Kriemhild als Sittenmonster?

In der Literatur des Mittelalters tauchen immer wieder Monster aller Art auf: von Drachen im Beowulf 1 über Einhörner im Millstätter Physiologus2 bis hin zu dem Mischwesen Kundrie im Parzival.3 All diese Monster teilen die Eigenschaft der körperlichen Anomalie und werden in anderen Artikeln auf diesem Blog genauer untersucht und in ihrer Monstrosität beleuchtet. Dieser Artikel beschäftigt sich hingegen mit einer anderen Form des Monströsen, die von dem französischen Diskurstheoretiker Michel Foucault definiert wurde: dem Sittenmonster.

Nachdem die schöne Kriemhild im Nibelungenlied4 ihren Gatten Siegfried verliert, ist sie von Schmerz und Kummer so geplagt, dass sie tagelang nicht aufhört zu weinen. Auch viele Jahre später trägt sie diesen Kummer mit sich und ersinnt einen Racheplan: Sie lädt die Mörder ihres Mannes in ihr neues Reich, sodass sie dort den Tod finden sollen. Sie setzt ihren Racheplan mit Hilfe treuer Gefolgsleute in die Tat um. Durch dieses Vorhaben begeht sie einen gesellschaftlichen Tabubruch und im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern sie deswegen als ein sogenanntes Sittenmonster klassifiziert werden kann.

Das Sittenmonster nach Michel Foucault

Bevor der gesellschaftliche Bruch genauer betrachtet wird, den Kriemhild durch ihre Rache begeht, muss definiert werden, was ein Sittenmonster nach Michel Foucault ist. In seinen Vorlesungen über das Anormale, die er im Jahre 1975 unter dem Originaltitel Les Anormaux vor Studierenden des Collège de France hielt, beschreibt der Diskurstheoretiker das Monströse, wie folgt:

[…] das Monster ist durch die Tatsache definiert, daß es qua Existenz und Form nicht nur eine Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze darstellt, sondern auch eine Verletzung der Gesetze der Natur. In einem doppelten Register stellt es durch seine bloße Existenz einen Gesetzesbruch dar. […] Es ist die Grenze, es ist das Moment der Umkehrung des Gesetzes, es ist zugleich die Ausnahme, die nur in Extremfällen auftritt. Sagen wir, das Monster ist das, was das Unmögliche und Verbotene kombiniert.5 

Anhand dieser Definition wird bereits deutlich, dass Foucault das Monströse vor allem als Umkehrung des Normalen versteht. Durch sein bloßes Sein verletzt das Monster die Regeln und Gesetze der Natur und der gesellschaftlich akzeptieren Umgangsformen. Normal ist dabei, was in der Mehrheit der Gesellschaft und Natur vorzufinden ist. Bevor Foucault zu einem späteren Zeitpunkt beschreibt, was er mit dem Begriff des Sittenmonsters genau meint, gibt er zuerst konkretere Beispiele für auftretende Anomalien. Diese werden für die spätere Einordnung des Verhaltens von Kriemhild wichtig und daher sollen sie an dieser Stelle genannt werden:

Es [das Monster] ist ein Mischgebilde aus zwei Arten, ein Mixtum zweier Arten: das Schwein mit dem Schafskopf ist ein Monster. Es ist eine Mischung aus zwei Individuen: Wer zwei Köpfe hat und einen Leib, zwei Leiber und einen Kopf, ist ein Monster. Es ist die Mischung aus zwei Geschlechtern: Wer zugleich Mann und Weib ist, ist ein Monster.6 

In diesen vorangegangenen Beispielen beschränkt sich Michel Foucault vor allem auf die körperlichen Anomalien, die ein Wesen in seinen Augen zu einem Monster machen. Hierbei geht es noch nicht um das Sittenmonster, das später genauer betrachtet wird, sondern in einem ersten Schritt erst einmal noch um die Abweichung von einer körperlichen Norm. Die Mischung aus zwei Geschlechtern sticht hier allerdings schon heraus.

Selbstverständlich kann auch sie noch als eine körperliche Mischung aus Mann und Frau verstanden werden. Man kann allerdings auch annehmen, dass damit ein biologisch weibliches Wesen gemeint ist, das kontinuierlich männlich-stereotype Verhaltensweisen an den Tag legt. Es ist in diesem Zusammenhang zu unterstreichen, dass die Definition klassisch männlicher bzw. weiblicher Verhaltensweisen immer auch abhängig von gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen ist und einem historischen Wandel unterliegt. Die Annahme von männlichen und weiblichen Stereotypen muss demnach immer im Kontext der jeweiligen Zeit verstanden werden.7 

Foucault erweitert seine oben genannte Definition des Monsterbegriffes im Anschluss um den Begriff des Sittenmonsters. Dazu stellt er folgende Definition auf:

[Es] läßt sich dagegen beobachten, daß sich die Beziehung umkehrt und das hervortritt, was man den systematischen Verdacht einer aller Kriminalität zugrundliegenden Monstrosität nennen könnte. Jeder Kriminelle könnte demnach ein Monster sein, wie seinerzeit das Monster eine Chance hatte, ein Krimineller zu sein.8 

Dieser von Foucault beschriebenen Grundannahme, dass in jedem Kriminellen ein Monster steckt, liegt die Idee zugrunde, dass „der Kriminelle einer [ist], der den von ihm unterzeichneten Pakt [mit der Gesellschaft] bricht und sein persönliches Interesse über jenes der Gesetze stellt, welche die Gesellschaft, der er angehört, regieren.“9 

Ein Monster kann nach Foucault also auch ein Mensch sein, der kriminelle Verhaltensweisen an den Tag legt und damit den Gesellschaftsvertrag bricht, den ein jedes Individuum durch sein Leben in einer Gruppe mit anderen Menschen eingeht. Das Monströse liegt in diesem Fall vor allem darin begründet, dass durch diese Abweichungen von der Norm die von der Natur gegebene Ordnung in Frage gestellt und durcheinander gebracht wird. Hier handelt der Kriminelle also gegen die Natur und ist den körperlich anormalen Monstern in dieser Hinsicht ähnlich.

Kriemhild als Sittenmonster

Im nächsten Schritt sollen die Verhaltensweisen der Kriemhild aus dem Nibelungenlied genauer betrachtet und unter Bezugnahme auf die Monsterdefinition nach Michel Foucault eingeordnet werden.

In der fünften Aventiure des Nibelungenliedes10 trifft Kriemhild zum ersten Mal auf ihren späteren Ehemann Siegfried. Es ist zu erwähnen, dass ihr Treffen in einem höfischen Kontext stattfindet und damit bestimmten Regeln folgen muss. Kriemhild ist als Schwester ihren drei Brüdern untergeordnet, die entscheiden, wann und wen ihre Schwester treffen darf. Erst nachdem Siegfried für die drei Brüder in den Kampf gezogen ist und gesiegt hat, darf er Kriemhild sehen. Der von Foucault beschriebene Gesellschaftsvertrag und die von ihm vorgegebenen höfischen Umgangsformen werden zu diesem Zeitpunkt strikt eingehalten. Kriemhild ist sich ihrer Rolle als höfische, unverheiratete Dame bewusst und handelt der Norm entsprechend.11

Um die Wichtigkeit der höfischen Umgangsformen zu unterstreichen, sollen folgende Verse von Kriemhilds Bruder Gernot zitiert werden:

Ir heizet Sîvride zuo mîner swester kumen.
daz in diu maget grüeze, des hab wir immer frumen.
diu nie gegrüezte recken, diu sol in grüezen pflegen.
dâ mit wir haben gewunnen den vil zierlichen degen.“

Dô giengens wirtes mâge, dâ man den helt vant.
si sprâchen zuo dem recken ûzer Niderlant:
„iu hât der kunec erloubet, ir sult zu hove gân.
sîn swester sol iuch grüezen, daz ist zen êren iu getân.12 

Anhand dieses Textbeleges wird deutlich, welche Rolle Kriemhild am Hof der Könige aus dem Burgundenland spielt. Sie wird einem erfolgreichen und wohlhabenden Ritter versprochen, um die höfischen und damit gesellschaftlichen Regeln einzuhalten und zwei Häuser miteinander zu verbinden. Das ist ihre gesellschaftlich festgelegte Rolle, gegen die sie sich nicht auflehnt. Sie folgt zu diesem Zeitpunkt noch dem Gesellschaftsvertrag und zeigt keinerlei Anzeichen von Monstrosität. Ganz im Gegenteil wird sie als besonders schön und begehrenswert beschrieben:

Nu gie diu minnecliche, alsô der morgenrôt
tuot ûz den trüeben wolken. dâ schiet von maneger nôt,
der si dâ truog in herzen und lange het getân.
er sach di minneclichen nu vil hêrlichen stan.

Jâ lûhte ir von ir waete vil manec edel stein.
ir rôsenrôtiu varwe vil minneclichen schein.
ob iemen wunschen solde, der kunde niht gejehen,
daz er zu dirre werelde het iht schoeners gesehen.13 

Für den Beginn des Nibelungenliedes lässt sich festhalten, dass Kriemhild im Rahmen der üblichen höfischen Verhaltensweisen und Umgangsformen handelt und nicht aus den gesellschaftlichen Erwartungen herausbricht. Dieses ändert sich jedoch viele Aventiuren später, nachdem Siegfried von Hagen ermordet wurde und seine Witwe, die inzwischen neu mit dem König Etzel verheiratet ist, beschließt, ihn zu rächen.  Kriemhild beschließt jeden zu morden, der für den Mörder ihres verstorbenen Mannes Siegfried kämpft. Folgende Verse unterstreichen dabei die Erbarmungslosigkeit der Königin.

Dô sprach diu kuneginne: „ir helde vil gemeit,
nu gêt der stiege nâher unde rechet mîniu leit.
daz will ich immer dienen, als ich von rehte sol.
der Hagenen übermüete, der gelôn ich im wol.

Lât einen ût dem hûse niht komen überal.“
si hiez viern enden zünden an den sal.
„sô werdent wol errochen elliu mîniu leit.“
di Etzeln degene wurden schiere bereit.

Di nâhe hi ûze stuonden, di tribens in den sal
mit slegen unde mit schüzzen. des wart vil grôz der schal.
doch wolden nie gescheiden di fürsten und ir man.
sine konden vor ir triuwen einander niht verlân.

Den sal, den hiez dô zünden daz Etzeln wîp.
dô quelte man den recken mit fiuwer dâ den lîp.
daz hûs von einem winde vil balde allez bran.
ich waene, daz volc enheinez grôzer angest nie gewan.14 

Kriemhild bricht an dieser Stelle mit den höfischen Gesetzen, in dem sie ihre Rolle als Königin in den Hintergrund stellt und ihre Macht über die Recken ihres Mannes für ihre Rache nutzt. Traditionell ist sie als Königin nicht diejenige, die Befehle erteilt und hinter dem Rücken ihres Mannes, der nichts von dem von ihr geplanten Hinterhalt und Racheplänen weiß, handelt. Sie schrickt in diesem Moment auch nicht davor zurück, ihre eigenen Brüder zu ermorden, was ebenfalls ein gesellschaftlicher Tabubruch ist.15 

Die von Kriemhild begangene Rache an den Mördern Siegfrieds, der einen Tabubruch darstellt, wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert und führt zu ihrem Tod. Nachdem Kriemhild neben ihrem Bruder Gunther auch Hagen von Tronje umbringt, rächt Hildebrant diesen.

Dô sprach der alte Hildebrant: jâ geniuzet si des niht,
daz si in slahen torste. Swaz mir dâ von geschiht,
swi er mich selbe braehte in angestliche nôt,
iedoch sô will ich rechen des küenen Tronegaeres tôt.

Hildebrant mit zorne zuo Kriemhilde spranc.
er sluoc der küneginne einen swaeren swertswanc.
jâ tet ir diu sorge von hildebrande wê.
Waz mohte si gehelfen, daz si groezlichen schrê?

Dô was gelegen aller dâ der veigen lîp.
ze stucken was gehouwen dô daz edele wîp.
Dieterîch und Etzel weinen dô began.
si klagten innecliche beide mâge und man.16 

Fazit

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Kriemhild zu Beginn des Nibelungenliedes eindeutig im Rahmen der gesellschaftlichen Normen handelt und damit keinesfalls mit dem Gesellschaftsvertrag, den sie durch ihr Leben am Hof mit den Menschen um sich herum eingegangen ist, bricht. Die Trauer und der Schmerz um den Tod ihres Mannes Siegfried scheint in ihr allerdings einen Wandel ausgelöst zu haben. Sie legt ihre höfische Umgangsform ab und entschließt sich entgegen den von ihr erwarteten weiblich-stereotypen Verhaltensweisen zu handeln. Sie beordert die Recken ihres neuen Mannes dazu zu morden. Dabei nimmt sie die Rolle der Befehlshaberin ein und bricht in diesem Moment ein erstes Tabu, da sie dies alles hinter dem Rücken ihres Mannes plant, der der König und damit der eigentliche Befehlshaber über seine Truppen ist. Dass sie dabei unterstreicht, dass sie ihren Gegnern möglichst viel Schmerz und Qual zufügen möchte, macht noch einmal deutlich, wie wichtig ihr die Rache ist.

Es lässt sich also aufgrund der Definition des Sittenmonsters, die zu Beginn des Textes besprochen wurde, sagen, dass Kriemhild monströse Verhaltensweisen an den Tag legt. Als Dame in einem höfischen Kontext, zeigt sie in immer wieder für diese Zeit stereotypisch-männliche Verhaltensweisen und begeht damit einen gesellschaftlichen Tabubruch. Wie Foucault schrieb, ist ein Sittenmonster eine „Mischung aus zwei Geschlechtern: Wer zugleich Mann und Weib ist, ist ein Monster.“17  Ausgehend von dieser Definition kann Kriemhild aus oben beschriebenen Gründen durchaus als Sittenmonster verstanden werden.


 

„Das christliche Monster“ – Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen

Melusine im Bad. In: Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe [1587]. Stuttgart: Reclam-Verlag 2014, S. 3.

„Halb zog sie ihn, halb sank er hin“1

Vielen ist die Sage der übernatürlich schönen Frau bekannt, die aus dem Wasser steigt, um ihr Opfer in die Fluten zu ziehen. Das Thema hat in vielen Adaptionen Anwendung gefunden und ist auch aus modernen Unterhaltungsfilmen kaum wegzudenken. Ob es sich nun um die Wasserfrau in Goethes Fischer handelt, um Heines Lore-Ley oder um die Sirenen in Homers Odyssee – stets wird von weiblichen Mischwesen berichtet, die lieblich anzuschauen sind, meist wunderschön singen und mit ihren todbringenden Reizen Menschen in die Tiefen des Wassers locken.2

Die Melusine ist ein Halbwesen aus Mensch und Wasserschlange. Jeden Samstag verwandelt sich ihr Körper von der Taille hinab in einen Schlangenschwanz. Währenddessen darf sie von niemandem gesehen werden, sonst geschieht großes Unglück. Die Geschichte von der Schlangenfrau reicht weit zurück. Die Melusine diente historisch-genealogisch als Ahnherrin des Adelsgeschlechtes Lusignan aus Poitou3 in Frankreich.4

Monster im Mittelalter

In der mittelalterlichen Gelehrtenwelt herrschen unterschiedliche Auffassungen über die Definition von Monstern, die zum großen Teil aus der Antike übernommen wurden. Meist handelt es sich um Wesen, die von der allgemeingültigen Norm abweichen und über ein destruktives Gemüt verfügen. Neben dem Einhorn, dem Drachen und dem Phoenix gibt es die sogenannten „monstra marina“. Diese bösartigen Meeresmonster sind die einzigen Wesen, die tatsächlich das Attribut „monstrum“ tragen.5 Daneben wurden häufig die Begriffe „Meerwunder“, und für Halbwesen aus Mensch und Monster die Begriffe „homines monstrosi“ oder „Hybride“ verwendet.6 Zur Herkunft und Entwicklung des Monsterbegriffes siehe den Artikel „Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs?“ von N. Dobers und „Fiktion und Realität – Die Rolle der Monster im mittelalterlichen Weltbild“ von F. Kaiser. In der allegorischen Auffassung des Mittelalters gelten darüber hinaus hässliche Monster als besonders scheußlich und abartig, da die abstoßende Äußerlichkeit die Innerlichkeit bedingen müsse.7 Ein Wesen, das von außen keinerlei Schönheit vorweisen kann, muss allegorisch gesehen auch im Inneren unschön sein: „Das häßliche Monster ist wider die göttliche Ordnung entstanden, es ist Ausdruck der Sündhaftigkeit“.8 Es verwundert also nicht, wenn besonders unglücklichen Monstern sogar der Besitz einer Seele abgesprochen wurde, denn „in der christlichen Weltanschauung bedeutet Schönheit auch göttliche Gunst“.9 Wenn die äußerliche Erscheinungsform den inneren Charakter widerspiegelt, scheint es recht verwunderlich, dass ein Adelsgeschlecht sich ausgerechnet ein Halbmonster zur Ahnin ausgewählt hat.

Die Überlieferung

Der Stoff der Melusine wurde mit den Jahren viel verändert und war besonders im französischen Sprachraum sehr beliebt. Bei der Melusine des Thüring von Ringoltingen handelt es sich um eine Adaption aus dem Französischen. Die Vorlage lieferten wahrscheinlich die Dichter Hélinand de Froidmont (um 1200), Couldrette und Jean d’Arras (beide um 1400).10 Es ist davon auszugehen, dass einige Merkmale des Halbmonsters zu Gunsten der Auftraggeber verändert wurden. Tatsächlich wird der Melusine des Thüring von Ringoltingen ein sehr religiöser Charakter zugesprochen, was im Mittelalter gerne gesehen wurde. Die Darstellung einer bewusst christlichen Melusine trug sehr wahrscheinlich zur „Verherrlichung der Familie“ bei.11 Nicola Neußel-Fischer beobachtet dazu, dass Melusine als „Ahnfrau“ in die Familiengeschichte der Lusignan eingesetzt und damit die „ursprünglich normbrechend-beängstigende Fremdheit der angeblichen Herkunft zu einem normstabilisierenden Ausweis der eigenen Erwähltheit“12 umgewandelt wurde. Dieser Artikel untersucht die Frage, ob es sich bei der Melusine um ein bewusst religiös-tugendhaftes oder eben doch ein monströses Wesen handelt, und analysiert dafür Melusines Charakterisierung insbesondere im ersten Aufeinandertreffen mit ihrem späteren Mann Reymund.

Melusines Charakterisierung

Als die junge Melusine ihren späteren Mann Reymund trifft, nennt sie ihn beim Namen und scheint auch sonst schon einiges über ihn und die Welt zu wissen. Sie kann ihm „alles […] was im widerfahren oder kuͤnfftig was“ berichten, und somit die Zukunft vorhersagen.13 Als er sie bemerkt, erschrickt er und ist nicht sicher, ob er „lebendig oder todt“, und ob das Wesen vor ihm „ein Gespenst oder ein Frauw“ ist.14 Melusine wird beschrieben als von „Hochgeboren unnd Adelicher gestalt“ mit einem „schoͤn Angesicht von Leib und Gestalt wol gezieret und zuͤchtig.15 Diese Beschreibung klingt alles andere als monströs. Die Frau scheint ein sehr vorteilhaftes Aussehen zu besitzen, ja sie ist so gottgefällig, dass Reymund seine Zurückhaltung vergisst, als sie von Gott zu sprechen beginnt, denn „alle Artickel Christliches Glaubens kundt sie ihm gar ordenlich erzelen“.16 Sie glaubt an die „huͤlff Gottes der alle ding vermag17 und gewinnt sein Herz mit ihrer religiösen Aufrichtigkeit: „Da nun Reymund hoͤret daß sie von Gott saget da gewan er einen besondern Trost18, und der junge Mann denkt bei sich: „Nun mag ich etwas Trost haben daß die Jungfrauw kein Gespenst noch keines Unglaubens sonern von Christlichem Blut kommen“.19 Die scheinbar perfekte Dame bietet Reymund eine Allianz an: Sie heiratet ihn und ihm wird es zukünftig an nichts fehlen („so sol dir Gut, Ehr, Gluͤcks unnd Gelts nimmermehr gebresten“),20 wenn er ihr den Eid leistet, sie an keinem einzigen Samstag von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang aufzusuchen oder sich nach ihr zu erkundigen: „Reymund du solt mir zum ersten schweren […] daß du mich zu einem Ehelichen Gemahel nemmen und an keinem Sambstag mir nimmer nachfragen noch mich ersuchen woͤllest weder durch dich selbs noch jemand anderem […], noch dich lassen darauff weisen daß du mich denn immer ersuchst wo ich sey was ich thu oder schaff sondern mich den gantzen Tag unbekuͤmmert lassen woͤllest.21

Dies ist das Motiv der sogenannten Mahrtenehe, in der sich ein übernatürliches Wesen mit einem Menschen verbindet.22 Melusine bietet Reymund ihre Liebe von sich aus an. Ihr Wille zur Ehe ist ein zusätzlich religiöses Motiv, doch versuchen viele Mahrten (mhd. „mâra“, vgl. engl. „nightmare“) durch eine Verbindung zum Menschen die Seele zu erlangen, die sie von sich aus nicht haben.23 Viele Mahrtenehen unterliegen einem Tabu. So ein Tabu kann zum Beispiel sein, dass der Mensch das übernatürliche Wesen zu einer bestimmten Zeit nicht sehen darf, keine Fragen stellen oder die Kammer des Wesens niemals betreten darf. Melusine verbietet Reymund, sie am Samstag zu sehen und er verspricht es ihr. Doch wenn er sein geluͤbd jemals brechen sollte, würden die ganze Familie, das Land und die Leute großen kummer gewinnen und all der empfangene Segen würde sich in Unheil verwandeln.24 Reymund leistet seinen Schwur und die Ehe verläuft gut. Dem Paar fehlt es an nichts und Melusine gebärt zehn gesunde Söhne, die jedoch alle eine gewisse Abnormität aufweisen. Der eine hat einen Eberzahn, der andere hat nur ein Auge in der Stirnmitte und wieder einer trägt ein Muttermal in Form einer Löwenpranke auf der einen Wange. Die Knaben entwickeln sich dennoch zunächst zu gutherzigen Männern,25 bis es zum Wendepunkt der Geschichte, dem Tabubruch Reymunds, kommt, denn fast immer sind Mahrtenehen zum Scheitern verurteilt.26 Nur ein Mal fragt Reymund nach der Herkunft der Melusine, doch sie antwortet: „Du kanst noch magest meinen Standt noch Wesen nicht eygentlich erkennen“.27

Melusine wird im Text als eine durch und durch christliche, gutartige und fromme Frau beschrieben. Sie äußert ihr unumstößliches Gottvertrauen in Anmerkungen wie, dass Gott sie schon mit allem Nötigen versorgen werde,28 baut ein Kloster „Mutter Gottes zu Ehren29 und dankt dem Herrn „von Hertzen und Mund“ dafür, dass er ihr so „groß gluͤck zugefuͤget hatt“.30 Leider währt das Glück nicht lange, da Reymund sein Versprechen nicht halten kann und an Melusine den Tabubruch begeht. Als sein Bruder ihm das Geschwätz im Volk weismacht („etlich die meynen sie treibe buͤberey“),31 packt ihn der Zorn und er schlägt ein Loch in die Tür, hinter der Melusine sich verbirgt, und entdeckt ihr Geheimnis.

Melusines Monstergestalt beginnt ab dem Nabel abwärts. Dort befindet sich anstelle von einem menschlichen Unterleib ein langer, „ungehewrer Wurmschwantz“ aus „blaw Lasur“ und „Silberfarb trpoͤfflich unter einander gesprengt“.32 Melusine ist ein Mischwesen aus Mensch und monströser Schlange. Der Verrat von Reymund trifft sie hart, denn er ruft vor Zeugen aus: „O du boͤse Schlang und schendtlicher Wurm der Samen noch all dein Geschlecht thut nimmer gut“,33 und beschimpft sie und ihre Herkunft und damit die gemeinsame Vergangenheit und ihre Kinder. In ihrer folgenden Klage erzählt Melusine, dass sie durch die Liebe Reymunds hätte gerettet werden können. Wenn er seinen Schwur nicht gebrochen hätte, hätte sie als normale Frau sterben können und ihre Seele wäre befreit gewesen: „hettest du mir dein Geluͤbd gehalten […] so were ich bey dir blieben […] unnd wer natuͤrlich gestorben […] nun so muß mein Leib unnd Seel zu dieser stund hie in leyden unnd pein bleiben biß an den Juͤngsten Tag“.34 Doch so könne er sie nie wieder in weiblicher Form sehen und all sein Glück und seine Seligkeit, Freude und Ehre müssten nun ein Ende haben.35 Daraufhin stürzt sie sich aus dem Fenster und fliegt drei Mal mit lauten Schrei um das Schloss herum.

„Rasse“ und Religion

Neußel-Fischer stellt in ihrer Untersuchung zur „Rasse“ in der Melusine fest, dass die Erzählung Melusine nicht explizit als Meerwunder kategorisiert, sondern lediglich davon berichtet, dass sie in eines verwandelt werde.36 Neußel-Fischer sieht Melusine im „Spannungsfeld der Kategorien“37 von Mensch und Monster und stellt darüber hinaus eine „Verschränkung von Religion und Rasse“38 fest, denn offensichtlich bedingt in der Erzählung die Religion die urtümlich monströse Herkunft oder kann sie zumindest beschwichtigen.39Heiden und Christen werden stark getrennt und es ist sogar die Rede vom christlichen Recht in Kämpfen gegen die Ungläubigen.40 Die Frage nach einer Trennbarkeit von Religion und „Rasse“ steht damit direkt im Raum und ist besonders gut an der einzigen Stelle der Erzählung nachzuvollziehen, in der von einem echten Monster berichtet wird: Ein Sohn von Melusine will einen schreckenerregenden Riesen töten und wird das laut Erzähler durch die „Barmhertzigkeit“ und „huͤlffe Gottes“ auch schaffen.41 Den Riesen werden sämtliche positive Attribute aberkannt, und jemand berichtet, „daß er kein Mensch sey sonder ein grauwsamlicher Teuffel.“42 Die Ermordung von Riesen ist damit gerechtfertigt und Melusine und ihre Nachkommenschaft von Halbwesen werden ganz klar von den wahren Monstern getrennt. (Ein Riese ist ironischerweise der einzige, der den Sohn wegen seines anormalen Aussehens – Eberzahn – verspottet.) An späterer Stelle wird das Geheimnis um Melusines Herkunft gelüftet. Auch ihrer Mutter und ihren Schwestern wurden Bedingungen einer Mahrtenehe auferlegt, die ihre Männer nicht halten konnten. Das eröffnet eine genealogische Thematik, die auch Melusines Nachkommen erfasst, denn obwohl die Söhne ein merkwürdiges Äußeres besitzen, gleicht ihr Verhalten zunächst dem herkömmlicher Helden, allerdings nur so lange, bis der Vater Reymund den geleisteten Schwur an seiner Ehefrau bricht. Ab diesem Zeitpunkt schlagen sämtliche Söhne in die Monstrosität um, und begehen große Schandtaten und Sünden. Diese genealogische Thematik kann im Artikel „Monströse Genealogie in der Melusine bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller nachgelesen werden.

Tugenden und Sünden

Das Mittelalter ist durchzogen von christlichen Weltbildern und Werten. Das Gute und Schöne wird meist mit christlicher Reinheit erklärt. So wird auch die Ahnherrin Melusine, wie oben gezeigt, als besonders christlich und tugendhaft dargestellt. Die Sieben Tugenden des Mittelalters sind Demut, Mildtätigkeit, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Wohlwollen und Fleiß. Das Gegenteil – also die Untugenden (besser bekannt als die Sieben Todsünden) – sind Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit.43 Melusine erfüllt bei Thüring von Ringoltingen sehr viele Tugenden. Sie gibt sich demütig ihrem Glauben hin und ist eine keusche juncvrouwe. Selbst nach dem schrecklichen Verrat und der Enthüllung des Schlangenwesens bleibt Melusine eine christliche Frau. Sie wird trotz ihres monströsen Geheimnisses als „die Tugendreiche und darzu die Hochgeborne44 beschrieben und bietet in ihrer langen Klage trotz aller Enttäuschung gegenüber Reymund und Aussicht auf ewige „Verfluchtheit“ immernoch ihren Trost an: „du solt auch von mir noch viel trosts unnd huͤlff zu gewarten seyn.“45 In tiefster Nacht sucht sie noch ihre beiden jüngsten Kinder auf, um sie an die Brust zu legen: „Melusina kam in die Kammer darinn die Kindt lagen und hube eines nach dem andern auff […] unnd wermet sie gegen dem Feuwer und seugt sie lieblich. Diß sahen die Ammen gar oft.46 Dieser Akt der Liebe macht das wahre Wesen der Melusine deutlich und kehrt die Erzählung vom schreckenerregenden Halbmonster spätestens jetzt in eine tragische Geschichte über eine verfluchte Frau um. Dies erklärt auch die sehr positive Darstellung der sonst eher negativ konnotierten Mahrtenehen.47 Die Sieben Todsünden finden in der Erzählung hingegen keinen großen Platz. Es können höchstens Reymund seine unbeständige Geduld und sein mangelndes Vertrauen vorgeworfen werden. Die Todsünde, die tatsächlich erwähnt wird, ist der Zorn der Söhne nach dem Tabubruch (s. dazu den Artikel über die monströse Genealogie).

Conclusio: Das christliche Monster

Melusine ist eine Frau mit christlichen Werten. Sie erfüllt wichtige christliche Tugenden, ist hilfsbereit, kümmert sich aufopferungsvoll um ihre Kinder und vergibt ihrem Mann selbst den so verheerenden Tabubruch. Nur am Samstag tritt ihr monströses Potenzial zutage, jedoch nur passiv, denn sie verliert niemals die Beherrschung und verletzt niemanden. Melusine ist zwar eine ambivalente Figur, jedoch hat sie sich aktiv für die tugendhafte Seite entschieden und lebt konsequent danach. Leider konnte sie von ihrem Dasein als Halbwesen nicht erlöst werden. Ihre Geschichte hat nichtsdestotrotz die Jahrhunderte erfolgreich überdauert und kann auch heute noch zugleich abstoßend und faszinierend wirken.