Cundrîes Bruder Malcreatiure in Wolframs Parzival

Im Vergleich zu seiner Schwester Cundrîe ist ihr Bruder Malcreatiure in Wolframs Parzival lediglich eine Randfigur und hat nur kurze Auftritte im sechsten und im zehnten Buch des Parzival. Trotz der geringen Ausgestaltung hat die Figur Malcreatiure eine ähnliche erzählerische Funktion wie seine Schwester Cundrîe. Beide überbringen mahnende Botschaften und verbinden durch ihr Auftreten die Artuswelt mit der Welt des Übernatürlichen, wenn auch in recht unterschiedlicher Ausprägung. In dieser Funktion spielt auch die Monstrosität der Geschwister eine enorme Rolle, die Malcreatiure wie ein Etikett in seinem Namen trägt. Da zu Malcreatiure insgesamt nur wenige individuelle Angaben gemacht werden, kann auf diese Figur nur im Abgleich mit seiner Schwester näher eingegangen werden. Erzählerisch wie auch konzeptionell ist Malcreatiure daher eher als eine Erweiterung Cundrîes anzusehen, die sich aus der gemeinsamen Herkunft und Abstammungsgeschichte ergibt. In diesem Zusammenhang soll daher genauer auf den genealogischen Ursprung der Geschwister und ihres Volkes eingegangen werden, der auf dem Motiv der Adamstöchter beruht.

„…der knape fiere…“: Monstrosität als Etikett

Anders als seine Schwester Cundrîe, die im gesamten Parzival Erwähnung findet und textlich deutlich größeren Raum einnimmt, ist Malcreatiure als Einzelfigur lediglich in der Gâwân-Handlung anzutreffen. Im X. Buch des Versromans hört der auf der Suche nach dem Gral umherziehende Gâwân durch einen verletzten Ritter von der Schönheit der Königin Orgelûse de Lôgroys. Er reitet darauf hin zu ihr, um sie um ihre Minne zu bitten. Orgelûse behandelt Gâwân abschätzig und fordernd, dennoch reitet sie gemeinsam mit ihm los, um den verletzten Ritter mit Kräutern zu behandeln. Unterwegs werden sie von Orgelûses Knappen Malcreatiure eingeholt, der ihnen eilig hinterherreitet, um eine Botschaft zu überbringen.

Anders als beim warnenden Auftritt der Gralsbotin Cundrîe im VI. Buch verzichtet Wolfram von Eschenbach auf eine detaillierte Beschreibung des Aussehens. Malcreatiures Erscheinung wird nicht etwa erzählerisch ausgedehnt durch Merkmale und Eigenschaften eingeführt, sondern prompt alsungehuire“ bezeichnet.[1] Diese direkte Einordung ins Monströse wird durch seinen sprechenden Namen unterstützt, der sich etwa mit „schlechtes Geschöpf“[2] übersetzten lässt. Während die Schwester erzählerisch enthüllt[3] wird, beschränkt sich die Beschreibung von Malcreatiures Äußerem, lediglich auf einen kurzen Vergleich mit Cundrîe:

„Cundrîe la surziere
was sîn swester wol getân:
er muose ir antlütze hân
gar, wan daz er was ein man.
Im stuont ouch ietwider uan
Al einem ever wilde,
unglîch menschen bilde. (Pz 517: 18-24)

Anders als bei Cundrîe, deren raffinierte Aufmachung bereits Grundlage von Forschungsarbeitenwurde,[4] wird auf Malcreatiures Bekleidung oder Ausrüstungsgegenstände nicht eingegangen.  Lediglich die Haarlänge wird in Abgrenzung zu seiner Schwester beschrieben: „im was det hâr ouch niht sô lanc /als ez Cundrien ûf den mûl dort swanc: / kurz, scharf als igels hût es was.“ (Pz 517: 25-28).  Cundrîes langer Zopf, abgesehen von davon, dass er sehr lang und borstig wie „eins swînes rückehâr“ (Pz 313: 20) ist, ist das einzige Merkmal, das sie von ihrem Bruder unterscheidet. Während Cundrîe durch ihre Kleidung eindeutig als weiblich charakterisiert wird, fehlen im Falle von Malcreatiure, abgesehen von seiner Haarlänge, sämtliche weitere Männlichkeitsattribute.

Malcreatiures Igelhaare dienen noch einem weiteren Zweck: Als Gâwân ihn aufgrund seiner Beschimpfung erzürnt bei den Haaren packt und ihn zu Boden wirft, verletzt sich der Gralsritter daran die Hand, dass „diu wart von bluote al rôt erkant“ (Pz 521:14). Malcreatiures Haarpracht ist in ihrer Funktion daher anders anzusehen als die seiner Schwester. Während Cundrîes Haar überwiegend dekorativ erscheint, sind Malcreatirues Borsten auch ein Mittel der Verteidigung. Obwohl das Geschwisterpaar zuvor als „wunderlîch menesch“ eingeordnet wird, so wirkt die ganze Person durch sein Haar „igelmaezec“ und animalisch (Pz.521: 13). Besonders im Vergleich zur distinguierten Schwester, erscheint Malcreatiure dadurch weniger menschlich und seine tierischen Komponenten werden stark betont. Auch wenn Cundrîe ebenfalls tierische Züge aufweist, werden diese durch innere Schönheit ausbalanciert. Hierzu trägt auch bei, dass über Malcreatiures Bildungstand, anders als über Cundrîe, keine Aussagen getroffen werden, es wird lediglich deutlich, dass er die höfische Sprache beherrscht. Entsprechend geringer fällt auch der Kontrast zwischen äußerer Hässlichkeit und innerer Schönheit aus, da hierüber nur wenige Angaben vorhanden ist. Malcreatiure, ebenso wie Cundrîe, wird trotz seiner Monstrosität ein positives Inneres bescheinigt. So bezeichnet ihn Wolfram zwar ironisch als „knape fiere“, attestiert ihm im Gegenzug aber auch „wîs unde wert“ zu sein, auch sein Beiname „clâr“, unterstreicht zusätzlich Malcreatiures positive innere Disposition[5] (Pz 517: 18, 521: 10, 519: 22).

Der kleine Unterschied: Herkunft und Genealogie

Cundrîe und Malcreatiure gelangen als Geschenke der indischen Königin Secundille an den Gralskönig Anfortas. Die märchenhaft reiche Königin, in deren Land „gebirge guldîn“ stehen und „für den griez edel gesteine“ in den Flüssen liegen, schenkte Anfortas die Geschwister als „kleinoete“ um seine Gunst zu gewinnen. Anfortas behielt Cundrîe bei sich am Gralshof, während er Malcreatiure, „disen knappen kurtoys“ an seine frühere Geliebte Orgelûse de Lôgroys schickte (Pz 519: 18, 21,30). Obwohl die Geschwister als das Wertvollste unter den Geschenken Secundilles geführt werden, sind weder Cundrîe noch ihr Bruder einzigartige Wunderwesen, vielmehr gibt es in Secundilles Reich, „bî dem wazzer Ganjas/ ime lant ze Trîbalibôt […]“ Menschen ähnlichen Phänotyps häufiger: „der liute vil/ mit verkêrtem antlützes zil:/ si triuogen vremediu wilden mal“ (Pz 519: 8,9). Als Grund für die Missgestalt wird der verbotene Konsum bestimmter Kräuter während der Schwangerschaft genannt, auf die einige der Töchter Adams aufgrund ihrer weiblichen Gier und ihres schwachen Fleisches nicht verzichten konnten (Vgl. Pz 518:10-30). Auch wenn die Geschwister dieselbe Genealogie teilen, ist bei der weiteren Ausführung nur noch von Malcreatiure die Rede „Von wibes gir ein underscheit/ in schiet von der menescheit./ der würze unt der sterne mâc“ (Pz 520: 1-3). Diese Aussonderung Malcreatiures bedeutet nicht nur einen verwandtschaftlichen Bruch mit seiner Schwester, sondern geht darüber noch hinaus. „Malcreatiures anthropologischer Status wird damit als grenzwertig dargestellt, noch deutlicher als Cundrîe verweist er als hybride Figur auf die Existenz eines Zwischenbereichs von Mensch und Tier.“[6] Die Hässlichkeit der Geschwister als Resultat eines zweiten Sündenfalls, rückt sie jedoch heilsgeschichtlich wieder stärker an die grundsätzlich sündhaften Menschen, die diesen die eigenen Verfehlungen als Spiegel vorhalten.[7]

Botschafter und Grenzgänger

Während Cundrîes Hybridität das Mittel zu sein scheint, dass sie zum freien Wechsel zwischen der Artuswelt und der Gralswelt befähigt, bleibt Malcreatiure gänzlich in der Artuswelt verhaftet. Im Gegensatz zu Cundrîe, die den Beinamen la surziere trägt, werden Malcreatiure keine magischen Fähigkeiten zugeschrieben.  Trotz seines Äußeren und seiner Herkunft verdingt er sich in der weltlichen Funktion eines Knappen, die mit einer sozialen Stellung einhergeht. Trotz seines festen Platzes in der Gesellschaft erfüllt er wie seine Schwester eine Botenfunktion. Sein Auftritt als Bote ist trotz seines Aussehens jedoch keineswegs wundersam. Während Cundrîes Auftritt die gesamte Artusgesellschaft in Staunen und Erschrecken versetzt, ist das Zusammentreffen mit Gâwân weit weniger furios und entbehrt auch nicht einer gewissen Komik:

Malcrêatiur kom geritn
ûf eime runzide kranc,
das von leme an allen vieren hanc.
es strûchte dicke ûf d’erde. (Pz 520: 6-9)

Gleichzeitig wird mit dem Zustand des Pferdes noch eine weitere Komponente hinzugefügt:

frou Jeschût diu werde
iedoch ein besser pfärt reit
des tages dô Prazivâl erstreit a Orilus die hulde:
die vlôs se an alle ir schulde (Pz 520: 9-14)

Das lahme Pferd ist eine Form der Ächtung und Bestrafung. Wie Jeschûte ist auch Malcreatiure keines Verbrechens schuldig und trotzdem ein durch den Sündenfall seiner Ahninnen Ausgestoßener und durch sein Reittier als solcher markiert. Später wird klar, dass Malcreatiure das Pferd auf dem Weg einem Bauern abgenommen hat. Der mangelnde Zugang zu einem besseren Reittier unterstreicht daher seinen niedrigen sozialen Status in der höfischen Gesellschaft.

Anders als bei seiner Schwester verläuft auch die Überbringung seiner Botschaft. Bei Cundrîe ist diese verbunden mit einem großen Auftritt und geprägt von Verzweiflung und großer Traurigkeit. Ihre deutliche Ausdrucksweise, in Kontrast zu ihrer hohen Bildung und ihres außergewöhnlichen Status verfehlt ihre Wirkung nicht. In Malcreatiures Fall allerdings gerät die Botschaft an Gâwân zur wüsten Beschimpfung mit der Androhung von Prügel:

„her, sît ir von rîters art,
sô möht irz gerne han bewart:
ir dunket mich ein tumber man,
daz ir mîne frouwen füeret dan:
och wert irs underwîset,
daz man iuch drumbe prîset
op sichs erwert iwer hant.
sît ab ir ein sarjant,
sô wer ir gâlunt mit stabn,
daz irs gern wandel möhtet haben“ (Pz 520: 17-26)

Erstaunlich ist hier, dass Malcreatiure trotz seiner schwächlichen Aufstellung und niedrigeren Stellung als Knappe den Mut zur Ritterbeschimpfung aufbringt und Gâwâns vermeintliches Fehlverhalten kritisiert und seine Herrin zu beschützen versucht. Ohnehin scheint Orgelûse ein besonderes Verhältnis zu ihrem treu ergeben Knappen zu haben. Malcreatiure folgt seiner Herrin sogar später zu Fuß nach. Er verlässt sie erst, nachdem Orgelûse mit ihm „heidenisch“ spricht (Pz. 529: 20).

Trotz der rüden Beschimpfung und seines monströsen Aussehens wird Malcreatiure an keiner Stelle als bedrohlich oder kämpferisch charakterisiert, zumal er auch keine Waffen trägt. Gâwân reagiert daher auch nicht mit Waffengewalt auf seine Beschimpfung, sondern wirft ihn mit bloßen Händen unters Pferd. Auch wenn er sich dabei verletzt, so ist der Konflikt schnell beigelegt und das Ungeheuer Malcreatiure wird durch Gâwân unproblematisch besiegt. Malcreatiures Schmähkritik ist jedoch nicht nur als akute Herausforderung, sondern sowohl als Warnung vor den kommenden Prüfungen als auch als eine Ermahnung zu verstehen, ritterliches Verhalten aufrecht zu erhalten.

Auch wenn unklar bleibt, wessen Botschaft Malcreatiure tatsächlich überbringt, so markiert sein Auftritt auch den Übergang in die verzauberte Welt des Schastel marveil, deren Befreiung durch Gâwân als das weltliche Gegenstück zu Parzivals Gralssuche einzuordnen ist.[8] Auch wenn Malcreatiure die Grenze nicht selbst übertritt, so gibt er doch eine Vorahnung darauf, was auf Gâwân in seiner âventiure bevorsteht, ähnlich wie seine Schwester Parzival den Weg weist.[9] Während der Weg zur Gralsherrschaft für Parzival entbehrungsreich und schwierig ist, meistert Gâwân die weltlichen Herausforderungen recht mühelos und mit vorbildlicher Ritterlichkeit, ebenso wie er das Ungeheuer Malcreatiure mit leichter Hand niederringt.

Malcreatiure lässt sich konzeptionell und erzählerisch nicht von der Figur der Cundrîe lösen. Die genauere Betrachtung hat indes gezeigt, dass er nicht nur als Anlass dient, Cundrîes Herkunft und die Gründe ihrer Missgestalt zu klären. Vielmehr repräsentiert er das weltliche und animalischere Gegenstück seiner Schwester, die beinahe engelhafte Züge[10] trägt. Er ergänzt die mythisch und symbolisch stark aufgeladene Figur der Cundrîe durch bodenständige Borstigkeit, die eine gewisse Komik nicht entbehrt. Dadurch werden in Wolframs Parzival nicht nur die Gâwân- und Parzival-Handlungen miteinander verknüpft, sondern auch die Begegnung mit dem Monströsen erhält hierdurch zwei unterschiedliche Ausgestaltungsdimensionen.

 


 

[1] W. von Eschenbach, B. Schirok, P. Knecht: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Mit Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation 2012, V. 517,20, im Folgenden unter der Sigle Pz direkt im Text zitiert.

[2] Aus dem Französischen mal=schlecht,aussätzig, sowie creatiure, aus dem Lat.= Kreatur, Geschöpf. Zur Mittelalterlichen Bedeutung vergleiche auch: Lexer Matthias: Nachträge zum Mittelhochdeutschen Handwörterbuch, http://www.woerterbuchnetz.de/NLexer?lemma=malat, letzter Zugriff: 28.09.2018.

[3] Vgl. Pappas, Katherine. In: U. Müller, W. Wunderlich (Hrsg.): Verführer, Schurken, Magier, Mittelaltermythen: 3, St. Gallen, Switzerland 2001 In: U. Müller, W. Wunderlich (Hrsg.): Verführer, Schurken, Magier, Mittelaltermythen: 3, St. Gallen, Switzerland 2001, hier S. 158

[4] Ebenda.

[5] Zur Lichtmetaphorik und Schönheit gibt es zahlreiche Quellen. Vergleiche zur Verbindung von innerer Schönheit und Licht: Wuthe, Elisabeth: Die schönen Männer im Parzival. Eine textimmanente Untersuchung von Schönheit, Körperlichkeit, Erotik und Sexualität am Beispiel der männlichen Figuren in Wolfram von Eschenbachs Parzival, S. 43 ff.

[6] Schuler-Lang, Larissa: Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. ‚Parzival‘, ‚Busant‘ und ‚Wolfdietrich D‘ 2014, S. 178.

[7]Vgl. ebenda S. 179.

[8] Hasty, Will: A Companion to Wolfram’s Parzival 1999, vgl. S. 55.

[9] Monströse Figuren markieren traditionell Grenz- und Übergangsbereiche. Vgl. hierzu Schuler-Lang 2014, S. 179.

[10] Vgl. ebenda, S. 325.

Die Figur der Cundrîe zwischen Monster und Verführerin – Teil 2: Die fluchbeladene Verführerin bei Richard Wagner

Illustration zu Wagners „Parsifal“ (Radierung von 1894)

Von Wolfram zu Wagner

Wenn in Wagners Oper Parsifal Kundry1 im zweiten Aufzug als „jugendliches Weib von höchster Schönheit“2 auftritt, hat dieses Wesen auf den ersten Blick denkbar wenig mit einem Monstrum mittelalterlicher Weltsicht gemein und der Weg von der missgestalteten Gralsbotin, die im Parzival Wolframs von Eschenbach unter dem annähernd gleichen Namen Cundrîe den Titelhelden erst verfluchte und dann zum Gralskönig berief, hin zu dieser Femme fatale erscheint unendlich weit. Sollten also diejenigen Einschätzungen zutreffen, die in beiden Ausprägungen des Charakters „zwei völlig verschiedene Figuren“3 sehen, oder lassen sich hinter einer veränderten Fassade doch noch Gemeinsamkeiten mit dem Vorbild erkennen? Sind womöglich sogar Faktoren erhalten geblieben oder neu hinzugekommen, die monströse Eigenschaften anderer Machart verkörpern? Es sind Fragen wie diese, die im Folgenden die Betrachtung leiten sollen.

Kundry zwischen Neuschöpfung und Nachhall der Vorlagen – Äußerliche Attribute und Charakterzüge als Reste von Monstrum und Magie?

Unbestritten sind Kundrys Verführungskünste, die in Wagners dramatischer Handlung eine zentrale Bedeutung einnehmen, weshalb ein exaktes Festhalten am Erscheinungsbild der mittelalterlichen Cundrîe, das bei Wolfram noch dazu diente, die unangenehme Botschaft der Gralsbotin zu unterstreichen und einen Kontrast zur äußerlichen Schönheit Parzivals herzustellen,4 nun nicht mehr der inneren Logik des Stücks entsprochen hätte. Dennoch wird auch bei Kundry gleich bei ihrem ersten Auftritt das Element der Wildheit betont (vgl. PS S. 9), Umstehende begegnen ihr mit furchtsamer Zurückhaltung (vgl. PS S. 14) und wo bei Wolfram noch von Augen gelb wie ein Topas, langen Zähnen und veilchenblauen Lippen5 die Rede war, werden nun „stechende schwarze Augen, zuweilen wild aufblitzend“ (PS S. 9) hervorgehoben. Eingangs erwähnt der Nebentext „schwarzes, in losen Zöpfen flatterndes Haar“ (PS S. 9) und auch im dritten Aufzug, als Kundry Parsifals gewaschene Füße mit ihren „schnell aufgelösten Haaren“ (PS S. 75) trocknet, erfolgt eine Anknüpfung an den langen Zopf und die wilde Behaarung der Vorlage (vgl. PZ 313, 15-20). Indes wird offen gelassen, ob Kundry bei ihrem ersten Auftritt bereits über die betörende Schönheit verfügt, mit der sie später Parsifal entgegentritt, doch da sie im zweiten Aufzug „in durchaus verwandelter Gestalt“ (PS S. 54) erscheint, steht sogar die Möglichkeit einer Verwandlung mittels Zauber im Raum, wo sich bei Wolframs Cundrîe noch keinerlei Indiz für wirkliche Magie fand. Mit einer solchen Gabe wäre Kundry nicht mehr weit entfernt von den Kriterien für Monstra und Wilde Frauen, die – wie Habiger-Tuczay ausführt – nicht zwingend allein über Hässlichkeit definiert seien, sondern gerade mit großen erotischen Reizen ausgestattet sein können; die Sirene6 oder der Succubus seien nur zwei Beispiele für Monstra, deren besondere Merkmale gerade in außergewöhnlicher Verführungskraft lägen.7 In ihrem ersten Auftritt zu Pferde klingt die für Wilde Frauen ebenfalls relevante Nähe zu Tieren8 an und Kundry selbst wird an verschiedenen Stellen wie der Bemerkung eines Knappen „Was liegst du dort wie ein wildes Tier?“ (PS S. 13) oder Gurnemanz‘ Ausruf „So jammervoll klagt kein Wild“ (PS S. 66) wiederholt mit Tieren verglichen. Schließlich weißt Bronfen auf zahlreiche Fälle von hysterischem Geschrei oder Gelächter hin,9 wenn Kundry „unheimlich zu lachen“ (PS S. 44) beginnt, in „ekstatischeres Lachen“ (PS S. 44) und schließlich in „Wehgeschrei“ (PS S. 45) verfällt oder nach ihrer Zurückweisung durch Parsifal in Wut und Tobsucht übergeht (vgl. PS S. 63f.), was als Anzeichen einer Art innerer Monstrosität und dabei zugleich als abgewandelte Ausgestaltung von Cundrîes zorniger Verfluchung Parzivals bei Wolfram (vgl. PZ 316, 11-25) angesehen werden kann.

Ausgebaute Rolle in Handlung und Personenkonstellation

Hatte Wolframs Cundrîe als Grenzgängerin zwischen den Welten ihre scheinbare Omnipräsenz im Handlungsverlauf noch daraus gewonnen, dass sie mittels wiederholter Erwähnung durch andere Figuren wie eine stille verbindende Kraft im Hintergrund wirkte, tritt Wagners Kundry deutlich häufiger und vordergründiger auf und steht mit allen weiteren Figuren in direkter Verbindung. Gegenüber Klingsor unterliegt sie einer unheilvollen Abhängigkeit aus einem alten Fluch heraus (vgl. PS S. 41f.), während bei Wolfram nur eine mittelbare Verbindung auftrat, als Cundrîe die Ritter zur Errettung der Königinnen und Jungfrauen von Clinschors Burg Schastel marveile aufrief (vgl. PZ 318, 13-24) oder später die Königin Arnive regelmäßig mit Heilmitteln versorgte (vgl. PZ 579, 24-28). In Bezug auf Amfortas wiederum wandelt sie sich von der treuen Gralsbotin bei Wolfram zur Verantwortlichen für das Leiden des Gralskönigs bei Wagner (vgl. PS S. 58). Dieser stark vergrößerte Anteil an der Gesamthandlung liegt vor allem darin begründet, dass in Kundry eine ganze Reihe weggelassener Figuren aus Wolframs Epos zusammengeführt wurden: Von Parzivals Halbbruder Feirefîz wurde das Element der Taufe zum Ende der Handlung übernommen (vgl. PZ 817, 1-30) und vom Einsiedler Trevrizent die Überbringung der Nachricht vom Tod der Mutter (vgl. PZ 476, 12-14), die beide auf Kundry übergehen (vgl. PS S. 76 und S. 26). Vor allem aber ist die „Wagnersche Kundry […] eine Verschmelzung der Wolframschen Frauenfiguren Sigune, Cundrie und Orgelûse de Lôgroys“.10 Während von der Klausnerin Sigune, Parzivals Base, die Aufklärung über dessen Namen und Herkunft übernommen wurde (vgl. PZ 140, 1-30) und auch sie ursprünglich am Ende des Epos stirbt (PZ 804, 23), verkörpert Orgelûse jene bildschöne aber kaltherzige Verführerin, die bei Wolfram das Leiden des Gralskönigs herbeiführt und – wie später Kundry – einzig an Parzival scheitert: „mînen lîp gesach nie man, / ine möhte wol sîn sîn dienst hân; / wan einer, der truoc wâpen rôt.“11 Für Wagner selbst war es eine bahnbrechende Erkenntnis bei der Konzeption des Stückes, „dass die fabelhaft wilde Gralsbotin ein und dasselbe Wesen mit dem verführerischen Weibe des zweiten Actes sein soll[te]“,12 und obwohl die zentrale Verfluchungsszene aus Wolframs Versepos damit zwangsläufig wegfiel und nur noch in groben Zügen im Wutausbruch Kundrys nach der Zurückweisung (s.o.) anklang, setzt Giertler die Verfluchung Cundrîes mit dem Kuss Kundrys als zentralen Wendepunkt im jeweiligen Stück gleich, als „Schlüsselszene auf dem Weg zur Erkenntnis.“13

Die Geschichte hinter der Verwandlung

Zu seinem Einfall der Identität vieler ursprünglich getrennter Wesenszüge in der Figur der Kundry maßgeblich inspiriert wurde Wagner vor allem durch die Lektüre Schopenhauers und der dadurch vermittelten Lehren des Buddhismus – hieraus entstand „das leidvolle Geworfensein in die wechselnden Wiedergeburten“,14 das den Kern in Kundrys die Zeiten überdauerndem Fluch ausmacht und an frühere rastlose Gestalten wie den Fliegenden Holländer anknüpft. Schon Klingsor, der Kundry einer Beschwörung gleich bei vielerlei Namen anruft – „Ur-Teufelin! Höllen-Rose! / Herodias warst du, und was noch? / Gundryggia dort, Kundry hier“ (PS S. 39) –, zeigt die Möglichkeiten auf, die sich Wagner auf diese Weise boten, die Figur der Kundry noch weit über ihre Vorlagen hinaus mit zusätzlichen Facetten und mythologischen Hintergründen anzureichern. Als frühere Daseinsformen der zeit- und alterslosen Kundry benennt er biblische Sünder wie Herodias, die den sterbenden Jesus am Kreuz verlacht haben soll,15 spielt aber auch auf den ganz ähnlich angelegten Mythos von Ahasver an, des „Ewigen Juden, der Jesus auf seinem Leidensweg die Rast vor seiner Tür verweigerte und dafür mit ruheloser Wanderschaft gestraft wurde.“16 Indem Kundry Parsifal gegenüber bekennt „Ich sah – Ihn – Ihn – / und – lachte … / da traf mich Sein Blick. – / Nun such‘ ich ihn von Welt zu Welt“ (PS S. 61), offenbart sie ihm den Grund ihres Fluchs, die Erbsünde, die anstelle des Adamstöchtermythos bei Wolfram (vgl. PZ 518, 1-30) nun für ihr Schicksal verantwortlich ist. Die Szene der Fußwaschung Parsifals im dritten Aufzug (PS S. 74f.) ist wiederum bewusst der Schilderung Maria Magdalenas nachempfunden17 und weitere Interpreten sehen Kundry als Allegorie des Begehrens nach buddhistischer Lehre sowie Variante weiterer allegorischer Frauengestalten.18 In einem Brief an König Ludwig II. legt Wagner selbst eine Deutung Parsifals als Christus und Kundrys als Eva dar, deren Kuss zur Erkenntnis führt,19 sodass Giertler argumentiert, Kundry sei „Schlange und Eva in einer Person“20 und ihr Ruf nach Parsifal „dem Lockruf der Schlange des Paradieses vergleichbar“.21 Mertens sieht es als Wagners explizite Absicht an, eine große Fülle von Material in seinen stark komprimierten, aus vielerlei Einflüssen gespeisten Figuren anzuhäufen, sodass die „Subtexte der Quellen […] präsent [bleiben], denn fast alle Bausteine Wagners sind als ‚Mytheme‘ semantisch aufgeladenes Material.“22

Abschließende Bemerkungen

In der gewaltigen, beinahe schon überladenen mythischen Konzentration, von der sich die Figur der Kundry ausgefüllt sieht, bleiben viele Fragen – mit hoher Wahrscheinlichkeit bewusst – offen, sodass sich vielfältige Deutungsspielräume ergeben, doch ins Übernatürliche und zuweilen befremdlich Monströse führen sie im Kern alle. Der Gralsbotin Cundrîe, die sicherlich als wirkmächtigste Vorlage gelten darf, wurden trotz der Entfernung des Merkmals augenfälliger Hässlichkeit eher noch ungezählte Dimensionen hinzugefügt, die Wagners Schöpfung zu einem literarischen Mischwesen mit hundert Gesichtern machen, und der Fakt, dass man nie das richtige kennt, stimmt viel beunruhigender als eine missgestaltete, letztlich aber als berechenbar und im Innersten gutmütig erwiesene Figur. Obgleich Wagner Wolframs Dichtung als „wüst und dumm“23 schmäht, ist gerade seine Kundry ihrem Vorbild, dessen ganzes Gegenteil sie bei flüchtigem Blick auf das pure Äußere zu sein scheint, auf vielen Ebenen sehr ähnlich, da manche Facetten hartnäckig überdauerten und weggelassene monströse Eigenschaften durch neue, womöglich noch eindringlichere ersetzt wurden – und nach mittelalterlichen Kriterien würde man wohl beide wenn auch nicht als reines Monstrum, so doch mindestens als in maßgeblichen Teilen monströs einstufen.


1 Die Schreibung Kundry bei Wagner und Cundrîe bei Wolfram orientiert sich an den zitierten Primärtexten in den Ausgaben von De Gruyter (Parzival) und Reclam (Parsifal). Sie wird in diesen voneinander abweichenden Formen auch beibehalten, um den Bezug auf die eine oder die andere Variante der Figur sichtbar zu machen. In direkten Zitaten folgt die Schreibung dem jeweils zitierten Text. Aus gleichem Grund werden die Namen des Titelhelden Parsifal (Wagner) bzw. Parzival (Wolfram) sowie des Zauberers Clinschor (Wolfram) und Klingsor (Wagner) unterschiedlich geführt. Namen weiterer Figuren folgen, soweit nicht anders genannt, dem Wagner-Text.

2 Wagner, Richard: Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel. Stuttgart: Reclam 2013, S. 54. Im Folgenden zitiert unter PS, jeweils direkt im Text nach der zitierten Stelle.

3 Böhland, Dorothea: Integrative Funktion durch exotische Distanz. Zur Cundrie-Figur in Wolframs ‚Parzival‘. In: Gaebel, Ulrike (Hrsg.): Böse Frauen – gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2001, S. 45-56, hier S. 44.

4 Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich (Hrsg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelalter-Mythen Bd. 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 161.

5 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Berlin: De Gruyter 2003: 780, 19-22 [Anmerkung: Zitate aus diesem Primärtext folgen dem Muster, dass zunächst die im Original enthaltene Gliederungsziffer und danach die exakten Versangaben genannt werden.]. Im Folgenden zitiert unter PZ, jeweils direkt im Text nach der zitierten Stelle.

6 Vgl. Habiger-Tuczay, Christa: Wilde Frau. In: Müller, Ulrich: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Konstanz: UVK 1998, S. 603-616, hier S. 606.

7 Vgl. ibid., S. 613.

8 Vgl. ibid., S. 605.

9 Vgl. Bronfen, Elisabeth: Kundry’s Laughter. In: New German critique 23/3 (1996), S. 147-161, hier S. 155.

10 Wurz, Stefan: Kundry, Salome, Lulu. Femmes fatales im Musikdrama. Frankfurt am Main: Lang, 2000, S. 41.

11 PZ 618, 19ff. Das „rôt“ identifiziert hier Parzival, der bei Wolfram als „Roter Ritter“ auftritt.

12 Wagner, Richard: Brief vom 10. August 1860. In: Dürrer, Martin (Hrsg.): Sämtliche Briefe. Band 12. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1999, S. 235-238, hier S. 237.

13 Giertler, Mareike: Vom Sinnesreiz zum Vorstellungsbild. Zur Funktion der Gralsbotin bei Wolfram von Eschenbach und Richard Wagner. In: Wagnerspectrum. Schwerpunkt Parsifal. 12/1 (2016), S. 43-66, hier S. 43.

14 Kienzle, Ulrike: Tönendes Nirvana. Von der musikalischen Aufhebung der Zeit in Wagners Tristan und Parsifal. In: Wagnerspectrum. Schwerpunkt Wagner und der Buddhismus. 3/2 (2007), S. 35-54, hier S. 40.

15 Wurz: Kundry, Salome, Lulu, S. 42.

16 Mertens, Volker: „Wesenlose Phantasterei“? Die mittelalterlichen Quellen von Wagners Parsifal. In: Wagnerspectrum. Schwerpunkt Parsifal. 12/1 (2016), S. 13-42, hier S. 33.

17 Vgl. Voss, Egon: Nachwort zu Parsifal. In: Ders. (Hrsg.): Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel. Stuttgart: Reclam 2013, S. 89-110, hier S. 102.

18 Vgl. Bhikku, Pandit: Kundry – the Personification of the Role of Desire in the Holy Life. In: Wagnerspectrum. Schwerpunkt Wagner und der Buddhismus. 3/2 (2007), S. 97-113, hier S. 99f.

19 Wagner, Richard: Brief vom 7. September 1865. In: Wittelsbacher-Ausgleichs-Fonds: König Ludwig II. und Richard Wagner. Briefwechsel. Karlsruhe: Braun 1936, S. 170-174, hier S. 174.

20 Giertler: Vom Sinnesreiz zum Vorstellungsbild, S. 57.

21 Ibid., S. 57.

22 Mertens: „Wesenlose Phantasterei?“, S. 37.

23 Wagner, Richard: Brief vom 30. Mai 1859. In: Dürrer, Martin (Hrsg.): Sämtliche Briefe. Band 12. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1999, S. 103-108, hier S. 107.

Unschuldig schuldig oder warum ist Cundrîe so hässlich?

Die Gralsbotin Cundrîe spielt eine entscheidende Rolle im Parzival Wolframs von Eschenbach: Aufgrund seiner Verfehlungen verflucht sie Parzival zunächst[1] und beruft ihn nach seiner Wandlung zum Gralskönig.[2] Cundrîe besticht durch ihre unbedingte triuwe gegenüber der Gralsgesellschaft,[3] für die sie Parzival und den anderen Mitgliedern der Tafelrunde sehr couragiert gegenübertritt und auf deren Fehlverhalten aufmerksam macht.[4] Cundrîe ist zudem äußert gebildet und weise.[5] Ihr Gewand ist kostbar und symbolträchtig.[6] Ihre Integrität und Kleidung kontrastieren stark mit ihrer körperlichen Hässlichkeit. Doch die Gralsbotin ist mehr als hässlich, sie ist monströs verunstaltet. Cundrîes Haare gleichen den Rückenborsten einer Sau, ihr Mund einer Hundeschnauze, ihre Zähne Eberzähnen, ihre Ohren Bärenohren, ihre Hände Affenhänden und ihre Fingernägel Löwenkrallen. Ihre Augenbrauen sind übermäßig lang und geflochten, ihr Gesicht stark behaart.[7] Durch das prinzipiell menschliche Aussehen, das mit tierischen Attributen gepaart ist, ist Cundrîe nach mittelalterlichem Weltbild in die Kategorie der Monster einzuordnen.[8] Zu den Elementen des Monströsen im äußeren Erscheinungsbild siehe den Artikel „Die Figur der Cundrîe zwischen Monster und Verführerin“ von J. Kühn.

Bemerkenswert ist, dass sich Cundrîe ihrer Monstrosität bewusst ist:
„ich dunke iuch ungehiure, und bin gehiurer doch dann ir.“[9]

Mit dieser Aussage betont sie ihr Selbstbewusstsein und ihren Mut trotz Hässlichkeit. Die höfische Gesellschaft im Mittelalter ging davon aus, dass ein äußerlich hässlicher Mensch auch innerlich hässlich ist, also über einen schlechten Charakter verfügt und vice versa. Durch diese Widersprüchlichkeit bei Cundrîe wird diese Kongruenz von äußerer und innerer Schönheit bzw. Hässlichkeit hinterfragt.[10] Zur Schönheit und Hässlichkeit im Mittelalter siehe den Artikel „Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch als monströs?“ von N. Dobers.

Doch warum ist Cundrîe so hässlich? Dieser Beitrag möchte die Frage untersuchen, warum die Gralsbotin in Bezug auf ihr Äußeres so monströs dargestellt wird und auf welchen Quellen die Begründung für ihre Verunstaltung beruht. Wolfram von Eschenbach legt die Antwort Cundrîes Bruder Malcrêatiure, der ebenso monströs wie seine Schwester aussieht, in den Mund:

Unser vater Adâm,
die kunst er von gote nam,
er gap allen dingen namn,
beidiu wilden unde zamn:
er rekant ouch ieslîches art,
dar zuo der sterne umbevart,
der siben plânêten,
waz die krefte hêten:
er rekant ouch aller würze maht,
und waz ieslîcher was geslaht.
dô sîniu kint der jâre kraft
gewunnen, daz si berhaft
wurden menneschlîcher fruht,
er widerriet in ungenuht.
swâ sîner tohter keiniu truoc,
vil dicke er des gein in gewuoc,
den rât er selten gein in liez,
vil würze er se mîden hiez
die menschen fruht verkêrten
unt sîn geslähte unêrten,
‘anders denne got uns maz,
dô er ze werke übr mich gesaz,‘
sprach er. ‘mîniu lieben kint,
nu sît an sælekeit niht blint.‘
diu wîp tâten et als wîp:
etslîcher riet ir brœder lîp
daz si diu werc volbrâhte,
des ir herzen gir gedâhte.
sus wart verkêrt diu mennischeit:
daz was iedoch Adâme leit,
doch engezwîvelt nie sîn wille.“[11]

Cundrîe und Malcrêatiure sind demzufolge Nachfahren Adams und Evas. Ihre Mutter war eine jener ungehorsamen Töchter, die sich nicht an die Mahnung ihres Vaters Adam hielten und während der Schwangerschaft Kräuter aßen, die zu monströsen Verunstaltungen bei den Kindern führten. Sie waren gierig und begingen wie Eva eine Sünde, weil sie ihre Gier nicht im Griff hatten. Es handelt sich um eine Art „zweiten Sündenfall.“[12] Um nachvollziehen zu können, warum Cundrîes Makel auf eine Sünde im biblischen Sinne zurückzuführen ist, wird im Folgenden das Menschenbild im Mittelalter angerissen.

Der Mensch des Mittelalters war über die Maßen fromm. Das Christentum erlebte in dieser Zeit einen epochalen Aufstieg.[13] Die Religion durchdrang durch alle Stände hinweg sämtliche Lebensbereiche. Der Mensch definierte sich quasi ausschließlich durch seine Religiosität und orientierte sich an den Aussagen und Schriften der Theologie, allen voran der Bibel.[14] Die Bibel galt als höchste Autorität auf intellektueller und geistiger Ebene; treuer Gehorsam war Gesetz.[15]

Die Besessenheit vom Gedanken an die Sünde war charakteristisch für den mittelalterlichen Menschen. Ziel des Menschen war es, keine Sünde zu begehen, d. h. sich nicht dem Teufel hinzugeben, indem man Lastern unterliegt. Diese Laster konkretisierten sich in Form der sieben Todsünden Hochmut, Habsucht, Gier, Wollust, Wut, Neid und Faulheit.[16]

Lucidarius und Wiener Genesis als Quellen Wolframs

Ausgangspunkt für die theologischen, literarischen und künstlerischen Bearbeitungen des Themas Sündenfall waren biblische Berichte über die Erschaffung und den Sündenfall der ersten Menschen, die ca. im Jahr 950 v. Chr. verfasst wurden. Hierauf aufbauend entstanden im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Genesis-Berichte.[17]

Der deutsche Lucidarius ist eine im 12. Jahrhundert entstandene mittelhochdeutsche Enzyklopädie anonymen Autors, die das damalige theologische und naturwissenschaftliche Wissen zusammenfasste.[18] Im Lucidarius ist wie im Parzival Wolframs explizit von Adams Töchtern die Rede:

Adam waʒ der wiʃeʃte man, der ie geborn wart. Do er uʒ dem paradiʃo cam, do ercander die wurʒen alle, die der nature warunt, ʃwel wib die eʒe, daʒ die geburt dauon verwandelt wurde. Do warnete er ʃine dothere, daʒ ʃi der wurʒe nith eʒen. Do gewunnen die wip fúrwiʒ, wie eʒ umbe die wurʒe ʃtuͤnde, vnde aʒent alle die wurʒen, die in ir uatir hete verboten. Die kint, die do uon den wiben wurden geborn, die uerwandeltin ʃich nach den wurʒen vnde miʃʃerietent alʃe ich vor geʃeit han.[19]

Die Enzyklopädie beantwortet somit die Frage nach dem Warum der Hässlichkeit mit der Abstammung von den Töchtern Adams, die durch den Verzehr der Kräuter Sünderinnen wurden und missgebildete Kinder gebaren.[20]

Eine weitere Quelle Wolframs ist die aus dem 11. Jahrhundert stammende Wiener Genesis, deren Autor ebenfalls unbekannt ist.[21] Die Wiener Genesis ist eine von drei Handschriften, die die so genannte Frühmittelhochdeutsche Genesis überliefert. Diese beruht auf der biblischen Genesis und hat die Erschaffung der Welt, den Sündenfall, die Geschichte von Kain und Abel, Abraham, Isaak und dessen Söhne bis zum ägyptischen Joseph zum Inhalt. Teilweise folgt die Erzählung der Wiener Genesis der Bibel, teilweise tauchen paraphrasierende Übersetzungen, gekürzte und ausführliche Beschreibungen und allegorische Deutungen auf.[22]

So handelt es sich bei den Sünderinnen in der Wiener Genesis nicht um die Töchter Adams, sondern um die Töchter Kains, des ersten Mörders in der Menschheitsgeschichte. Die sündhaften Töchter ignorieren die Warnungen ihres Großvaters Adam:

er [Kain] lerte siniu chint die zŏber die hiute sint. dů wurten die scuzlinge glich deme stamme: ubel wůcher si paren, dem tiuele uageten. Adam hiez si miden wurze, daz si inen newurren an ir geburte. sîn gebot si uerchurn, ir geburt si flurn.[23]

Trotz der thematischen Übereinstimmung zwischen Wiener Genesis und Parzival mit Blick auf den verbotenen Verzehr der Kräuter bevorzugt Nellmann den Lucidarius als Quelle Wolframs, weil der Text in der Wiener Genesis Cundrîe zum Nachkommen des ersten Mörders auf der Erde überhaupt und Brudermörders macht, was inakzeptabel wäre.[24] Denn die Verwandtschaft mit einem Menschen, der moralisch gesehen derart verwerflich handelt, würde einen Schatten auf Cundrîes Integrität werfen und sie als Mitglied der Gralsgesellschaft womöglich unglaubwürdig machen.

Schlussbetrachtung

Der Mensch des Mittelalters war in höchstem Maße religiös und lebte nach der Bibel bzw. nach ihren Versionen und Auslegungen. Irritierende Phänomene wie körperliche Verunstaltungen bei Menschen wurden nicht nach naturwissenschaftlichen, sondern nach biblischen Maßstäben erklärt. Demzufolge wird das hässlich-monströse Äußere der Gralsbotin Cundrîe mit dem Sündenfall der Nachkommen Adams und Evas erklärt. Cundrîes und Malcrêatiures Hässlichkeit ist eine Sichtbarmachung der Ursünde. Sie haben keine Sünde begangen, haben lediglich die Sünde ihrer Vorfahren geerbt und sich dadurch schuldig gemacht. In gewisser Weise sind sie unschuldig schuldig.[25]

Diese Art der Erklärung bei Wolfram von Eschenbach ist kein Einzelfall in der Literatur des Mittelalters. In der altenglischen Dichtung Beowulf, dem ältesten vollständig erhaltenen germanischen Heldenepos,[26] wird das Monster Grendel in das Geschlecht Kains eingereiht. Durch den Mord an seinem Bruder Abel verbannte Gott Kain aus dem Menschengeschlecht. Grendel ist ein Monster, weil er von Kain abstammt.

Biblische Berichte wurden im Mittelalter als Erklärung für unverständliche, von der Norm abweichende Erscheinungen herangezogen. Aufgrund der strengen Gläubigkeit der Menschen und der Anerkennung der Bibel als höchste theologische Instanz waren diese Erklärungen für den Menschen des Mittelalters plausibel und unantastbar.[27]


[1] Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2003: 316.

[2] Vgl. PZ: 781.

[3] Vgl. ebd.: 318, 5-12.

[4] Vgl. ebd.: 314, 29-30; 315, 7-9.

[5] Vgl. ebd.: 312, 19-27; 322, 13-30.

[6] Vgl. ebd.: 313, 1-13; 782, 14-30.

[7] Vgl. ebd.: 313, 17-30; 314: 1-10.

[8] Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 17-18.

[9] PZ: 315, 24-25.

[10] Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler 2004, S. 76f.

[11] PZ: 518, 1-30; 519, 1.

[12] Vgl. Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 166.

[13] Vgl. Le Goff, Jacques (Hg.): Der Mensch des Mittelalters. Frankfurt/Main: Magnus 2004, S. 8.

[14] Vgl. Le Goff, S. 10.

[15] Vgl. ebd., S. 44.

[16] Vgl. ebd., S. 36.

[17] Vgl. Hubrath, Margarete: Eva. Der Sündenfall und seine Folgen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 243.

[18] Vgl. Gottschall, Dagmar / Steer, Georg (Hg.): Der deutsche ‚Lucidarius‘. Band 1. Kritischer Text nach den Handschriften. Tübingen: Max Niemeyer 1994, S 25.

[19] Gottschall / Steer (Hg.), S. 25, 4-11.

[20] Vgl. Nellmann, Eberhard: Der ‚Lucidarius‘ als Quelle Wolframs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 122. Band (2003), S. 54-55.

[21] Vgl. Hamano, Akihiro: Die frühmittelhochdeutsche Genesis. Synoptische Ausgabe nach der Wiener, Millstätter und Vorauer Handschrift. Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. XIX.

[22] Vgl. ebd., S. XI-XII.

[23] Ebd., S. 120, 1282-1291.

[24] Vgl. Nellmann, S. 55.

[25] Vgl. Pappas, S. 166.

[26] Vgl. Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Stuttgart: Reclam 2004,  S. 3.

[27] Vgl. Le Goff (Hg.), S 44.

Kleider machen Leute – Die Symbolik der Kleidung Cundrîes in Wolframs von Eschenbach Parzival

Die Beschreibung der Kleidung, die sogenannte Gewanddescriptio, einzelner Figuren spielt in der Literatur des Mittelalters eine zentrale Rolle. Der Parzival Wolframs von Eschenbach nimmt die Stellung eines der kompliziertesten, facettenreichsten und vielschichtigsten Werke der höfischen Klassik ein und weist komplexe und symbolträchtige Gewanddarstellungen auf.[1]

Cundrîe, die Gralsbotin und Vermittlerin zwischen der Grals- und Artuswelt, ist eine für die Handlung entscheidende Figur, da sie Parzival zunächst verflucht (bei Pappas Verfluchungsepisode genannt[2]) und ihn schließlich zum Gralskönig macht (bei Pappas Berufungsepisode genann[3]). Cundrîe ist rätselhaft, widersprüchlich und grotesk. Ihr monströs-hässlicher Körper und ihr anmaßendes und aggressives Verhalten in der Verfluchungsepisode stehen in starkem Kontrast zu ihrer Bildung und ihrer vornehmen, wertvollen Kleidung.

Da Kleidung im Mittelalter nicht nur zur Bedeckung des Körpers diente, also zum Schutz vor Witterung und unziemlichen Blicken, und nicht nur ästhetischen bzw. modischen Charakter hatte, sondern vielmehr etwas über den gesellschaftlichen Stand und die Gesinnung des Trägers aussagte, war es tabu, gegen die Kleiderordnung zu verstoßen. Das Gewand verfügte dementsprechend über eine soziale Dimension, die stärker ins Gewicht fiel als seine reine praktische Zweckmäßigkeit.[4] Wolfram gibt der Beschreibung von Cundrîes Kleidung viel Raum, was womöglich auf einen großen Symbolgehalt schließen lässt und im Folgenden näher betrachtet wird.

Cundrîes erster Auftritt – Verfluchnung

Cundrîe taucht im VI. Buch völlig überraschend mit ihrem Maultier auf, grüßt niemanden, beschimpft und verflucht Parzival und die anderen Angehörigen des Artushofes und reitet, ohne sich zu verabschieden, fort. Parzival sei aufgrund seines Verhaltens nicht würdig, Mitglied der Tafelrunde des König Artus zu sein. Doch vor ihrem Verschwinden zeigt sie ihre Traurigkeit und Verzweiflung:

„Cundrîe was selbe sorgens pfant.
al weinde si die hende want,
daz manec zaher den andern sluoc:
grȏz jâmer se ûz ir ougen truoc.
die maget lêrt ir triuwe
wol klagen ir herzen riuwe.
wider für den wirt si kêrte,
ir mær si dâ gemêrte.“[5]

Und weiter heißt es: „Cundrîe la surziere, diu unsüeze un doch diu fiere.“[6] Trotz ihres unangenehmen Verhaltens und ihrer körperlichen Hässlichkeit verfügt Cundrîe über Adel und triuwe. Triuwe ist in der Literatur des Mittelalters – insbesondere im Kontext höfischer Romane bzw. Ritterromane – der Sammelbegriff für gute Eigenschaften: Treue, Zuverlässigkeit, Liebe und Ehrgefühl.[7] Es ist nicht klar, warum Cundrîe sich anmaßt, Parzival zu verfluchen. Der Erzähler sagt nicht, dass der Gralskönig sie schickt. Sie handelt wahrscheinlich eigeninitiativ.[8] In Bezug auf ihren Körper wird sie beschrieben als Mädchen, das anders aussieht als andere schöne und feine Damen: Ihr langer Zopf ist schwarz und borstig wie die Rückenborsten einer Sau, die Augenbrauen sind zu Zöpfen geflochten und stehen ab, ihr Gesicht ist stark behaart. Cundrîes Gesicht, Zähne, Ohren, Haut und Hände ähneln denen wilder Tiere.[9] Durch ihre äußerliche Andersartigkeit bzw. ihre Mischung aus menschlichen und tierischen Attributen ist sie nach mittelalterlicher Weltanschauung den monströsen Lebewesen zuzuordnen.[10]

Cundrîe kommt als überaus gebildete Person daher. Sie spricht mehrere Sprachen und ist bewandert in Dialektik, Geometrie und Astronomie. Zudem bezeichnet Wolfram sie mehrfach als „Cundrîe la surziere“[11], was mit Zauberin übersetzt werden kann. Der Name Cundrîe bedeutet allerdings auch „Kundige“, „Wissende“ und „Künderin.“[12] Die Kleidung der Gralsbotin ist ausgesprochen edel, kostbar und bemerkenswert. Sie trägt einen blauen Umhang mit französischem Schnitt, darunter Seide und einen Pfauenhut mit Borte aus London, der mit golddurchwirkter Seide gefüttert ist:

„ein brûtlachen von Gent,
noch plâwer denne ein lâsûr,
het an geleit der freuden schûr:
daz was ein kappe wol gesniten
al nâch der Franzoyser siten:
drunde an ir lîb was pfelle guot.
von Lunders ein pfæwin huot,
gefurriert mit einem blîalt
(der huot was niwe, diu snuor niht alt),
der hieng ir an dem rücke.“[13]

Diese Art der Kleidung ist im Mittelalter Adligen vorbehalten.[14]

Cundrîes zweiter Auftritt – Berufung

In der Berufungsepisode im XV. Buch gibt sich Cundrîe versöhnlich und demütig. Sie wirft sich Parzival zu Füßen, bittet um Entschuldigung[15] und verkündet, dass er Herr des Grals werden soll.[16] Bezüglich ihres Äußeren, teilt Wolfram dem Leser mit, ist sie unverändert:

„si fuorte och noch den selben lîp,
den sô manc man unde wîp
sach zuo dem Plimziœle komm.
ir antlütze ir habt vernomn:
ir ougen stuonden dennoch sus,
gel als ein thopazîus,
ir zene lanc: ir munt gap schîn
als ein vîol weitîn.“[17]

Die Bildung Cundrîes wird in dieser Szene dadurch thematisiert, dass sie Französisch spricht[18] und ihr astronomisches Wissen durch die Erläuterung der Planeten kundtut.[19] Die Kleidung ist genauso herausragend schön wie in der Verfluchungsepisode. Ihr Umhang ist aus schwarzem Samt, „noch swerzer denn ein gênît.“[20] In den Umhang sind mit arabischem Gold viele Turteltauben eingewebt. Ihr Kopfputz ist hoch, strahlend weiß und mit Schleiern besetzt, die ihr Gesicht zunächst verhüllen.[21] Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass sich das Verhalten und das Gewand Cundrîes verändert haben, das Gewand insbesondere in Bezug auf die Farben und Bilder.

Farbsymbolik

Wie bereits einleitend erläutert, hat das Gewand in der Tradition des Mittelalters eine Signalwirkung bezüglich des Standes und der inneren Haltung des Trägers. Nach Raudszus illustriert die Gewandbeschreibung den Charakter einzelner Personen und deren epischen Stellenwert in der Handlung.[22] Ausschlaggebende Kriterien zur Beurteilung der Kleidung sind das Material, der Schnitt, die Bilder und die Farben. Cundrîe trägt bei ihrem ersten Auftritt einen blauen „brûtlachen“[23] aus Gent nach französischem Schnitt, was einem kostbaren Wollstoff aus der belgischen Stadt entspricht. Gent war im Mittelalter berühmt für seine Webereien.[24] Der französische Schnitt steht für modische Raffinesse, denn der französische Hof hatte im Mittelalter eine starke Vorbildfunktion.[25] Die Farbe Blau verkörpert in der Überlieferung des Mittelalters das Himmlische. Sie ist das Symbol für Treue, Dauer und Festigkeit und ist als Farbattribut in ikonographischen Darstellungen Maria, der Mutter Gottes, zuzuordnen.[26] Bei ihrem zweiten Auftritt trägt Cundrîe einen schwarzen Umhang. Schwarz hatte im Mittelalter eine polyvalente Symbolik. Schon Isidor von Sevilla widmete sich in seinen Etymologien dem Thema Kleidung und schreibt schwarzer Kleidung den Ausdruck von Trauer zu.[27] Ferner kann die Farbe auch für Wut, Beleidigung, Kränkung oder allgemein für problematische Umstände stehen[28] sowie für soziales und topographisches Außenseitertum.[29] Schwarz war als dunkelste aller Farben relativ aufwändig herzustellen und markiert in jedem Fall das Besondere. Die Kopfbedeckung Cundrîes ist hoch und weiß. Die Farbe Weiß steht für Keuschheit, für Offenbarung und das Zugeständnis von Liebe, die erste Zuneigung und deren Erwiderung.[30]

Bildsymbolik

Cundrîe trägt in der Verfluchungsszene einen Pfauenhut. Im Medieval Bestiary wird der Pfau folgendermaßen beschrieben:

„The hard flesh of the peacock represents the minds of teachers, who remain unaffected by the flames of lust. The fearful voice of the peacock is like the voice of the preacher who warns sinners of their end in hell. The ‘eyes’ on the peacock’s tail are to signify the ability of the teachers to foresee the danger we all face in the end. The raising of the peacock’s tail when it is praised should remind us to not let pride from praise affect us, so we do not expose our ugly vanity.”[31]

Demzufolge werden dem Pfau, neben Keuschheit, die Fähigkeit zur Warnung vor Gefahren und vor den Folgen begangener Sünden zugeschrieben.

Im Buch der Natur von Conrad von Megenberg, der ersten mittelalterlichen Enzyklopädie in deutscher Sprache, heißt es weiter, der Pfau sei von sich eingenommen. Zudem ist das Tier Sinnbild frommer Prälaten, die sich durch geistliche Würde und fromme Werke auszeichnen. Ergänzend zur Bildsymbolik wird auf die Farbsymbolik eingegangen: „Die Pfauen haben saphirblaue Brüste und Hälse, das Sinnbild festen Glaubens und der Beständigkeit, da sie eine rechte Himmelsfarbe ist.“[32]

Bei ihrem zweiten Auftritt sind Turteltauben, das Wahrzeichen des Grals, in Cundrîes prächtigen Umhang eingewebt. Die Turteltaube wird in der Enzyklopädie Isidors beschrieben als scheuer Vogel, der den Menschen aus dem Weg geht.[33] Conrad von Megenberg bezeichnet die Turteltaube als keusch und schamhaft. Sie ist treu und geduldig, rein und bieder. Durch das Blut des rechten Flügels der Turteltaube können kranke Augen geheilt werden, denn die Kranken erkennen mittels des eingeriebenen Blutes ihre Sünde und ihr unsittliches Wesen.[34]

Fazit

Die Gewänder Cundrîes verleihen ihr einen besonderen Status, da sie sich durch Auffälligkeit, Kostbarkeit und einen hohen Symbolgehalt auszeichnen. Das Blau ihres Capes und ihres Pfauenhutes ist Sinnbild ihrer absoluten Treue gegenüber der Gralsgesellschaft. Durch den Vergleich mit der Farbe Marias wird die Keuschheit und Reinheit der Gralsbotin deutlich, der trotz ihres schlechten Benehmens in der Verfluchungsepisode Jungfräulichkeit[35] und triuwe[36] zugeschrieben werden. Der Pfau steht für ein weises, vorausschauendes Wesen, was Cundrîes Vorwürfe gegenüber Parzival und der Artusgesellschaft erklärt. Der Pfauenhut hat jedoch auch eine negative Konnotation, denn der Pfau ist von sich eingenommen. Dieses Attribut spiegelt Cundrîes superbiaHochmut in der Verfluchungsepisode wider, da sie nicht auf Anweisung des Gralskönigs, sondern wie es scheint, eigenmächtig handelt.[37] Der schwarze Umhang in der Berufungsepisode steht für die Reue und die Demut Cundrîes. Nachdem sich Parzival nun grundlegend gewandelt und für die Rolle des Gralskönigs qualifiziert hat, entschuldigt sie sich für ihr schlechtes Benehmen bei ihrer ersten Begegnung, was durch die Farbsemantik verstärkt wird. Ihr weißer Kopfputz unterstreicht abermals ihre jungfräuliche Keuschheit und ihre Liebe zur Gralsgesellschaft. Das Bild der Turteltauben auf ihrem Umhang ist einerseits Ausdruck für die isolierte Stellung der Gralsgesellschaft, andererseits für die unbedingte Integrität Cundrîes. Das Blut der Turteltaube, das Kranke und Verblendete heilt, steht für die vorausschauende Kompetenz der Botin. Durch ihren Gesinnungswandel in der Berufungsepisode wird klar, das Cundrîe zwar äußerlich, d. h. körperlich, hässlich, aber innerlich schön ist. Das widerspricht der höfischen, mittelalterlichen Auffassung, dass äußere Hässlichkeit mit innerer Hässlichkeit einhergeht.[38] Die Gewänder der Gralsbotin verstärken ihr schönes Inneres. Sie symbolisieren jederzeit den hohen Stand der Cundrîe als Mitglied der Gralsgesellschaft und ihre Gesinnung als kompromisslos treue Person voller triuwe.


[1] Vgl. Raudszus, Gabriele: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. Hildesheim: Georg Olms 1985, S. 100.

[2] Vgl. Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 158.

[3] Vgl. ebd., S. 167.

[4] Vgl. Keupp, Jan: Mode im Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, S. 11.

[5] Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2003: 318, 5-12.

[6] PZ: 319, 1-2.

[7] Hennnig, Beate: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 324-325.

[8] Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler 2004, S. 76.

[9] Vgl. PZ 313, 13-30; 314, 1-10.

[10] Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 17-18.

[11] PZ: 312, 26; 319, 1, 19.

[12] Vgl. Bräuer, Rolf: Die arthurische Dämonologie. Umdeutung eines archaischen Mythos zu einem mythischen Teilsystem ritterlich-höfischer Utopie. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. Mittelaltermythen Band 2. St. Gallen: UVK 1999, S. 85.

[13] PZ 313 4-13.

[14] Vgl. Oster, Carolin: Die Farben höfischer Körper. Farbattribuierung und höfische Identität in mittelhochdeutschen Artus- und Tristanromanen. Berlin: De Gruyter 2014, S. 63.

[15] Vgl. PZ: 779, 22-26.

[16] Vgl. PZ: 781, 16.

[17] PZ: 780, 15-22.

[18] PZ 779, 11.

[19] PZ: 786, 1-21.

[20] PZ: 778, 20.

[21] PZ: 778, 21-30.

[22] Vgl. Raudszus, S. 138.

[23] PZ: 313, 4.

[24] Vgl. Martin, Ernst (Hg.): Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Zweiter Teil: Kommentar. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 266.

[25] Vgl. Raudszus, S. 127.

[26] Vgl. Raudszus, S. 128.

[27] Vgl. Müller, Mechthild / Babin, Malte-Ludolf / Riecke, Jörg (Hg.): Das Thema Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Summarium Heinrici 1. Berlin: De Gruyter 2013, S. 356.

[28] Vgl. Oster, S. 67.

[29] Vgl. ebd., S. 245.

[30] Vgl. ebd., S. 67.

[31] The Medieval Bestiary. Animals in the Middle Ages. Stichwort: peacock. Unter: http://bestiary.ca/beasts/beastalphashort.htm [gesehen am 01.07.2018].

[32] Conrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Greifswald: Julius Abel 1897, S. 177.

[33] Isidor von Sevilla: Etymologiae. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008, S. 485.

[34] Vgl. Conrad von Megenberg, S. 187-188.

[35] PZ: 312, 6.

[36] PZ: 318, 9.

[37] Vgl. Pappas, S. 169.

[38] Vgl. Bumke, S. 76-77.

Die Figur der Cundrîe zwischen Monster und Verführerin – Teil 1: Die monströse Gralsbotin bei Wolfram von Eschenbach

Einführung in die Thematik

Wer das mittelalterliche Versepos Parzival Wolframs von Eschenbach und die darauf aufbauende Opernfassung Parsifal Richard Wagners von 18821 nebeneinander betrachtet, wird sogleich zahlreiche Veränderungen, Verdichtungen und Auslassungen in Handlung, Figurenkonstellation und anderen Aspekten feststellen können. Doch kaum eine Abwandlung ist so augenfällig und irritierend zugleich wie die Wandlung, welche die Figur der Cundrîe2 erfahren hat. Besitzt sie in Wolframs Text noch Eigenschaften, die sie – wie noch zu zeigen sein wird – vielfach als eines der Musterbeispiele literarisch umgesetzter Monstrosität ausweisen, tritt sie bei Wagner als die unwiderstehliche, reihenweise männerverderbende Verführerin auf, als der Archetyp der Femme fatale schlechthin. Allein die Vorstellung von monströser Hässlichkeit auf der einen und für Verführung unabdingbarer körperlicher Anziehungskraft auf der anderen Seite schafft einen scheinbar unvereinbaren Gegensatz und wirft die Frage auf, ob es sich überhaupt noch um die Weiterverarbeitung einer bestehenden Figur handelt, oder um eine Neuschöpfung, die sämtliche Verbindungen zu ihrem Vorbild kappt. Gerade unter dem Aspekt der körperlichen Hässlichkeit, die für Wolframs Cundrîe so bezeichnend und identitätskonstitutiv ist, erscheint die Frage reizvoll, ob und in welcher Weise diese Facetten auch in Wagners Kundry noch weiterbestehen, wo die signifikanten Abwandlungen zu finden sind und welche neu hinzugekommenen Merkmale der Figur unter Umständen auch als Charakteristika des Monströsen einzustufen sind. Mit diesem übergreifenden Erkenntnisziel gliedert sich der Artikel in zwei Teile, deren erster sich zunächst allein mit der Darstellung der Cundrîe bei Wolfram beschäftigt, während der zweite Teil die Transformation zur Figur Wagner‘scher Prägung in den Fokus rückt.

Parzivals Beschimpfung durch Cundrîe (Buch-Illustration von 1888)

Das Monstrum Cundrîe?

Elemente des Monströsen im äußeren Erscheinungsbild

Erst in einem Weltbild, das Fabelwesen in Bestiarien Seite an Seite mit realen Tieren führt, aber als monströse Lebewesen neben Meeresungeheuern vor allem prinzipiell ungefährliche, aber missgestaltete und zuweilen lediglich fremd anmutende menschliche Wesen ansieht,3 lässt sich überhaupt verstehen, dass eine Gestalt wie Cundrîe, der man wohl zu keiner Zeit die Charakteristika des Menschlichen absprechen würde und die auch im Text selbst durchgängig als „magt“,4 „juncfrouwe“ (PZ 312, 6) oder „meide“ (PZ 312, 19) bezeichnet wird, unter Aspekten der Monstrosität Gegenstand einer Untersuchung sein kann. Dies vorausgeschickt, erfüllt das hässliche Erscheinungsbild, das Wolfram bereits aus dem Conte du Graal von Chrétien de Troyes5 und damit wohl mittelbar aus mündlich tradierten keltischen Artussagen übernahm,6 durchaus verschiedene der damaligen Kriterien des Monströsen. Bei Cundrîes erstem Auftritt nimmt die Schilderung ihrer äußerlichen Deformationen nahezu den gleichen Raum ein wie ihre gesamte folgende Rede7 und bedient in Form physiognomischer Vergleiche mit Tieren wie „eines affen hût“ (PZ 314, 5), „eins lewen klân“ (PZ 314, 9), „eins swînes rückehâr“ (PZ 313, 20), „zwên ebers zene“ (PZ 313, 22), den „ôren als ein ber“ (PZ 313, 29) oder der Bemerkung „si was genaset als ein hunt“ (PZ 313, 21) einen „immer wiederkehrende[n] Kanon von Häßlichkeitsattributen“,8 der in ähnlicher Form vielfach in der Literatur des Mittelalters anzutreffen sei.9 Obwohl die Forschungsmeinung darüber nicht gänzlich einig ist, ob Cundrîes tierische Attribute nur aus Ähnlichkeit erwachsene Vergleiche beschreiben oder sie tatsächlich tierische Körperteile trägt und somit bereits als Chimäre einzuordnen wäre,10 finden sich in ihr zweifellos weitere Merkmale vor allem eines weit verbreiteten Monstertypus, der Kategorie der Wilden Frau, wie sie Habiger-Tuczay11 aufzählt: Cundrîes dunkler Teint (vgl. PZ 780, 27f.), der den Mangel an mit Schönheit verbundenem Licht symbolisiert, aber vor allem ihre wilde Behaarung, die sich in einem bis zum Maultier herabreichenden Zopf (vgl. PZ 313, 17ff.) und langen geflochtenen Augenbrauen (vgl. PZ 313,  24f.) zeigt, fügen sich ebenso in dieses Schema wie die Nähe zu Tieren, die sich darin äußert, dass sie stets in Begleitung eines Reittieres erscheint, erst eines gleichfalls missgestalteten, „sorry beast“12 von Maultier und später eines als „rîche und tiure ân allen strît“ (PZ 779, 4) beschriebenen Pferdes. Ebenso wenig jedoch wie sich das Kriterium des halbtierischen Wesens13 vollständig bestätigen lässt, sind andere Merkmale der Wilden Frau wie extrem lange, hängende Brüste, ungewöhnliche Größenunterschiede zu anderen Menschen, die Fähigkeit zur Verwandlung oder abstoßender Gestank14 nicht am Text zu belegen, sodass Cundrîe einzelne Elemente des äußerlich Monströsen zwar teilt, die Kategorien aber nie in Gänze erfüllt.

Das Fremde in Kleidung, Bildung und Verhalten

Ähnlich ambivalent zeigt sich das Bild in Bezug auf Eigenschaften, die nicht rein körperlicher Natur sind – „das Fremde“, das allem Monströsen innewohnt und sich nicht nur „in ihrer abstrusen, jeder höfischen Norm entgegenstehenden Hässlichkeit manifestiert“,15 verkörpert Cundrîe auch hinsichtlich ihrer Kleidung, ihrer Bildung und ihrer Art zu handeln. Ihre edle Kleidung, die u.a. mit „brûtlachen von Gent“ (PZ 313, 4), „von Lunders ein pfæwîn huot“ (PZ 313, 10) und „ein kappe wol gesniten / al nâch der Franzoyser siten“ (PZ 313, 7f.) ausführlich beschrieben wird, entfernen sie von allen halbtierischen Monstra, die bevorzugt an entlegenen Orten leben,16 und demonstrieren vielmehr Zivilisation und Weltläufigkeit. Doch gerade durch diese extravagante, am Artushof ungewohnte Kleidung erregt sie Aufsehen und unterstreicht das Element des Fremden in anderer Weise noch zusätzlich.17 Gegenüber Monstern wie den stark behaarten Choromdaren, deren Kommunikationsfähigkeit sich auf dumpfes Brüllen beschränkt,18 trifft auf Cundrîe nicht der in mittelalterlicher Literatur verbreitete Rückschluss zu, wonach „das Äußere sichtbarer Ausweis des inneren Zustandes ist“,19 denn entgegen der dann folgerichtigen Annahme verfügt sie über eine bemerkenswert weitreichende Bildung und beherrscht neben den Sprachen „latîn, heidensch, franzoys“ (PZ 312, 21) mit „dialetike und jêometrî“ (PZ 312, 23) sowie „astronomîe“ (PZ 312, 25) auch drei der sieben Freien Künste. Der Erzähler spricht von ihrer höfischen Bildung als „witze kurtoys“ (PZ 312, 22) und hebt mit der Bemerkung „in dem munde niht diu lame“ (PZ 312, 28) ihre Redegewandtheit hervor, doch auch damit steht Cundrîe außerhalb der sozialen Ordnung, da hohe Bildung in dieser Zeit als wenig damenhaft galt20 und zudem gepaart mit ihrer Kenntnis um Heilmittel, wie sie Königin Arnive erwähnt (vgl. PZ 579, 25ff.), selbst dann ihren auf Sphären des Zauberhaften verweisenden Beinamen „la surziere“ (PZ 579, 24) zu erklären hilft, wenn auch ein Nachweis über echte magische Fähigkeiten offen bleibt. Ihre Zungenfertigkeit platziert sie dann besonders signifikant außerhalb des höfischen Wertemodells, wenn sie mit ihrer Verfluchung, einem – wenn auch verbalen – Angriff auf den Helden, „unweiblich-deviantes Verhalten“21 und damit ein typisches Wesensmerkmal Wilder Frauen22 zeigt: „Cundrîe schmäht Artus und beschimpft Parzival in einer Weise, die aller friedlichen Konvention am Hofe widerspricht.“23 In dieser Hinsicht weisen ihre doppelgesichtigen Eigenschaften Cundrîe gewissermaßen gleichzeitig als höfisch zivilisiert und fremd aus.

Herkunft und Rolle im Handlungsgefüge

Der Anklang des Fremden wird noch verstärkt, wenn mit dem Auftreten ihres äußerlich ebenfalls ungestalten Bruders Malcrêatiure Hintergründe zu Cundrîes Herkunft offengelegt werden: Mit der Ortsangabe „bî dem wazzer Ganjas / îme lant ze Trîbalibôt“ (PZ 517, 28f.) wird der Anklang einer indischen Landschaft evoziert, die aufgrund ihrer weiten Entfernung, geringen Erforschung und folglich exotischen Faszination bei vielen mittelalterlichen Autoren, u.a. auch Isidor von Sevilla, als Paradebeispiel für den Herkunftsort von Monstra und anderen wunderlichen Wesen24 galt, doch auch der genealogische Ursprung der Missbildungen Cundrîes und Malcrêatiures im Verzehr embryotoxischer Kräuter durch die ungehorsamen Adamstöchter folgt einem seinerzeit populären Erklärungsmuster für die Existenz monströser Lebewesen.25 Auch das tradierte Muster, dass Monstra in der Literatur häufig „zu Wärtern von Grenzen, Hütern von heiligen Jenseitsstätten und zu Wärter[n] der Schranken zwischen Leben und Tod“26 erklärt wurden, entspricht exakt Cundrîes Rolle bei Wolfram, die als Gralsbotin „in einzigartiger Weise als Vermittlerin und Grenzgängerin zwischen den Parzival-Welten [agiert], zwischen der höfischen Welt des Artushofes, der christlichen Gralswelt, dem heidnischen Orient, in den der Gral einst transferiert werden wird, und den zahlreichen Zwischenwelten wie der Sigune-Klause oder dem Wunderschloss Schastel marveile.“27 Obwohl sie nur an zwei Stellen im Epos in Erscheinung tritt – dafür allerdings an solchen, in denen sie das Schicksal der Hauptfigur Parzival, zunächst mit seiner Verfluchung, später dafür aber mit seiner Berufung zum Gralskönig, jeweils entscheidend beeinflusst – sieht auch Bumke in Cundrîe ein verbindendes Element der Handlung, das seine Omnipräsenz eher im Hintergrund in der Erwähnung anderer Figuren andeutet.28 Manche Interpreten gehen sogar davon aus, dass ihre beispiellose Mobilität und ihr „unentbehrliches Wirken“29 in der erzählten Welt überhaupt erst durch ihre abstoßende Erscheinung ermöglicht wird, da allein ihr Mangel an Minnebindungen ihr gestattet, den mit besonderen Regeln zur geschlechtlichen Liebe ausgestatteten Dienst im Zeichen des Grals zu versehen und unbehelligt jungfräulich die verschiedenen Sphären zu durchqueren.30

Schlussfolgerungen

Als Grenzgängerin, die sie im Epos verkörpert, beschreitet die Figur der Cundrîe auch hinsichtlich ihrer Kategorisierung zwischen Mensch und Monstrum einen schmalen Grat. Viele Motive des Monströsen klingen in ihr an, um sogleich wieder mit Eigenschaften der höfischen Gesellschaft abgeschwächt zu werden. In beiden Welten, einer real greifbaren und einer mythischen Welt, steht sie am Rande, und die daraus erwachsende Komplexität, die über eindimensionale Zuschreibungen hinausgeht, macht Cundrîe zu einer sehr ambivalenten Gestalt im mittelalterlichen Figurenspektrum. Auch dies mag ein Anlass für ihre wiederholte Neuinterpretation in späteren Bearbeitungen des Stoffs sein, unter denen jene, die eine Kundry im ganz neuen Kontext erschafft, Gegenstand des zweiten Teils dieses Artikels sein soll.