenn er einen Menschen ansieht, tötet er ihn. So geht aber auch an seinem Blick kein fliegender Vogel unversehrt vorüber, sondern er wird, wie fern er auch ist, durch seinen Blick verbrannt [ja] verzehrt.10

In Isidors Ausführungen werden die intertextuellen Bezüge zu den antiken Vorbildern deutlich. So taucht auch bei ihm das Motiv des tödlichen Blicks auf. Tötet der Basilisk bei Plinius noch durch Berührung bzw. durch seinen Anhauch, ist bei Isidor bereits der Geruch des Basilisken tödlich. Die Montage ‚tödlicher Blick – tödliche Luft‘ ist laut Sammer in den nachfolgenden Quellen sogar häufiger anzutreffen als die ursprüngliche Kombination von tödlichem Blick, tödlichem Anhauch und tödlicher Berührung.11 Folgenreich ist zudem, dass Isidor den Basilisken als König der Schlangen klassifiziert. Sammer schreibt von einem „Epitheton“, das „nicht wegzudenken“12 ist. Wie einflussreich Isidors Definition im Mittelalter war, zeigt Sammer noch einmal ausführlich durch die teils wortwörtliche Wiedergabe in mehreren mittelalterlichen Quellen.13 Die Klassifizierung Isidors wirkt darüber hinaus bis in die Neuzeit hinein und beeinflusst theologische Auslegungen und Metaphorisierungen, sowie bildliche Darstellungen als bekrönte Schlange oder als bekröntes schlangenartiges Mischwesen.14 Bei Rowling wird der Basilisk ebenfalls als „King of Serpents“15 bezeichnet.

Basilisken-Motiviken in der mittelalterlichen erzählenden Literatur

Der Basilisk findet sich nicht nur in mittelalterlichen naturkundlichen Texten, sondern auch in mittelalterlicher erzählender Literatur, so z.B. in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur (1277).16 Als der junge Partonopier sich während einer Eberjagd im Wald verirrt, betet er verängstigt zu Gott, er möge ihn vor all den gefährlichen Kreaturen, die im Wald lauern, beschützen.17 Darunter befindet sich auch der Basilisk, dem Partonopier folgende Eigenschaft zuschreibt: hie loset unde lûzel / der basiliske tougen, / der sterbet mit den ougen / den menschen, als er in gesiht.18 Auch Konrad von Würzburg verwendet somit die Motivik des Basilisken mit tödlichem Blick. Für Partonopier geht jedoch keine echte Bedrohung durch den Basilisken aus. Er imaginiert ihn lediglich, da er sich als Kind, das noch nie allein von zu Hause fort war, allein im Wald fürchtet.19

Eine weitere Motivik aus mittelalterlicher erzählender Literatur ist die Tötung des Basilisken durch einen Spiegel oder einen großen Kristall, wodurch der tödliche Blick des Basilisken auf ihn selbst zurückgeworfen und somit die Selbstzerstörung ausgelöst wird.20 Traditionsbildend war diesbezüglich die Alexanderschlacht.21  Sie wird im Alexanderroman Der Große Alexander aus dem 14. Jahrhundert, auch Wernigeroder Alexander genannt, beschrieben.22 Alexander ist mit seinem Heer auf dem Weg zu einem wolkenverhangenen Berg.23 Bei der Durchquerung eines Tales

Da sach man auf dem Berg stan
Büsch, die warn also dik
Daz weder weg noch stig
Dar uber ging dan ain
Klainer steig allain.
Da zoch er mit ungehag
Pizz an den sibenden tag.
Da begegnent in ain solich smak,
Da von ir manger töt lag
Die zu dem ersten dar zugent,
Und sprachent all: „wir mügent
Nit für, die göter sind wider uns.“
Allexander sprach sünß:
„Stet all still gar,
Ich will allain gann dar.
Rauch mir den schilt mein,
Der von gold und gestain fein
Leuht als ain spigel.
Lan schawen waz daz triegel
Sey oder daz künder.“
Der kunig parg sich under
Den schilt und slaich all dar.
Dez nam der basalistus war
Und warf seiner augen schein
Wider den schilt fein,
Dar ynnen er sich selber ersach:
Daz kom im ze ungemach,
Wann er da umb starb
Und zu stund all da verdarb.
Da Allexander vernam daz
Der basalistus töd waz,
Er rüft seinen dienern dar
Und sprach: „nempt all war,
Daz ist der uns ermordet hat.“
Sie lobten all die getat.24

Alexanders Heer wird durch einen üblen Geruch aufgehalten, der so stark ist, dass mehrere Männer zu Tode kommen. Alexander beschließt allein loszugehen, um den Ursprung des Gestanks zu ergründen, nimmt jedoch seinen schützenden, mit Edelsteinen besetzten, goldenen Schild mit. Ein Basilisk, die Ursache für den üblen, tödlichen Geruch, starrt in den spiegelnden Schild und wird so durch sein eigenes Spiegelbild getötet. Alexander ruft daraufhin seine Diener und zeigt ihnen das besiegte Monster.

In Seifrits Alexander aus dem Jahre 135225 ist die Motivik ebenfalls zu finden. Hier ist es jedoch nicht Alexander, sondern Aristoteles, der den Basilisken mit seinem eigenen Spiegelbild bekämpft.26

da sach er an dem gepirg siczen
ainen unkcht und gegen im gliczen,
das ist ain wuerm und haist alsus
zu latein basyliscus.
das ist ain wuerm nit zu klain,
der ist so giftig und so unrain
das im die giftig taugen
scheinet durich die augen.
alles das er ane siecht,
das mag lenger leben nicht,
es sey mensch oder tier,
das mues sterben also schier.27

Der Basilisk in Seifrits Alexander ist so giftig, dass bereits sein Blick tödlich für Mensch und Tier ist. Letztendlich wird er jedoch durch Aristoteles und 80 Krieger mit jeweils 80 Schildern aus poliertem Stahl getötet:28

do er sach in die schilt so dikch
und auch von dem wider plikch
das er sich selb dar inne sach,
die gift im das herez ab prach,
das er auf der stet starb
und von sein selbs gift verdarb.29

In Rowlings Harry Potter-Universum kann der Basilisk zwar nicht durch sein eigenes Spiegelbild vernichtet werden. Sein tödlicher Blick kann aber abgeschwächt werden, indem seine Opfer ihm nicht direkt in die Augen sehen, sondern ihn durch eine spiegelnde Oberfläche bzw. einen durchsichtigen Geist erblicken, woraufhin sie lediglich versteinert statt getötet werden.30

Wie zu Beginn konstatiert, weist Rowlings Konzeption des Basilisken zahlreiche intertextuelle Bezüge auf, die vom Mittelalter bis in die Antike zurückreichen. Dabei wurde insbesondere die Motivik des tödlichen Blicks, aber auch die extreme Giftigkeit aufgegriffen. So wird Tom Riddles Tagebuch, was sich im späteren Verlauf der Romanreihe als schwer zerstörbarerer Horkrux herausstellt, von Harry mit dem giftigen Zahn des Basilisken durchbohrt und somit vernichtet.31Zudem ist auch die Klassifizierung des Basilisken als König der Schlangen bei Rowling wiederzufinden. Motiviken wie die Tötung des Basilisken durch sein eigenes Spiegelbild sind in abgewandelter Form festzustellen. Nichtsdestotrotz bildet die abendländische Bedeutungsgeschichte des Basilisken die Folie für Rowlings monströses Schlangenwesen.

 

Monstrosität bei Heiligen? – Die Riesenhaftigkeit des Heiligen Christophorus

In diesem Beitrag soll es um die Legende des Heiligen Christophorus gehen, welche Aspekte aufweist, die für die Thematik „Monster und Monstrosität im Mittelalter“ von Interesse sind. Bevor dies geschieht, gilt es jedoch, einen kurzen Blick auf die literarische Textgattung zu werfen, die hierbei untersucht wird: Die Heiligenlegende.
Das Ziel einer Heiligenlegende ist es, die Heiligwerdung literarisch darzustellen.[1] Der Heilige dient hier als Vorbild, da er auf seinem Weg in die Heiligkeit zum Nachahmer Christi wird. Die Menschen des Mittelalters sahen in dem Heiligen darüber hinaus einen Mittler zwischen ihnen und Gott, der durch Gebet erreicht werden konnte.[2] Heiligenlegenden sind dementsprechend stark idealisierend und meist strengen Konventionen unterworfen. Viele dieser Texte sind zudem aber von weiteren, nicht unbedingt hagiografischen Erzählmustern überlagert.[3] Diese Faktoren begründen, so Hammer, nicht unbedingt die Heiligkeit des Legendenprotagonisten, seien aber maßgeblich für seine Inszenierung.[4]

Auch die Legende des Heiligen Christophorus weist in der Form, in der sie seit dem 13. Jahrhundert in der Westkirche feststeht,[5] solche Faktoren auf, von denen einer im Folgenden untersucht werden soll. In fast allen Überlieferungen der Legende wird der Heilige vor seiner Heiligwerdung als heidnischer Riese dargestellt, der sich auf die Suche nach dem höchsten Herrn begibt, um in dessen Dienst zu treten.[6] Nach mehreren Stationen nimmt er einen Fährmannsdienst an.[7] Hier trifft er schließlich auf Christus, welcher seinen Dienst in Gestalt eines Kindes annimmt. Der Heide trägt Christus über den Fluss, Christus tauft den Riesen und es findet die Namensänderung vom Offerus zum Heiligen Christophorus statt. Es folgt die bereits seit der Antike bekannte passio des Heiligen,[8] in der er dann durch ein Martyrium in die Heiligkeit eingeht und seine Funktion als Vermittler erfüllt. Eben dieses „eigentümliche Charakteristikum“,[9] die Riesenhaftigkeit des Heiligen, soll nun thematisiert werden. Hierfür findet eine Beschäftigung mit dem mittelhochdeutschen Gedicht Christophorus A[10] statt. Wie wird die Riesenhaftigkeit des Offorus[11] in dieser Dichtung dargestellt? Was für eine Funktion kommt ihr zu? Durch das Heranziehen ausgewählter Textstellen soll eine Antwort auf diese Fragen verfasst werden.

Die Riesenhaftigkeit des Offorus

Im deutschsprachigen Raum ist die Legende des Heiligen Christophorus mehrfach überliefert. Die Gedichte unterscheiden sich im Detail durchaus stark voneinander, doch die Riesenhaftigkeit ist ein Aspekt, den sie alle anführen, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung.[12] Das in das 15. Jahrhundert datierte mittelhochdeutsche Gedicht Christophorus A, welches vermutlich die jüngste der drei überlieferten Versionen ist, behandelt die Riesenhaftigkeit des Christophorus in größerem Maße als es die anderen tun.[13] Die „Makrostruktur“ [14] der Handlung unterscheidet sich in diesem Gedicht bereits dadurch von den anderen Fassungen der Legende, dass der Suchgeschichte des heidnischen Riesen Offorus eine Geburts- und Kindheitsgeschichte vorangestellt wird. Der Fokus soll in diesem Abschnitt insbesondere auf eben diesem Teil liegen, da gerade hier viele Aspekte der Riesenhaftigkeit angeführt werden. Die Frage ist also zunächst, was für Eigenschaften dem Riesen hier zugeschrieben werden und wie diese zum Ausdruck gebracht werden.

Bereits kurz nach der Geburt des Offorus wird dieser als so groß wie ein einjähriges Kind beschrieben (A 152–55). Mit einem Jahr ist er bereits so groß wie ein 30-jähriger Mann (A 164–68). Auch über seine ausgewachsene Größe erfolgt eine ausführliche Beschreibung: Er sei folglich so groß und schwer, dass ihn kein Pferd tragen könne. Seine Größe ist so beachtlich, dass die Ritter, mit denen er sich umgibt, auf ihren Pferden mit ihren Köpfen bloß an seinen Gürtel reichen (A 214–16; 219–21). Durch Beschreibungen wie diese entsteht ein detailreiches Bild von der Größe des Riesen, doch auch seine damit einhergehende Kraft findet in diesen anfänglichen Passagen große Aufmerksamkeit. Als Sohn eines adeligen Herrn (A 47– 49) muss Offorus mit 20 Jahren eine Kampfausbildung machen, welche sich jedoch schwierig gestaltet. Den Bogen, den er benutzen soll, macht er schon beim Spannen mit einem Finger kaputt (A 189–92); die Steine wirft er so weit weg, dass keiner sie zurückholen kann (A 194–96). Die Art und Weise, auf die die Stärke des Riesen hier hervorgehoben wird, hat durchaus einen unterhaltenden Charakter. Eben diesen Charakter hat auch die nächste Eigenschaft, die hier angeführt werden soll. Mehrmals wird im Verlauf der Erzählung der Hunger des Heiden erwähnt. Wie auf seine Größe, wird auch auf den Hunger bereits früh eingegangen. Seine Bedürfnisse seien als Kind so groß, dass er trotz zehn Ammen immer noch nach mehr weinen würde (A 167f.). Kommt dem Riesen dann im Verlauf seiner späteren Suchreise Nahrung zu, wird diese sehr schnell und in großen Mengen verzehrt (A 409; 741–43).

Offorus werden zusammenfassend also geläufige Eigenschaften eines Riesen[15] zugeschrieben: die Größe, die Stärke und auch der übermäßige Hunger, der in diesem Fall einen unterhaltenden Faktor mit in die Erzählung einbringt. Die Frage, die im Folgenden behandelt werden soll, ist, was für eine Funktion dieser nun herausgearbeiteten Riesenhaftigkeit, die im Mittelalter für gewöhnlich mit negativen, monströsen Assoziationen verbunden war,[16] im Kontext einer Heiligenlegende zukommt.

Die Funktion der Riesenhaftigkeit in der Heiligenlegende

Für diesen Teil der Untersuchung lohnt es sich, zunächst einen Blick auf die Wirkung zu werfen, die Offorus‘ Erscheinung auf andere Personen hat. Der Riese kann durchaus eine angsteinflößende Wirkung auf andere haben. Hier sei das erste Zusammentreffen mit anderen Personen auf der Suchreise genannt. Nachdem Offorus den Hof seines Vaters mit der Intention, den höchsten Herrn zu finden, verlassen hat und eine längere Zeit umhergeirrt ist, trifft er auf eine Gruppe von Jägern. Als diese ihn sehen, erschrecken sie sich zutiefst, da sie noch nie einen so großen Mann gesehen haben. Ihre erste Reaktion ist es folglich, vor ihm zu fliehen (A 444–49). Einer der Jäger ist dann aus Todesfurcht doch bereit dazu, Offorus zu verraten, wer sein Herr ist (A 456–58). Auch eben dieser adelige Herr fürchtet sich zunächst vor dem Riesen, bis dieser ihm seine Intentionen darlegt (A 498f.).

Neben diesen Reaktionen auf den Riesen geht von anderen Personen Bewunderung über seine Stärke aus. Die Ritter aus dem Heer seines Vaters zum Beispiel verkünden ausdrücklich, dass sie hinter Offorus und seiner Stärke stünden (A 272–74) und vor allem der Vater selbst möchte seinem Sohn keinen urlaub (A 307) geben, weil er nicht auf die Stärke des Riesen in seinem Heer verzichten will (A 310–16). Die außergewöhnliche Erscheinung des Heiden löst also nicht nur negative Reaktionen bei seinen Mitmenschen aus, sondern kann auch als Vorteil angesehen werden. Gerade der eben erwähnten Stärke kommt in dieser Legende ohnehin eine entscheidende Funktion zu.

Sie ist der Grund, weshalb Offorus sich entscheidet, auf die Suche nach dem höchsten Herrn zu gehen. Nachdem der Vater seinen Sohn mit seinem Ritterheer vertraut gemacht hat, welches er zukünftig anleiten soll, gerät Offorus ins Denken. In einem Monolog kommt er zu der Schlussfolgerung, dass seine Stärke am Hof seines Vaters verschwendet sei (A 243–45) und erst dann entscheidet er sich dazu, eben diese Kraft dem höchsten Herrn zu leihen (A 247–50) und sich auf die Suche nach eben diesem zu begeben (A 253–55). Die Riesenhaftigkeit wird auf diesem Wege als bedeutender Aspekt mit in die Heiligenlegende eingebunden. Wie genau dies geschieht, soll abschließend erörtert werden.

Bereits die Geburt des Offorus ist eine Erhörung des Gebetes der kinderlosen, heidnischen Herrin, welches sie in ihrer Verzweiflung an die Jungfrau Maria gerichtet hat (A 110–13). Relativ früh folgt dann im Text die erste Erwähnung des Plans Gottes, den Heiden zu seinem Diener zu machen (A 178–81). Wenig später wird deutlich hervorgehoben, was genau Gottes Plan mit Offorus ist: „also het in got vberladen / mit chreften, da mit er hernach / dient got vil manigen tag.“ (A 198–200). Die übermäßige Stärke, die der Riese besitzt, ist ihm also von Gott gegeben, welcher sie für sich nutzen will.
Nachdem Offorus erkennt, dass er seine Stärke dem höchsten Herrn leihen sollte, nutzt er diese zwar zunächst für einen adeligen Herrn und dann für den Teufel, doch auch der Einsiedler, auf den er zuletzt trifft und der als Wegweiser auf dem Weg zu Christus dient,[17] bietet ihm einen Dienst an, bei dem seine Größe und seine Stärke zur Geltung kommen: Offorus nutzt diese nämlich, um Arme über einen breiten, starken Fluss zu tragen (A 829–44). In diesem Dienst kommt ihm seine Riesenhaftigkeit als Vorteil zu; so folgt ein Abschnitt, in dem beschrieben wird, wie er gleich acht Wanderer auf einmal über den Fluss trägt (A 906–11). Durch seine übermäßige Stärke, die bis zu diesem Punkt des Gedichtes stark hervorgehoben wurde, wirkt dann auch der Moment prägnanter, auf den die Legende zuläuft. Christus, der dem Riesen dann nämlich in der Form eines Kindes erscheint (ab A 955), ist die erste und einzige Person, die der Riese trotz seiner übermäßigen Stärke nicht über den Fluss tragen kann. Offorus erkennt ihn so als höchsten Herrn an, der ihn dann auch in seinen Dienst stellt und somit zu sich bekehrt und tauft (A 1095–1101). Die Riesenhaftigkeit des Offorus und insbesondere die damit zusammenhängende Stärke hat folglich eine zielgerichtete Funktion. Sie ist der Grund, weshalb der Heide sich entscheidet, nach dem höchsten Herrn zu suchen und sie ist es, die von Christus im Fluss übertroffen wird und den Riesen somit zu sich bekehrt. Die Riesenhaftigkeit des Offorus trägt also durchaus dazu bei, dass er zum Christophorus, zum bekannten Christusträger, wird (A 1106–08).

Fazit – Die Riesenhaftigkeit als Gottes Plan

Die Legende des Heiligen Christophorus wird in dem mittelhochdeutschen Gedicht Christophorus A mit dem Topos der Riesenhaftigkeit verbunden. Die Eigenschaften, die dem Heiden Offorus zugeschrieben werden, entsprechen, wie im zweiten Abschnitt dargestellt, gängigen Mustern. So ist der Riese beispielsweise häufig hungrig und der erste Eindruck auf andere ist mehrmalig ein angsteinflößender. Diese Aspekte bringen einen unterhaltenden Faktor mit in das Gedicht. Die Riesenhaftigkeit wird, wie im dritten Teil erörtert, jedoch nicht als eine negative, monströse Eigenart dargestellt. Sie wird, im Gegenteil, mit in die Hagiografie dieser Legende eingebunden. Sie fungiert demnach als ein von Gott gegebenes Merkmal, welches zu der göttlichen Vorbestimmung des Offorus beiträgt, ein Heiliger und ein Diener Christi zu werden. Die Hervorhebung der Riesenhaftigkeit in dieser Dichtung findet also nicht unbedingt nur statt, um einen unterhaltenden Aspekt mit hineinzubringen, sondern wird zielorientiert mit in die Legende des Heiligen eingebaut, indem sie als Plan Gottes inszeniert wird, welchem Offorus zu Anfang zwar unwissend folgt, der sich aber schließlich erfüllt und ihn zu dem Heiligen macht, als der er bis heute bekannt ist.


[1]    Vgl. Hammer, Andreas: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 1–3.

[2]    Vgl. ebd., S. 11f.

[3]    Vgl. ebd., S. 12.

[4]    Vgl. ebd., S. 19.

[5]    Vgl. Dörrich, Corinna: Konfigurationen des Weges in der Christophorus-Legende. In: ZfdPh 132 (2013), S. 353–382 (hier S. 355); vgl. für eine übersichtliche Darstellung der Entwicklung der Legende außerdem: Szövérffy, Joseph: Christophorus hl. Legende und Kult. In: LexMA 2. München/Zürich: Artemis 1983, Sp. 1938–1940.

[6]     Die bekanntesten Überlieferungen sind wohl die Versionen im Passional, in der Legenda Aurea sowie die drei davon unabhängigen mittelhochdeutschen Gedichte Christophorus A, B und C, vgl. für eine umfassende Darstellung die Studie von: Rosenfeld, Hans-Friedrich: Der Hl. Christophorus. Seine Verehrung und seine Legende. Eine Untersuchung zur Kultgeographie und Legendenbildung des Mittelalters. Leipzig: Harrassowitz 1937.

[7]    Diese Stationen fallen je nach Version unterschiedlich aus.

[8]    Vgl. Rosenfeld: Der Hl. Christophorus, S. 7–9.

[9]    Zit. nach Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 19. Nach ihm sei die Untersuchung der eigentümlichen Charakteristika von Heiligenlegenden ein wichtiger Teil der methodischen Herangehensweise an eben diese Texte.

[10]   Das Gedicht, dessen Autor unbekannt ist, wird im Folgenden verwendet und zitiert nach der edierten Fassung: Sanct Christophorus, hrsg. v. A. E. Schönbach. In: ZfdA 17 (1874), S. 85–141. Abgekürzt wird es für diese Arbeit mit der Sigle „A“.

[11]   In dem mhd. Gedicht Christophorus A wird der Riese, anders als in anderen Überlieferungen, als Offorus, nicht Offerus betitelt.

[12]   Für einen grundlegenden Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Gedichte vgl. Rosenfeld: Der Hl. Christophorus, hier insbes. Kapitel 5.

[13]   Rosenfeld, Hans-Friedrich: Christophorus. In: VL 1. Berlin/New York: de Gruyter 1978, Sp. 1230–1234 (hier Sp. 1232–33).

[14]   Zit. nach Dörrich: Konfigurationen, S. 367.

[15]   Vgl. Dörrich: Konfigurationen, S. 367.

[16]   Vgl. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier: WVT 2013, S. 4–6.

[17]   Vgl. Dörrich: Konfigurationen, S. 378.

„Das christliche Monster“ – Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen

Melusine im Bad. In: Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe [1587]. Stuttgart: Reclam-Verlag 2014, S. 3.

„Halb zog sie ihn, halb sank er hin“1

Vielen ist die Sage der übernatürlich schönen Frau bekannt, die aus dem Wasser steigt, um ihr Opfer in die Fluten zu ziehen. Das Thema hat in vielen Adaptionen Anwendung gefunden und ist auch aus modernen Unterhaltungsfilmen kaum wegzudenken. Ob es sich nun um die Wasserfrau in Goethes Fischer handelt, um Heines Lore-Ley oder um die Sirenen in Homers Odyssee – stets wird von weiblichen Mischwesen berichtet, die lieblich anzuschauen sind, meist wunderschön singen und mit ihren todbringenden Reizen Menschen in die Tiefen des Wassers locken.2

Die Melusine ist ein Halbwesen aus Mensch und Wasserschlange. Jeden Samstag verwandelt sich ihr Körper von der Taille hinab in einen Schlangenschwanz. Währenddessen darf sie von niemandem gesehen werden, sonst geschieht großes Unglück. Die Geschichte von der Schlangenfrau reicht weit zurück. Die Melusine diente historisch-genealogisch als Ahnherrin des Adelsgeschlechtes Lusignan aus Poitou3 in Frankreich.4

Monster im Mittelalter

In der mittelalterlichen Gelehrtenwelt herrschen unterschiedliche Auffassungen über die Definition von Monstern, die zum großen Teil aus der Antike übernommen wurden. Meist handelt es sich um Wesen, die von der allgemeingültigen Norm abweichen und über ein destruktives Gemüt verfügen. Neben dem Einhorn, dem Drachen und dem Phoenix gibt es die sogenannten „monstra marina“. Diese bösartigen Meeresmonster sind die einzigen Wesen, die tatsächlich das Attribut „monstrum“ tragen.5 Daneben wurden häufig die Begriffe „Meerwunder“, und für Halbwesen aus Mensch und Monster die Begriffe „homines monstrosi“ oder „Hybride“ verwendet.6 Zur Herkunft und Entwicklung des Monsterbegriffes siehe den Artikel „Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs?“ von N. Dobers und „Fiktion und Realität – Die Rolle der Monster im mittelalterlichen Weltbild“ von F. Kaiser. In der allegorischen Auffassung des Mittelalters gelten darüber hinaus hässliche Monster als besonders scheußlich und abartig, da die abstoßende Äußerlichkeit die Innerlichkeit bedingen müsse.7 Ein Wesen, das von außen keinerlei Schönheit vorweisen kann, muss allegorisch gesehen auch im Inneren unschön sein: „Das häßliche Monster ist wider die göttliche Ordnung entstanden, es ist Ausdruck der Sündhaftigkeit“.8 Es verwundert also nicht, wenn besonders unglücklichen Monstern sogar der Besitz einer Seele abgesprochen wurde, denn „in der christlichen Weltanschauung bedeutet Schönheit auch göttliche Gunst“.9 Wenn die äußerliche Erscheinungsform den inneren Charakter widerspiegelt, scheint es recht verwunderlich, dass ein Adelsgeschlecht sich ausgerechnet ein Halbmonster zur Ahnin ausgewählt hat.

Die Überlieferung

Der Stoff der Melusine wurde mit den Jahren viel verändert und war besonders im französischen Sprachraum sehr beliebt. Bei der Melusine des Thüring von Ringoltingen handelt es sich um eine Adaption aus dem Französischen. Die Vorlage lieferten wahrscheinlich die Dichter Hélinand de Froidmont (um 1200), Couldrette und Jean d’Arras (beide um 1400).10 Es ist davon auszugehen, dass einige Merkmale des Halbmonsters zu Gunsten der Auftraggeber verändert wurden. Tatsächlich wird der Melusine des Thüring von Ringoltingen ein sehr religiöser Charakter zugesprochen, was im Mittelalter gerne gesehen wurde. Die Darstellung einer bewusst christlichen Melusine trug sehr wahrscheinlich zur „Verherrlichung der Familie“ bei.11 Nicola Neußel-Fischer beobachtet dazu, dass Melusine als „Ahnfrau“ in die Familiengeschichte der Lusignan eingesetzt und damit die „ursprünglich normbrechend-beängstigende Fremdheit der angeblichen Herkunft zu einem normstabilisierenden Ausweis der eigenen Erwähltheit“12 umgewandelt wurde. Dieser Artikel untersucht die Frage, ob es sich bei der Melusine um ein bewusst religiös-tugendhaftes oder eben doch ein monströses Wesen handelt, und analysiert dafür Melusines Charakterisierung insbesondere im ersten Aufeinandertreffen mit ihrem späteren Mann Reymund.

Melusines Charakterisierung

Als die junge Melusine ihren späteren Mann Reymund trifft, nennt sie ihn beim Namen und scheint auch sonst schon einiges über ihn und die Welt zu wissen. Sie kann ihm „alles […] was im widerfahren oder kuͤnfftig was“ berichten, und somit die Zukunft vorhersagen.13 Als er sie bemerkt, erschrickt er und ist nicht sicher, ob er „lebendig oder todt“, und ob das Wesen vor ihm „ein Gespenst oder ein Frauw“ ist.14 Melusine wird beschrieben als von „Hochgeboren unnd Adelicher gestalt“ mit einem „schoͤn Angesicht von Leib und Gestalt wol gezieret und zuͤchtig.15 Diese Beschreibung klingt alles andere als monströs. Die Frau scheint ein sehr vorteilhaftes Aussehen zu besitzen, ja sie ist so gottgefällig, dass Reymund seine Zurückhaltung vergisst, als sie von Gott zu sprechen beginnt, denn „alle Artickel Christliches Glaubens kundt sie ihm gar ordenlich erzelen“.16 Sie glaubt an die „huͤlff Gottes der alle ding vermag17 und gewinnt sein Herz mit ihrer religiösen Aufrichtigkeit: „Da nun Reymund hoͤret daß sie von Gott saget da gewan er einen besondern Trost18, und der junge Mann denkt bei sich: „Nun mag ich etwas Trost haben daß die Jungfrauw kein Gespenst noch keines Unglaubens sonern von Christlichem Blut kommen“.19 Die scheinbar perfekte Dame bietet Reymund eine Allianz an: Sie heiratet ihn und ihm wird es zukünftig an nichts fehlen („so sol dir Gut, Ehr, Gluͤcks unnd Gelts nimmermehr gebresten“),20 wenn er ihr den Eid leistet, sie an keinem einzigen Samstag von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang aufzusuchen oder sich nach ihr zu erkundigen: „Reymund du solt mir zum ersten schweren […] daß du mich zu einem Ehelichen Gemahel nemmen und an keinem Sambstag mir nimmer nachfragen noch mich ersuchen woͤllest weder durch dich selbs noch jemand anderem […], noch dich lassen darauff weisen daß du mich denn immer ersuchst wo ich sey was ich thu oder schaff sondern mich den gantzen Tag unbekuͤmmert lassen woͤllest.21

Dies ist das Motiv der sogenannten Mahrtenehe, in der sich ein übernatürliches Wesen mit einem Menschen verbindet.22 Melusine bietet Reymund ihre Liebe von sich aus an. Ihr Wille zur Ehe ist ein zusätzlich religiöses Motiv, doch versuchen viele Mahrten (mhd. „mâra“, vgl. engl. „nightmare“) durch eine Verbindung zum Menschen die Seele zu erlangen, die sie von sich aus nicht haben.23 Viele Mahrtenehen unterliegen einem Tabu. So ein Tabu kann zum Beispiel sein, dass der Mensch das übernatürliche Wesen zu einer bestimmten Zeit nicht sehen darf, keine Fragen stellen oder die Kammer des Wesens niemals betreten darf. Melusine verbietet Reymund, sie am Samstag zu sehen und er verspricht es ihr. Doch wenn er sein geluͤbd jemals brechen sollte, würden die ganze Familie, das Land und die Leute großen kummer gewinnen und all der empfangene Segen würde sich in Unheil verwandeln.24 Reymund leistet seinen Schwur und die Ehe verläuft gut. Dem Paar fehlt es an nichts und Melusine gebärt zehn gesunde Söhne, die jedoch alle eine gewisse Abnormität aufweisen. Der eine hat einen Eberzahn, der andere hat nur ein Auge in der Stirnmitte und wieder einer trägt ein Muttermal in Form einer Löwenpranke auf der einen Wange. Die Knaben entwickeln sich dennoch zunächst zu gutherzigen Männern,25 bis es zum Wendepunkt der Geschichte, dem Tabubruch Reymunds, kommt, denn fast immer sind Mahrtenehen zum Scheitern verurteilt.26 Nur ein Mal fragt Reymund nach der Herkunft der Melusine, doch sie antwortet: „Du kanst noch magest meinen Standt noch Wesen nicht eygentlich erkennen“.27

Melusine wird im Text als eine durch und durch christliche, gutartige und fromme Frau beschrieben. Sie äußert ihr unumstößliches Gottvertrauen in Anmerkungen wie, dass Gott sie schon mit allem Nötigen versorgen werde,28 baut ein Kloster „Mutter Gottes zu Ehren29 und dankt dem Herrn „von Hertzen und Mund“ dafür, dass er ihr so „groß gluͤck zugefuͤget hatt“.30 Leider währt das Glück nicht lange, da Reymund sein Versprechen nicht halten kann und an Melusine den Tabubruch begeht. Als sein Bruder ihm das Geschwätz im Volk weismacht („etlich die meynen sie treibe buͤberey“),31 packt ihn der Zorn und er schlägt ein Loch in die Tür, hinter der Melusine sich verbirgt, und entdeckt ihr Geheimnis.

Melusines Monstergestalt beginnt ab dem Nabel abwärts. Dort befindet sich anstelle von einem menschlichen Unterleib ein langer, „ungehewrer Wurmschwantz“ aus „blaw Lasur“ und „Silberfarb trpoͤfflich unter einander gesprengt“.32 Melusine ist ein Mischwesen aus Mensch und monströser Schlange. Der Verrat von Reymund trifft sie hart, denn er ruft vor Zeugen aus: „O du boͤse Schlang und schendtlicher Wurm der Samen noch all dein Geschlecht thut nimmer gut“,33 und beschimpft sie und ihre Herkunft und damit die gemeinsame Vergangenheit und ihre Kinder. In ihrer folgenden Klage erzählt Melusine, dass sie durch die Liebe Reymunds hätte gerettet werden können. Wenn er seinen Schwur nicht gebrochen hätte, hätte sie als normale Frau sterben können und ihre Seele wäre befreit gewesen: „hettest du mir dein Geluͤbd gehalten […] so were ich bey dir blieben […] unnd wer natuͤrlich gestorben […] nun so muß mein Leib unnd Seel zu dieser stund hie in leyden unnd pein bleiben biß an den Juͤngsten Tag“.34 Doch so könne er sie nie wieder in weiblicher Form sehen und all sein Glück und seine Seligkeit, Freude und Ehre müssten nun ein Ende haben.35 Daraufhin stürzt sie sich aus dem Fenster und fliegt drei Mal mit lauten Schrei um das Schloss herum.

„Rasse“ und Religion

Neußel-Fischer stellt in ihrer Untersuchung zur „Rasse“ in der Melusine fest, dass die Erzählung Melusine nicht explizit als Meerwunder kategorisiert, sondern lediglich davon berichtet, dass sie in eines verwandelt werde.36 Neußel-Fischer sieht Melusine im „Spannungsfeld der Kategorien“37 von Mensch und Monster und stellt darüber hinaus eine „Verschränkung von Religion und Rasse“38 fest, denn offensichtlich bedingt in der Erzählung die Religion die urtümlich monströse Herkunft oder kann sie zumindest beschwichtigen.39Heiden und Christen werden stark getrennt und es ist sogar die Rede vom christlichen Recht in Kämpfen gegen die Ungläubigen.40 Die Frage nach einer Trennbarkeit von Religion und „Rasse“ steht damit direkt im Raum und ist besonders gut an der einzigen Stelle der Erzählung nachzuvollziehen, in der von einem echten Monster berichtet wird: Ein Sohn von Melusine will einen schreckenerregenden Riesen töten und wird das laut Erzähler durch die „Barmhertzigkeit“ und „huͤlffe Gottes“ auch schaffen.41 Den Riesen werden sämtliche positive Attribute aberkannt, und jemand berichtet, „daß er kein Mensch sey sonder ein grauwsamlicher Teuffel.“42 Die Ermordung von Riesen ist damit gerechtfertigt und Melusine und ihre Nachkommenschaft von Halbwesen werden ganz klar von den wahren Monstern getrennt. (Ein Riese ist ironischerweise der einzige, der den Sohn wegen seines anormalen Aussehens – Eberzahn – verspottet.) An späterer Stelle wird das Geheimnis um Melusines Herkunft gelüftet. Auch ihrer Mutter und ihren Schwestern wurden Bedingungen einer Mahrtenehe auferlegt, die ihre Männer nicht halten konnten. Das eröffnet eine genealogische Thematik, die auch Melusines Nachkommen erfasst, denn obwohl die Söhne ein merkwürdiges Äußeres besitzen, gleicht ihr Verhalten zunächst dem herkömmlicher Helden, allerdings nur so lange, bis der Vater Reymund den geleisteten Schwur an seiner Ehefrau bricht. Ab diesem Zeitpunkt schlagen sämtliche Söhne in die Monstrosität um, und begehen große Schandtaten und Sünden. Diese genealogische Thematik kann im Artikel „Monströse Genealogie in der Melusine bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller nachgelesen werden.

Tugenden und Sünden

Das Mittelalter ist durchzogen von christlichen Weltbildern und Werten. Das Gute und Schöne wird meist mit christlicher Reinheit erklärt. So wird auch die Ahnherrin Melusine, wie oben gezeigt, als besonders christlich und tugendhaft dargestellt. Die Sieben Tugenden des Mittelalters sind Demut, Mildtätigkeit, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Wohlwollen und Fleiß. Das Gegenteil – also die Untugenden (besser bekannt als die Sieben Todsünden) – sind Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit.43 Melusine erfüllt bei Thüring von Ringoltingen sehr viele Tugenden. Sie gibt sich demütig ihrem Glauben hin und ist eine keusche juncvrouwe. Selbst nach dem schrecklichen Verrat und der Enthüllung des Schlangenwesens bleibt Melusine eine christliche Frau. Sie wird trotz ihres monströsen Geheimnisses als „die Tugendreiche und darzu die Hochgeborne44 beschrieben und bietet in ihrer langen Klage trotz aller Enttäuschung gegenüber Reymund und Aussicht auf ewige „Verfluchtheit“ immernoch ihren Trost an: „du solt auch von mir noch viel trosts unnd huͤlff zu gewarten seyn.“45 In tiefster Nacht sucht sie noch ihre beiden jüngsten Kinder auf, um sie an die Brust zu legen: „Melusina kam in die Kammer darinn die Kindt lagen und hube eines nach dem andern auff […] unnd wermet sie gegen dem Feuwer und seugt sie lieblich. Diß sahen die Ammen gar oft.46 Dieser Akt der Liebe macht das wahre Wesen der Melusine deutlich und kehrt die Erzählung vom schreckenerregenden Halbmonster spätestens jetzt in eine tragische Geschichte über eine verfluchte Frau um. Dies erklärt auch die sehr positive Darstellung der sonst eher negativ konnotierten Mahrtenehen.47 Die Sieben Todsünden finden in der Erzählung hingegen keinen großen Platz. Es können höchstens Reymund seine unbeständige Geduld und sein mangelndes Vertrauen vorgeworfen werden. Die Todsünde, die tatsächlich erwähnt wird, ist der Zorn der Söhne nach dem Tabubruch (s. dazu den Artikel über die monströse Genealogie).

Conclusio: Das christliche Monster

Melusine ist eine Frau mit christlichen Werten. Sie erfüllt wichtige christliche Tugenden, ist hilfsbereit, kümmert sich aufopferungsvoll um ihre Kinder und vergibt ihrem Mann selbst den so verheerenden Tabubruch. Nur am Samstag tritt ihr monströses Potenzial zutage, jedoch nur passiv, denn sie verliert niemals die Beherrschung und verletzt niemanden. Melusine ist zwar eine ambivalente Figur, jedoch hat sie sich aktiv für die tugendhafte Seite entschieden und lebt konsequent danach. Leider konnte sie von ihrem Dasein als Halbwesen nicht erlöst werden. Ihre Geschichte hat nichtsdestotrotz die Jahrhunderte erfolgreich überdauert und kann auch heute noch zugleich abstoßend und faszinierend wirken.