Der monströse Teufel in der mittelalterlichen Hagiographie

„In jedem Monster steckt der Teufel, und umgekehrt kann der Teufel selbst jedes Monster sein.“[1] Monster, gerade die menschlichen Missgebildeten, wurden in Antike und Mittelalter ontologisch oft in den Einflussbereich des Teufels bzw. einer bösen widergöttlichen Macht gestellt.[2] Die Hässlichkeit von Monstern wurde vor allem als Ausdruck ihrer Widernatürlichkeit und Sündhaftigkeit sowie als sichtbares Zeichen ihrer Distanz zu Gott interpretiert.[3] Doch umgekehrt trägt auch der Teufel in seiner Darstellung in Kunst und Literatur oft monströse Züge oder tritt in Gestalt eines Monsters auf. Seine Monstrosität ist dabei vielschichtig begründet und besteht vor allem in seiner Wandelbarkeit und Differenzlosigkeit.[4] Zudem liegt sein monströser Schrecken darin, dass er jederzeit in die Alltagswelt des Individuums einbrechen kann und als dauerhaft schlummernde Gefahr gilt.[5] Dieser Artikel thematisiert den monströsen Teufel und seinen Darstellungsmodus in der mittelhochdeutschen Literatur. Dabei werden zunächst der Teufel und seine Monstrosität in der mittelalterlichen Gesellschaft sowie in der mittelhochdeutschen Hagiographie allgemein eingeordnet. Denn es sind vor allem hagiographische Texte, in denen der Teufel einen festen Platz beansprucht und in denen Monstrosität als dessen Darstellungsmodus fungiert.[6] Im Mittelpunkt steht darauffolgend die Analyse und Interpretation der Darstellungsmodi des Teufels in der Margaretenlegende des Passionals, einer Heiligenlegendensammlung aus dem 13. Jahrhundert. Interessant ist hier vor allem die Doppelrolle des Teufels, der zunächst in Gestalt eines Drachen und ein zweites Mal in der menschlichen Gestalt eines ansehnlichen Jünglings auftritt.

Der Teufel in der mittelalterlichen Gesellschaft und Literatur

Im christlich geprägten europäischen Mittelalter galt die ständige Omnipräsenz des Teufels analog zu der Allgegenwart Gottes als selbstverständlich.[7] Die communis opinio sowohl der meisten Gelehrten als auch des Gros der Bevölkerung bestand dabei in einer Art „Pandämonismus“: Der Teufel ist potenziell überall und auf jeden Fall in allem Schlechten, für das er grundsätzlich ursächlich verantwortlich ist.[8] Damit unterscheidet sich der Platz des Teufels im mittelalterlichen Weltbild deutlich von dem der meisten „normalen“ Monster des Mittelalters: Diese sind meist in Grenzgebieten, in der Wildnis abseits der Zivilisation oder an den Rändern der Welt verortet. Sie zeichnen sich durch Grenzerfahrung und Besonderheit aus und sind der Gegenentwurf zu alltäglich, normal, gewöhnlich.[9] Der Teufel jedoch hat seinen Platz in der Lebenswelt und im Alltag der Menschen, wenn er auch dort meistens verdrängt wird. Einer der Hauptaspekte seiner Monstrosität besteht darin, dass er jederzeit plötzlich und unvermutet in die persönliche Lebenswelt jedes Individuums einbrechen kann.[10] Die Rolle Satans im christlich-mittelalterlichen Weltbild ist dabei an einigen Punkten unklar und paradox. Zum einen kann er nicht als einfache Antwort auf die Theodizee-Frage fungieren, da er nicht als ebenbürtiger Gegner Gottes aufgefasst werden darf. Zum anderen ist er einerseits Diener und andererseits eben doch Widersacher Gottes, wenn diesem auch letztlich immer unterlegen.[11] In der Literatur hat der Teufel wenig überraschend in der Hagiographie, also den geistlichen Heiligenlegenden, seinen festen Platz. Seine Hauptfunktion besteht dabei in der narrativen Inszenierung der Standfestigkeit und Gottestreue der Heiligen, da diese ihre Tugenden am deutlichsten im Umgang mit dem Teufel unter Beweis stellen können.[12] Die mittelalterliche geistliche Literatur folgt bei der Darstellung des Teufels weitestgehend bekannten Stereotypen der kirchlich ikonografischen Tradition, in der die Monstrosität des Teufels die gesamte Spannbreite der sinnlichen Wahrnehmung umfasst.[13] Die Darstellungsweise des Teufels bildet dabei ein auffallendes Komplementär zu den klassischen Darstellungsattributen der Göttlichkeit. Während diese sich u.a. durch hellstrahlende unveränderliche Schönheit und Wohlgeruch auszeichnet, ist der Teufel durch Dunkelheit, Hässlichkeit und Gestank gekennzeichnet.[14] Konstitutiv für den Teufel und Hauptmerkmal seines monströsen Schreckens ist zudem „seine amorphe Gestalt, die ihn zu immer weiteren Metamorphosen befähigt“.[15] Er kann sowohl die Gestalt von gewöhnlichen oder besonders schönen Menschen oder sogar von göttlichen Wesen als auch die von Monstren und Ungeheuern annehmen. Seine unberechenbare Wandelbarkeit macht einen großen Teil seines Bedrohungscharakters aus und ist ein distinktives Kennzeichen gegenüber unwandelbar schönem Göttlichen und Heiligen.[16] Monströs ist dabei vor allem, dass das antike Ideal der Kalokagathia nicht mehr aufgeht, nach dem Inneres und Äußeres einander entsprechend und ein schönes Äußeres auf ein gutes Inneres verweist.[17]

Die Doppelrolle des Teufels in der Margaretenlegende des Passionals

Die monströse Wandelbarkeit des Teufels zeigt sich besonders deutlich in der Margaretenlegende des Passionals, einer Legendensammlung des 13. Jahrhunderts. Die fromme Jungfrau Margarete wird im Alter von 15 Jahren von dem heidnischen Edelmann Olybrius entführt, der sie bei einem Ritt durch die Felder entdeckt hat und zur Frau nehmen will. Dafür soll Margarete jedoch dem Christentum abschwören und sich von Gott abwenden. Als die fromme Jungfrau sich weigert, wird sie mit der Aussicht auf Hinrichtung in den Kerker geworfen.[18] Eines Tages betet Margarete dann zu Gott und bittet ihn, ihr ihren wahren Feind zu offenbaren:

do bat die iuncvrowe gut
uz ires herzen demut
den guten got, den wisen
daz er ir wolde wisen
den vient, der uf sie vechte 
(P, S. 330, V. 17-21).

Gott erhört ihr Gebet und sogleich erscheint ein riesiger, furchterregender Drache in Margaretes Verlies, der sie mit einem Mal vollständig verschlingt. Margarete erkennt in diesem dämonisch semantisierten Monster sofort den Teufel, bekreuzigt sich und das Ungeheuer bricht entzwei. Der Teufel ist nun voller „schande un unere“ (P, S. 330, V. 60) und macht einen zweiten Versuch die standhafte Jungfrau für sich zu gewinnen. Diesmal kommt er in Gestalt eines ansehnlichen Jünglings und umgarnt das Mädchen mit wohlklingenden Worten. Diese aber ringt ihn ohne zu zögern mit beiden Händen zu Boden, da sie an dem Inhalt seiner Rede erneut den Satan erkennt. Daraufhin stellt sie den Teufel zur Rede, warum er der Christenheit so viel Böses antut und dieser erklärt ihr ironischerweise die für ihn demütigenden Verhältnisse seit dem Luzifersturz und der Verbannung in die Hölle. Nachdem Margarete ihre Antwort erhalten hat, lässt sie den Teufel wieder ziehen. (vgl. P, S. 326-332)

Die Legende weist zunächst einmal die typische „holzschnittartige Schematik“ frühmittelalterlicher Heiligenlegenden auf: Die Heilige steht standhaft und unerschütterlich allen Listen, Verführungen und gewaltvollen Angriffen des Teufels zum Trotz auf der Seite Gottes.[19] Dabei geht es nicht um den vielleicht schwankenden und ambivalenten innerseelischen Prozess, der eine Wendung zum Guten oder Bösen hervorbringt, sondern um die punktuelle Entscheidung für Gott oder den Teufel.[20] Interessant sind hierbei nun vor allem die Darstellungsmodi des Teufels. Dieser tritt ausdrücklich in zwei komplementären Gestalten mit differierenden Implikationen auf, die beide ihre ganz eigene teuflische Monstrosität offenbaren: Er versucht Margarete in Gestalt eines riesigen Drachens zu bezwingen und in menschlicher Gestalt eines schönen Jünglings zu verführen. Dies macht allein schon zwei Hauptaspekte des teuflischen Schreckens und der teuflischen Monstrosität aus: die amorphe Gestalt des Teufels, seine unberechenbare Wandelbarkeit.[21] Der zweite Hauptaspekt besteht darin, dass durch seine gestaltliche Wandelbarkeit und seine Fähigkeit äußerlich gewöhnliche oder gar schöne Formen anzunehmen, das antike Ideal der Kalokagathia nicht aufgeht.[22] In der Margaretenlegende wird dies beim zweiten Auftritt des Teufels deutlich: er „liez sich alda schowen/ als ein iungelinc gestalt,/ wand sin kunst ist manicvalt“ (P, S. 330, V. 66-68). Bemerkenswert ist auch, dass der Teufel als erstes nicht in Gestalt irgendeines Monsters in Erscheinung tritt, sondern als das Monster unter den Monstern: als Drache. Der Drache ist in der literarischen und kulturellen Tradition des Abendlandes von Beginn an in Analogie zu Hölle und Satan persönlich gesetzt.[23] Der Drache steht in der mittelalterlichen Hagiographie für eine „unpersönliche Präsenz des Bösen“.[24] Damit steht er im Gegensatz zu einer figuralen, personalen Imagination und Konfiguration des Teufels, hier dem Jüngling. Der Kampf mit dem Monster wird in der mittelalterlichen Hagiographie als Kampf mit dem Bösen, mit der Hölle, dem Teufel, verstanden.[25] Auffallend ist dabei die unterschiedliche Abwehr des Teufels je nach Erscheinungsform. Der Drache verschlingt Margarete sofort vollständig, körperlich hat sie also keine Chance. Gegen diese archaische Form des Bösen hilft dann nur noch die Bekreuzigung, die waffenlos exorzistisch wirkt. Das Zeichen des Kreuzes steht dabei pars pro toto für die Erlösungstat Christi.[26] Die menschliche Gestalt hingegen wird mit direkter körperlicher Gewalt überwunden und muss nach der Niederlage noch Rede und Antwort stehen. Teufel und Heilige stehen hierbei also in engem Kontakt: zunächst auf einer körperlichen dann geistigen Ebene. Ironisch ist nun hierbei, dass der Teufel das theologische Konzept der Engelschorlehre aufgreift – ausgerechnet er, der gefallene Engel, der den Aufstand gegen Gott verloren hat und mitsamt Gefolge in die Hölle verbannt wurde.[27] Damit bestätigt er den Status der Heiligen und manifestiert seine eigene Demütigung.

Fazit

Die teuflische Monstrosität besteht also zusammenfassend zum einen darin, dass dieser in der Kunst und Literatur des Mittelalters oft mit monströsen Attributen dargestellt wird oder vollständig in der Gestalt eines Monsters auftritt. Seine wahre Monstrosität, sein ultimativer Schrecken besteht jedoch in zwei Eigenschaften, die ihn von gewöhnlichen Monstern des Mittelalters eher abgrenzen. Zunächst einmal existiert der Teufel im mittelalterlichen Weltbild nicht (nur) in den Schwellenräumen, in den Randgebieten der bekannten Welt oder im Exil, sondern gerade und vor allem mitten in der Alltagswelt aller Menschen. Er kann jederzeit in das Bekannte und Alltägliche des Individuums einbrechen und ist gerade deswegen so bedrohlich. Keiner ist jemals sicher vor dem Teufel, außer er ist frommer Christ und steht stets an der Seite Gottes. Die zweite Eigenschaft, die die Monstrosität des Teufels konstituiert, besteht darin, dass er das antike Kalokagathia-Ideal ad absurdum führt, indem er jede denkbare Gestalt annehmen kann. Seine amorphe Gestalt birgt die Gefahr, dass in jedem und allem der Teufel stecken kann, sogar in dem schönsten, edelsten Körper. Dies zeigt sich auch in der Margaretenlegende des Passionals. Zunächst erscheint der Teufel in Gestalt eines Monsters und dann in Gestalt eines schönen Jünglings, womit er seine amorphe Gestalt bestätigt und das Kalokagathia-Ideal negiert.


[1]Hammer, Andreas: Ordnung durch Un-Ordnung. Der Zusammenschluss von Teufel und Monster in der mittelalterlichen Literatur. In: Geisenhanslüke, Achim/ Mein, Georg (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 221.

[2]Vgl. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2013, S. 68-70.

[3]Vgl. Haug, Walter: Der Teufel und das Böse. In: Ders. (Hg.): Strukturen als Schlüssel zur Welt: Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen: Niemeyer, 1989, S. 70.

[4]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220f.

[5]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 210f.

[6]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 209, 218.

[7]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 210f.

[8]Vgl. Dinzelbacher, Peter: Die Realität des Teufels im Mittelalter. In: Segl, Peter (Hg.): Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus maleficarium von 1487. Köln: Böhlau 1988, S. 153.

[9]Vgl. Schmitz-Emans, Monica: Monster: Eine Einführung. In: ApuZ 52 (2013). S. 11-17.

[10]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 210f.

[11]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 211-213.

[12]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 209f.

[13]Vgl. Brenk, Beate: Teufel. In: Kirschbaum, Engelbert (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Sp. 295-300.

[14]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 219 f.

[15]Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220.

[16]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220.

[17]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 225 f.

[18]Vgl. Das Passional. Eine Legendensammlung aus dem Dreizehnten Jahrhundert, hg. und mit e. Glossar versehen v. Friedrich Karl Köpke. Quedlingburg/ Leipzig: Basse 1852, S. 327; Im Folgenden zitiert unter P, alle Seiten- und Versangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

[19]Vgl. Haug: Der Teufel und das Böse, S. 70 f.

[20]Vgl. Haug: Der Teufel und das Böse, S. 71.

[21]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220.

[22]Zum antiken Ideal der Kalokagathia vgl. Pappas, Katherine: Die hässliche Grasbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer Schurken Magier. St. Gallen 2001. S. 157-172

[23]Vgl. Joyce Tally Lionarons: The Medieval Dragon. The Nature of the Beast in Germanic Literature, Middlesex 1998, S. 17-21.

[24]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 230.

[25]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 231.

[26]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 230.

[27]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 229.

Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs?

„Monster. Substantiv, Neutrum – furchterregendes, hässliches Fabelwesen, Ungeheuer von fantastischer, meist riesenhafter Gestalt.“[1] Das ist laut dem Duden Online-Wörterbuch im 21. Jahrhundert ein Monster: furchterregend, hässlich, riesenhaft – ein Ungeheuer. PONS fügt noch ein weiteres entscheidendes Merkmal hinzu: Bei einem Monster handelt es sich um „ein Fantasiewesen in der Gestalt eines schrecklichen Ungeheuers“[2]. Der Begriff des Monsters referiert in der modernen Gesellschaft also auf ein Wesen, das mit einem Menschen wenig gemein hat. Ein Monster ist riesenhaft, furchterregend, schrecklich und vor allem eines: ein Fantasiewesen. Monster existieren in der Welt der Filme und Bücher, in der Fantasie, aber nicht im realen Leben. Und Monster sind nicht menschlich. Oder womöglich doch? Es existiert aber auch noch eine andere Bedeutungsebene des Begriffs ‚Monster‘: eine metaphorische. Und in dieser Hinsicht können sehr wohl auch Menschen Monster sein. Googelt man die Begriffe ‚Monster‘ und ‚Mensch‘ gemeinsam, stößt man unter anderem auf eine Videoreihe der Fernsehproduktionsfirma Spiegel-TV mit dem Titel „Monster oder Mensch“[3]. Thematisiert werden z.B. der Frauenmörder Frank Gustl, der Entführer und Vergewaltiger von Natascha Kampusch und das „Inzestmonster“[4] Joseph Fritzl.

Dieser Blog beschäftigt sich mit Monstern in der mittelhochdeutschen Literatur. Doch galten im Mittelalter dieselben Vorstellungen davon, was unter einem Monster zu verstehen ist, wie im Jahr 2018? Um die Hürde der Alterität bei der Lektüre, Analyse und Interpretation überwinden zu können, ist zunächst wichtig, welche Vorstellungen des Monströsen den mittelalterlichen Autoren vor Augen standen bzw. vor Augen stehen konnten. Dieser Beitrag beschäftigt sich daher einleitend mit der Frage, was im Mittelalter als Monster oder als monströs galt. Genauer lässt sich fragen: Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs? Fabelwesen und tierische Ungeheuer werden hier ausgeklammert und in einem anderen Beitrag thematisiert.

Zum Begriff des ‚Monsters‘: Etymologie und terminologische Vielfalt in der mittelhochdeutschen Literatur

Zunächst einmal stellt sich die Frage, was der Terminus ‚Monster‘ überhaupt bedeutet, woher der Begriff etymologisch betrachtet kommt und wie bzw. ob er im Mittelalter verwendet wurde. Die letzte Frage lässt sich schnell und einfach beantworten: ‚Monster‘ ist die in das Neuhochdeutsche eingebürgerte und angepasste Form des lateinischen ‚monstrum‘ und wurde in dieser Form erst im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache eingeführt.[5] Im Mittelalter wurde also entweder der lateinische Terminus Monstrum verwendet oder gänzlich andere Termini zur Beschreibung des Monströsen. Doch zunächst zurück zum lateinischen monstrum. Es verweist auf die antike Verbindung des Monstrositätskonzeptes mit der Bedeutung von Zeichen, Mahnzeichen und Wundern. Monstrum leitet sich von dem Verb monere (= mahnen, warnen, erinnern) ab und macht deutlich, dass Monstra in der Antike nicht bloß als zufällige Laune der Natur wahrgenommen wurden, sondern als Warnungen: als Zeichen im negativen Sinn.[6] In mittelhochdeutschen Texten wurden viele verschiedene Begriffe verwendet, um monströse Menschen zu bezeichnen: am häufigsten wunder oder das davon abgeleitete Adjektiv wunderlich, welches sowohl den Sinn vom lateinischen mirabilia als auch von miraculum übernimmt und Einzigartigkeit ausdrückt.[7] Zudem wurden die Termini ungehiure und ungehiurlich verwendet, um Monstrosität von Wesen zu beschreiben; beide Ausdrücke beziehen sich auf den Terminus ‚geheuer‘, dessen Bedeutung ‚vertraut‘, ‚heimlich‘ ist[8]. Die Verneinung dieses Wortstammes weist also auf etwas Unvertrautes, Fremdes hin und ist ein Hinweis darauf, dass Ungeheuerlichkeit und Fremdes gedanklich verknüpft waren.[9] Die Termini creatiure (= Kreatur, Geschöpf) und kunder (= lebendes Wesen, Tier, Geschöpf) fanden an Stellen Verwendung, an denen der menschliche Status des Geschöpfes zweifelhaft oder sogar ausgeschlossen ist, bleiben dabei aber wertungstechnisch weitestgehend neutral. Anders gestaltet sich dies bei unkunder (= Ungetüm, Monstrum), welches eine starke Negativität impliziert.[10] Es gibt laut Antunes im Mittelhochdeutschen „trotz Terminuspluralität tatsächlich kein Wort […], das dem Sinngehalt des lateinischen monstrum mit ungefährer Genauigkeit entspricht.“[11] Die vielen dafür eingesetzten Bezeichnungen geben den damit bezeichneten Wesen unterschiedliche Wertstellungen.

Monstrosität als Äußerlichkeit: Schönheit und Hässlichkeit im Mittelalter

Monstrosität war im Mittealter eine primär äußere Erscheinung: Ein (menschliches) Monster konnte sich nicht verstecken: Es war entstellt, sichtbar fremd und anders. Das heißt aber nicht, dass das Innere der Monstren in der Regel als schön und edel angenommen wurde. Vielmehr galten im Mittelalter ganz bestimmte Vorstellungen von Schönheit, Hässlichkeit und ihrem Verhältnis zum inneren Wesen einer Person, die im Folgenden kurz expliziert werden sollen. Nach Hans Robert Jauss verbinden sich in der mittelalterlichen Ästhetik die antike und die christliche Auffassung von Schönheit und Hässlichkeit.[12] Für die antike Auffassung war das Ideal der Kalokagathia maßgebend: Nach diesem gehen Inneres und Äußeres aller Erscheinungen ineinander auf. Das Hässliche wird mit dem Niedrigen gleichgesetzt und das Schöne automatisch mit dem Guten. Das hässliche oder entstellte Äußere eines Menschen verwies also auf seinen verdorbenen Charakter, während die wahre Schönheit in der Antike mit der Schönheit von Geist und Seele einherging.[13] Diese „Deckungsgleichheit von Scheinen und Sein“ hatte auch noch im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur Geltung.[14] Dem gegenüber stand die theologische Auffassung des Mittelalters: Eine Dichotomie von Hülle und Kern muss demnach für alle Erscheinungen der sichtbaren Welt angenommen werden und alles auf seinen verborgenen geistigen Inhalt hin untersucht werden. Hässliches wie Schönes können nach dieser Vorstellung gleichermaßen Akzidenzien des Guten sein[15]. Es gab sogar einen Streit, worin das Wirken Gottes stärker zum Ausdruck komme: in der irdischen Schönheit als Abbild der Schönheit Gottes oder im Hässlichen, das deutlich mache, dass alles Irdische, Sichtbare nur Zeichen auf ein Höheres sei.[16]

Mittelalterliche Konzepte des monströsen Menschen

Vor allem aus dem antiken Verständnis des Verhältnisses von äußerer, körperlicher Hülle und dem Inneren, der Persönlichkeit, ergibt sich, wodurch menschliche Monstrosität im Mittelalter im Wesentlichen konstituiert wurde: ein entstelltes Äußeres. Der monströse Mensch war also oft ein Körperbehinderter, eine sog. Missgeburt.[17] Der Status von Missgeburten war auch noch im Mittelalter wesentlich von antiken Vorstellungen geprägt. Im antiken Weltbild galten missgebildete Nachkommen, wie sich in der Bezeichnung niederschlägt, als Mahnung und Warnzeichen. Sie wiesen auf einen Bruch der kosmischen Ordnung hin und galten als Bedrohung für die Beständigkeit von Staat und Gesellschaft.[18] Obwohl im Mittelalter sowohl für exotische Menschenvölker als auch für Missgeburten die lateinischen Termini ‚monstrum‘ und ‚mirabilia‘ gebraucht wurden, wurde zwischen beiden Formen des monströsen Menschen durchaus eine Unterscheidung gemacht. Während man erstere als Zeichen dessen betrachtete, was alles möglich ist, wurden letztere in den Texten von Chronisten häufig erwähnt und meist gemäß der antiken Vorstellung als Mahnzeichen bevorstehenden Unglücks oder als göttliche Strafe interpretiert.[19] Dies lässt sich auch in der Literatur wiederfinden. Im ‚Alexanderroman‘ deutet die Geburt eines missgestalteten Wesens den bevorstehenden Untergang sowohl des Helden als auch seiner Herrschaft voraus.[20] Ein weiteres Monsterkonzept, das die Schwelle des Menschlichen oftmals schon weit überschreitet, ist der Tiermensch: ein Mischwesen aus Mensch und Tier. Foucault definiert das Monster vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein konzeptuell als Mischwesen der Bereiche des Menschlichen und des Animalischen. In seinem ontologischen Status verweist der Tiermensch dabei auf einen widerrechtlichen und widernatürlichen Zeugungsakt zwischen einem Tier und einer Menschenfrau.[21] Das Konzept des Tiermenschen existierte im Mittelalter aber nicht nur auf der Ebene des körperlich Hybriden, sondern war auch bei der kulturellen und gesellschaftlichen Grenzziehung relevant. Jenseits dieser Grenzen befanden sich der Wilde Mann und die Wilde Frau, die als Asoziale in der Wildnis lebten und auf gesellschaftliche und höfische Regeln verzichteten. Sie werden herkömmlicherweise durch Merkmale wie starke Körperbehaarung, Nacktheit, prekäre Lebensbedingungen und Entfernung von der Zivilisation charakterisiert.[22] Auch Wundervölker sollen bei mittelalterlichen Konzepten des monströsen Menschen nicht unerwähnt bleiben. Als Beispiel kann hier das Volk der hundsköpfigen Menschen genannt werden, die Kynocephalen, bei denen sich zwei Konzepte überlappen:  jenes des exotischen Menschenvolkes, das vor allem durch seine Fremdheit monströs erscheint,[23] und das Konzept des Monsters als Mischwesen von Mensch und Tier. Wundervölker waren den abermals von der Antike geprägten mittelalterlichen Vorstellungen gemäß an den Rändern der Welt angesiedelt wie auch mittelalterliche Weltkarten verdeutlichen.[24]

Fazit: Vergleich zu modernem Menschenmonster

Wann also galt ein Mensch im Mittelalter als monströs? Ein Mensch wurde durch seine äußere Gestalt zum Monstrum. Entweder war diese missgebildet oder derart fremd und andersartig, dass sie als monströs wahrgenommen wurde. Die Reaktionen auf die Erscheinung solcher missgestalteten Menschen, z.B. die Geburt eines körperbehinderten Babys, waren überwiegend negativ, da dies als Warnung und Mahnzeichen Gottes gedeutet wurde. Auf der anderen Seite jedoch gab es vor allem von Seiten der Kirche die Aufforderung sich gegenüber Missgestalteten karitativ zu verhalten[25] und menschliche Monster wurden als Zeichen der Schöpfungsmöglichkeiten Gottes gesehen. Interessant erscheint nun abschließend ein kurzer Vergleich zu den eingangs erwähnten modernen Populärkonzepten von menschlichen Monstern, die in das Konzept von Foucaults Sittenmonster passen.[26] Die Diskrepanz zwischen mittelalterlichen und modernen Vorstellungen des monströsen Menschen erscheint immens. Heutzutage werden große gesellschaftliche Bemühungen angestrengt, geistig und körperlich behinderte Menschen in die Gesellschaft einzugliedern, eine Bezeichnung derselben als monströs erschiene skandalös und menschenverachtend. Die Menschenmonster der Moderne sind vielmehr unsichtbar: Ihre Monstrosität liegt im Verborgenen und zeigt sich erst durch ihre monströsen Gräueltaten, die mitunter nie ans Licht kommen.

 


[1]Monster. In: DUDEN Online-Wörterbuch, unter: https://www.duden.de/suchen/dudenonline/monster[gesehen: 06.07.2018, 11:34].

[2]Monster. In: PONS Online-Wörterbuch, unter: https://de.pons.com/übersetzung?q=Monster&l=dede&in=&lf= [gesehen: 06.07.2018. 11:48].

[3]Vgl. SPIEGEL.TV: Monster oder Mensch 1, unter: https://www.spiegel.tv/videos/128004-monster-oder-mensch-1[gesehen: 06.07.2018, 12:08].

[4]Vgl. Parr, Rolf: Monstrosität, „das große Modell aller kleinen Abweichungen“. In: ApuZ 52 (2013). S. 7-10 (hier: S. 9).

[5]Vgl. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in der mittelhochdeutschen Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2013, S. 36.

[6]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 34f.

[7]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 36f.

[8]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 37.

[9]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 37f.

[10]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 38.

[11]Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 38.

[12]Vgl. Jauss, Hans Robert: Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur. In: Ders. Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-76. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 385-411.

[13]Vgl. Pappas, Katherine: Die hässliche Grasbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer Schurken Magier. St. Gallen 2001. S. 157-172 (hier: S. 159).

[14]Pappas: Die hässliche Gralsbotin Cundry, S. 159.

[15]Vgl. Pappas: Die hässliche Gralsbotin Cundry, S. 160.

[16]Vgl. Pappas: Die hässliche Gralsbotin Cundry, S. 160.

[17]Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Monster: Eine Einführung. In: ApuZ 52 (2013). S. 11-17 (hier: S. 14f.).

[18]Vgl. Friedmann, John Block: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought [1981]. Syracuse 2000, S. 179.

[19]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 43f.

[20]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 43f.

[21]Vgl. Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-75). Textauszüge. In: ApuZ 52 (2013). S. 3-7 (hier: S. 4f.).

[22]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 49f.

[23]Vgl. Pochat, Götz: Das Fremde im Mittealter. Darstellung in Kunst und Literatur. Würzburg: Echter 1997.

[24]Vgl. Schmitz-Emans: Monster, S. 13.

[25]Vgl. Schmitz-Emans: Monster, S. 15.

[26]Vgl. Foucault: Die Anormalen, S. 5-7.