Die Monster von heute und die des Mittelalters sind vor allem eines: anders als der ‚normale’ Mensch. Durch ihr Aussehen, ihr (Sozial-) Verhalten und andere Attribute wirken sie fremd, zumindest aus der Sicht des Menschen. Die Fremdheit des Monsters steht also im konkreten Bezug zum Menschen, die Entstehung von Monstern deutet damit bereits eine psychologische Notwendigkeit für den Menschen an.
Im Folgenden soll sich mit der Frage beschäftigt werden, inwiefern das Fremde sich im Monster widerspiegelt und ob sich in dieser Versinnbildlichung ein psychologischer Zweck findet. Im Zuge dessen wird hinterfragt, ob die monstra des Mittelalters als Prinzip der Fremdheit zu verstehen sind oder ob fremde Menschen (aus europäischer Sicht) zu Monstern gemacht werden. Zunächst soll dazu der zeitgenössische Fremdheitsbegriff und der des Mittelalters bestimmt werden, um im Weiteren auf den Fremdheitsaspekt des Monsters genauer eingehen zu können. Methodisch wird dazu verschiedene Sekundärliteratur zur Fremdheit allgemein und im Mittelalter und dem Fremdheitsaspekt des Monsters herangezogen. Es wird nicht auf einzelne Primärquellen eingegangen, um einen eher allgemeinen Blickwinkel zu ermöglichen.
Zeitgenössischer Fremdheitsbegriff und des Mittelalter
„Fremde werden gemacht, früher wie heute. Denn das Fremde ist keine Eigenschaft von Sachen oder Personen an sich, sondern steht in Relation zu ihnen.“1 Das Fremde bezieht sich also immer auf das Eigene, Gewohnte und Vertraute. Erst durch die offensichtliche Andersartigkeit entsteht das Fremde.
Das Fremde erscheint dabei durchweg als ein relationaler Begriff der Abgrenzung vom Eigenen nach unterschiedlichen Kategorien, wobei die Frage, welche Kriterien denn als „fremd“ (und nicht als „anders“) vom Eigenen abgrenzen, keineswegs einhellig zu klären ist, da „Fremdheit“ in erster Linie ein Resultat der subjektiven Empfindung und Mentalität ist.2
Fremdheit lässt sich also nicht als statischer Begriff definieren. Der Begriff hängt demnach von einer subjektiven Perspektive ab und ist folglich anhand unterschiedlicher Kategorien differenzierbar.
Insgesamt betrachtet, unterscheiden sich „Fremde“ danach vom „Eigenen“ (potentiell) durch Herkunft, Aussehen und Verhalten, Glauben, Sitten und Sprache sowie mangelnde Integration oder, allgemein, durch eine „kulturelle Unvertrautheit“ (Münkler), doch ist letztlich zwischen unterschiedlichen Fremdheitskategorien zu differenzieren (kulturell, regional, gesellschaftlich, religiös und ethno-politisch).3
Abseits von den verschiedenen Kategorien und Formen der Fremdheitsbestimmungen muss beachtet werden, dass der moderne Begriff nicht einfach auf den mittelalterlichen übertragen werden kann – auch wenn es dem mittelalterlichen Denken, bei der Konstituierung des Fremden, ebenfalls um eine Abgrenzung zum Eigenen ging.4
Goetz untersuchte dazu die verschiedenen mittelalterlichen Fremdheitsbegriffe: advena (der von außen hinzuziehende), alenius bzw. alenigenus (Entfernung von der Kategorie räumlicher Herkunft, Einschließung rechtlicher Aspekte), exter(n)us (Abgrenzung des Eigenen zur Außenwelt, ohne erkennbare Merkmale) und extraneus (Abgrenzung zum Eigenen in jeder erdenklichen Weise, z.B. Volk, Reich, Herrschaft, Religion etc.).5 Außerdem lässt sich Fremdheit nicht nur als objekt-bezogene Perspektive in mittelalterlichen Texten finden, sondern auch als eine Art des Sich-Fremd-Fühlens.6
Das Konzept von Andersartigkeit und Fremdheit war im Mittelalter durchaus bekannt und präsent, auch Unterschiede in ethnischer, politischer, geographischer, religiöser und kultureller Sicht, jedoch wurde danach nicht aktiv kategorisiert.7
Im Folgenden soll betrachtet werden, wie sich das mittelalterliche Konzept von Fremdheit in Bezug zum Monströsen verhält.
Die Fremdheit des Monsters
Laut Simek dient „das Monströse […] nicht der Darstellung von Bedrohlichkeit, sondern in erster Linie der Definition des Anderen, des Fremden, und zwar vorrangig des Fremden in großer Ferne.“8 Dabei wäre genauer zu untersuchen, um welche Art von Fremdheit es sich bei der Ausgestaltung des Monströsen handelt: das Fremde im Monster als generelles Prinzip oder als Inspiration realer Begegnungen mit dem Fremden (aus europäischer Sicht), welche zur Ausgestaltung der Monster führen.
Zunächst sollte dazu der Begriff des Monsters genauer differenziert werden. (Siehe hier: Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs? )Volker Scior bezeichnet Monster generell als deformierte Körper und unterscheidet dabei zwischen Individuen und Völkerschaften.9 Die Differenzierung zwischen einheimischen Missbildungen (bzw. sog. Missgeburten) und fremden, weit entfernt wohnenden Völkern, tauchte erstmalig bei Plinius auf. Erstere seien in psychiatrischen oder medizinischen Gutachten zu finden, letztere verzeichnet in den mittelalterlichen mappae mundi und in Reiseberichten.10
Die mittelalterlichen monstra (Monster) oder homines monstruosi (monströse Menschen) stellen also eine Abweichung, meist körperlich, zum bekannten und idealtypischen Menschen dar. Von einzelnen deformierten Körperteilen bis zu Mischwesen, zwischen Tier und Mensch oder zwei Geschlechtern, lassen sich viele verschiedene Formen des Monströsen – und damit der Andersartigkeit – in mittelalterlichen Texten finden.11
Durch die Differenzierung von individuellen Monstern und Wundervölkern wurde bereits eine erste Unterscheidung von Fremdheit gemacht: Die individuellen Monster oder Missbildungen sind bekannt und erfahrbar, während die Völkerschaften weit entfernt wohnen und dadurch besonders fremd bzw. phantastisch wirken. Trotzdem stellen sich beide Arten durch ihre Andersartigkeit heraus. Diese Fremdheit besteht jedoch nicht als natürlicher Zustand – das Monster entsteht durch die Relation zum ‚normalen’ (subjektiv betrachtet) Menschen:
Die ‚Existenz’ von monstra ist vom Menschen abhängig. Sie wird medial vermittelt. Monster existieren lediglich als von Menschen so Bezeichnete und Gedachte. Das Monster dient als ein Konzept, um den Menschen zu denken, in Abgrenzung etwa zu dem, was als nicht mehr menschlich angesehen wird.12
Es wird also bereits eine Parallele bemerkbar: Wie das zuvor definierte Fremde, ist das Monster abhängig von einer subjektiven Perspektive (hier, der idealtypische Mensch) und tritt durch seine Andersartigkeit des Vertrauten, in Erscheinung. Auch Foucault behauptet, „daß das Monster das große Modell aller kleinen Abweichungen“13 sei. Simek erläutert, dass die Fremdheit des Monsters besonders durch seine Mängel hervorgehoben wird (z.B. keine verständliche Sprache, keine manierlichen Sitten, kein geordnetes Sozialwesen usw.).14 All diese Kategorien stellen ebenfalls eine Bewertung eines subjektiven Blickwinkels dar und stellen Andersartigkeit heraus. Es scheint, das monstrum fungiere als Grenzziehung zum Eigenen und Vertrauten – also als Grenzziehung zum Menschen.
Das Monster als Ausdrucksmittel der Alterität
Diese Beobachtung führt zur Frage der Alterität, also der (in Philosophie und Psychologie bezeichneten) „identitätsstiftende[n] Verschiedenheit zweier aufeinander bezogener Identitäten.“15 Zunächst soll also betrachtet werden, inwiefern das Fremde eine abgrenzende Wirkung zum Eigenen und damit einer anthropologischen Selbstfindung nützlich sein könnte. Albrecht Classen schreibt dazu: „Zugleich konstituiert das ‚Fremde’ in reflexiver Weise das ‚Eigene’ und bietet ihm durch die binäre Opposition den notwendigen Raum, um sich eine Identität zu schaffen.“16
Fremdheit herauszustellen dient also vor allem auch der Identitätsbildung, laut Meier gilt dies auch für das Mittelalter.17 Durch die Hervorhebung der Andersartigkeit zum Eigenen und Vertrauten, wird sich der Mensch dessen erst bzw. besonders bewusst. Wie zuvor festgestellt, unterscheidet sich das Monster nicht nur durch sein Äußeres, sondern auch durch sein Verhalten, zum ’normalen‘ Menschen. Folgt man also der These der Alterität, spiegelt sich im Monster das Gegenbild vom Idealtypus des (mittelalterlichen) Menschen wider und dient somit der Selbstfindung durch Abgrenzung: „Das Monster dient als ein Konzept, um den Menschen zu denken, in Abgrenzung etwa zu dem, was als nicht mehr menschlich angesehen wird.“18
Die Frage nach der prinzipiellen Fremdheit des Monsters ließe sich also damit bestätigen, dass sich seine Andersartigkeit als Grenzzug zum Menschen realisiert. Das Monster könnte also auch durch interkulturelle Begegnungen bzw. Begegnungen mit Fremden entstehen bzw. als überzeichnete Darstellung des Fremden.
Diese Frage müsste man vor allem auf die Wundervölker beziehen, da diese in den entlegenen Gebieten wohnen und nur aus Reiseberichten bekannt sind.
Das Monster als Gestaltung ethnographischer Fremdheit
Interessanterweise verschob „die zunehmende Kenntnis der Erde […] die Grenzen des Erfahrbaren und damit die möglichen Wohnorte der Wundervölker immer weiter an den Rand der bekannten Welt“.19 Dies bedeutet, dass das Monster eher als ein fantasievolles Konzept der Fremdheit gesehen werden muss bzw. als eine imaginäre Fremdheitsvorstellung.
Friedrich schreibt dazu: „Dort wo die Ethnographie in unbekannte Räume ausgreift, wird die Leere zur Projektionsfläche von Phantasmen.“20 Hier stellt sich die Frage, ob die Wundervölker im Mittelalter als reine Fiktion gesehen werden müssen oder ob sich zu ihnen auch ethnographische Inspirationen finden, welche möglicherweise durch Reisende, in Begegnung zu fremden Kulturen, geweckt worden sind.
Simek versuchte einen derartig ethnologischen Erklärungsansatz zu bieten und suchte nach möglichen Inspirationsquellen einzelner Monster: „Auf konkret ethnologische Erfahrungen zurückgehen dürften viele Wundervölker, die hypertrophe, aber nicht medizinisch-pathologisch zu erklärende Körperteile aufweisen.“21
So führt er beispielsweise die Amycterae (Großlippler), dessen Lippen, in mittelalterlichen Erzählungen, so groß sind, dass sie sich diese über den Kopf stülpen können und sich damit vor der Sonne schützen, an. Dieses Wundervolk könnte durch die Lippendehnungen der Ubangi in Afrika und verschiedene polynesische Stämme inspiriert worden sein.22
Zu den Panoti bzw. Großohren schreibt Simek:
Zwar ist die Darstellung von mehr als bodenlangen Ohren übertrieben, von Bewohnern der Salomoninseln wird jedoch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts berichtet, dass ihre von zahlreichen Öffnungen durchbrochenen Ohrläppchen in einer Weise gedehnt wurden, dass mache Eingeborene einen beträchtlichen Teil ihres Hab und Guts in diesen Öffnungen hängend mit sich tragen konnten.23
Die Acephalen, also Kopflose, gehen möglicherweise auf Menschen zurück, die bemalte Masken trugen, welche eine kopflose Illusion erzeugten, 24 während die Cynocephalen (Hundsköpfige mit Menschenkörper) auf die Sichtung von Menschenaffen zurückgehen könnten.25 Simek schreibt zu letzteren jedoch, dass die körperliche Deformation der Cynocephalen zweitrangig sei und eher akustische Attribute, also die fremdwirkende Sprache an ein Bellen erinnert haben könnte, welches möglicherweise zur Ausgestaltung des Hundekopfs führte.26
Es zeigt sich also, dass fremdwirkende bzw. exotische Attribute als eine Art Inspiration für die Ausgestaltung der Wundervölker dienen könnten, jedoch in einer eher hyperbolischen Weise. Es muss also beachtet werden, dass sich, laut Schmitz „i[I]n historischen Reiseberichten über exotische Völker und fremdartige Tiere […], Empirisches und Imaginäres aufs Engste [vermischen].“27 Es scheint also, dass interkulturelle Begegnungen eher eine Inspirationsquelle darstellen, als dass sie durch ihre Andersartigkeit zu Monstern gemacht werden.
Fazit
Die Ausgangsfrage, ob sich das Fremde in den Monstern des Mittelalters widerspiegelt, hat sich in vielfacher Hinsicht bestätigt. Das Monster lässt sich durchaus als Konzept der Fremdheit verstehen, vor allem in der psychologischen Funktion als Abgrenzung zum idealtypischen Menschen (aus europäischer Sicht). Es dient vor allem einem anthropologischen Zweck und damit der Menschwerdung.
Außerdem hat sich herausgestellt, dass die Begegnung mit fremden Kulturen als Inspiration der Monster dienen könnte. Fremde Menschen, aus Perspektive des europäischen Menschen, werden jedoch eher nicht zu Monstern gemacht. Schließlich sind die Gestaltungen auch eine Übertreibung von möglicherweise realen Begegnungen, das Fremde wird also gewissermaßen stärker verfremdet, um das Exotische und Verwunderliche zu illustrieren. Außerdem muss beachtet werden, dass die Entstehung der Monster nicht nur die Funktion des Fremdseins (und damit der Abgrenzung) begrenzt ist, sondern vor allem auch auf religiöse, mythologische und medizinische Erklärungen zurückzuführen ist. Trotzdem scheint der Fremdheitsaspekt des Monsters in diesem Korrelat eine wichtige Rolle zu spielen.
In dem Artikel wurde nicht berücksichtigt, wie der Mensch in mittelalterlichen Texten den fremden Wundervölkern begegnet, da sich dieses Gebiet als sehr unterschiedlich erweist. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass dem Fremden (und fremden Monstern) grundsätzlich feindlich oder abwertend gegenübergetreten wird. Die unterschiedlichen Haltungen gegenüber der Wundervölker, sind beispielsweise im Herzog Ernst zu finden. Nach welchen Kategorien und Situationen dabei unterschieden wird, zeigt dieser Artikel: Ein Blick ins wunderbare Fremde – Eine Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen Kultur und dem Monströsen im Herzog Ernst
- Meier Frank: Gefürchtet und bestaunt. Vom Umgang mit dem Fremden im Mittelalter. Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2007, S.6
- Goetz, H.-W.: Sarazenen als Fremde? Anmerkungen zum Islambild in der abendländischen Geschichtsschreibung des frühen Mittelalters. In: Jokisch, Benjamin (Hg.): Fremde, Feinde und Kurioses: Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn. Berlin [u.a.]: de Gruyter, 2009, S. 39-66 (Hier S.43).
- Goetz, S. 39-66 (Hier S.43).
- vgl. Goetz, S.39-66 (Hier S.45).
- vgl. Goetz, S.39-66 (Hier S.45).
- vgl. Goetz, S.39-66 (Hier S.46).
- vgl. Goetz, S.39-66 (Hier S.46).
- Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 18.
- vgl. Scior, Volker: Monströse Körper: Zur Deutung und Wahrnehmung von monstra im Mittelalter. In: Antunes, Gabriela; Reich, Björn (Hg.): (De)formierte Körper. Die Wahrnehmung und das Andere im Mittelalter. Göttingen: Universitätsverlag 2012, S. 31-50 (Hier S. 32).
- vgl. Howe, Jan Niklas: Monstrosität. Abweichungen in Literatur und Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Berlin/Boston: de Gruyter 2016, S.29.
- vgl. Scior, S. 31f.
- Scior, S. 32
- Foucault, Michele: Die Anormalen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013), S. 3-7.
- vgl. Simek, S. 18.
- Duden: Alterität. In: Duden Online. Unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Alteritaet (gesehen 8.07.2018).
- Classen, Albrecht: Die guten Monster im Orient und in Europa. Konfrontation mit dem ‚Fremden‘ als anthropologische Erfahrung im Mittelalter. Mediaevistik, vol. 9, 1996, pp. 11–37, (hier S. 12). unter: www.jstor.org/stable/42584778 (2.07.2018).
- vgl. Meier, S.6.
- Scior, S. 32.
- Simek, S.12.
- Friedrich, Udo: Menschentier und Tiermensch: Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S.90.
- Simek, S. 168.
- vgl. Simek, S. 168.
- Simek, S.168
- vgl. Simek, S. 170.
- vgl. Simek, S.172.
- vgl. Simek, S.173.
- Schmitz-Emans, Monika: Monster. Eine Einführung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013) S. 11-17 (Hier S.11).