Drachen im Mittelalter und The Complete Book of Dragons von Cressida Cowell – ein Vergleich

Drachen waren im Mittelalter ebenso reale Tiere wie zum Beispiel Biber oder Löwen.[1] Sie tauchen in so genannten Bestiarien auf, mittelalterlichen Schriften, die den Anspruch haben, die Fauna ausführlich darzustellen. Doch solche Bestiarien sind längst kein Genre der Vergangenheit mehr. In der modernen Literatur greifen Autoren oft auf solche Werke zurück, um eine imaginierte Tierwelt abzubilden und für den Leser zugänglich zu machen.

The Complete Book of Dragons von Cressida Cowell ist ein solches Bestiarium der Neuzeit. Es handelt sich bei dem Buch um ein Werk in ihrer Buchreihe „How to Train Your Dragon“, die sich um den Wikinger „Hicks“ dreht. Dieser freundet sich den Traditionen seines Stammes zum Trotz mit den Drachen an und beginnt damit, Nachforschungen über die Lebewesen anzustellen. The Complete Book of Dragons ist ein Nachschlagewerk, welches Hicks verfasst, um seine Drachenforschungen und Erkenntnisse festzuhalten. Das Buch ist als Zusatzwerk zu How to Train Your Dragon, einer Kinderbuchreihe aus der mittlerweile ein erfolgreiches Franchise von Dreamworks entstanden ist, erschienen. Für diesen Artikel soll das Interesse auf die Bücher, oder spezifischer auf das Bestiarium, fokussiert werden.

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob oder inwiefern sich mittelalterliche Drachendarstellungen in dem modernen The Complete Book of Dragons wiederfinden lassen. Diese gründet sich in der Tatsache, dass sich die Wikingerzeit in dem grob als „Mittelalter“ definierten Zeitraum vom sechsten bis zum fünfzehnten Jahrhundert befindet. How to Train Your Dragon und damit auch das The Complete Book of Dragons lassen sich also vom Handlungszeitraum her in das Mittelalter einordnen. Fraglich ist, inwieweit die Darstellungen von Drachen ebenfalls mittelalterliche Bezüge aufweisen.

Hierzu soll zunächst die These aufgestellt werden, dass in The Complete Book of Dragons für die Drachen ähnliche äußerliche Attribute finden lassen, wie in mittelalterlichen Bestiarien. Durch religiöse Einflüsse ist aber der Umgang mit den Reptilien im Mittelalter ein anderer. In vielen mittelalterlichen Geschichten sind die Drachen die Antagonisten. Ein ähnliches Bild kann also in Bestiarien erwartet werden. Das ist in dem The Complete Book of Dragons anders. Es reiht sich in das How to Train Your Dragon Franchise ein, in dem Drachen sich eher wie Haustiere verhalten. Aus diesem Grund wird hier eine positive Einstellung zu Drachen erwartet.

The Complete Book of Dragons

In diesem Bestiarium sind ausschließlich Drachen vermerkt. Insgesamt werden über 80 verschiedene Drachenarten aufgezählt. Im Vorwort liefert der fiktive Autor Hicks verschiedene Gründe für das Verfassen des Buches. Es geht ihm zum Beispiel darum, zu erklären wie man Drachen findet und wie man sich um ihre Eier und die Drachenjungen kümmert.[2] Außerdem möchte er Ratschläge geben „on how to ride and train them, or deal with them if they attack.“[3] Er bezeichnet Drachen als wundervolle Kreaturen, die aber trotzdem sehr angsteinflößend sein können. Dabei ordnet Hicks diese in Kategorien wie Mountain Dragons[4] oder Cave Dragons[5] ein. Jedem Drachen werden Punkte auf fünf verschiedenen Skalen zugeteilt: Angstfaktor, Angriff, Schnelligkeit, Größe und Ungehorsam[6]. Aufgrund der bloßen Anzahl der Drachen sind Aspekte wie das Aussehen in eigenen Kapiteln zusammengefasst, zu jedem einzelnen Drachen gibt es Zeichnungen in ihrem jeweiligen Eintrag. Im allgemeinen Teil findet man jeweils eine Doppelseite zu Drachenaugen, Drachenzungen und der Anatomie von Drachen. Drachen besitzen in der Welt des The Complete Book of Dragons meist sowohl einen Röntgenblick als auch die Fähigkeit Wärmesignaturen wahrzunehmen. Eine spezielle Drachenart sei sogar in der Lage, in die Zukunft zu blicken und telepathisch zu kommunizieren. Die Anzahl der Augen, die sie haben, variiert, aber jede Art hat genau drei paar Augenlider. Auch die Menge an Zungen, die Drachen haben ist spezifiziert. Der „Woden’s Nightmare“ hat bis zu dreißig Zungen, die alle in der Lage sind, verschiedene Geschmäcke wahrzunehmen. Hicks erklärt zudem, dass einige Töne in „Dragonese,“[7] also der Sprache, die die Drachen sprechen, nur mit einer Drachenzunge geformt werden können. Außerdem existiert beispielsweise eine Drachenart namens „Breathquencher“, die nicht über Füße verfügt und ihre Opfer erwürgt.[8] Alle Drachen haben im Rachen kleine Löcher, durch die sie Feuer oder giftiges Gas ausatmen können. Es gibt Drachen, die Winterschlaf halten, und so genannte Evergreens[9] die dies nicht tun. Während ihrer Hibernation, also einem Schlafzustand, seien die Geschöpfe am leichtesten einzufangen. Auch die Gefahren, die von den Drachen ausgehen, sind zahlreich: „They are, for example, poisonous, shoot flames, rocks, spears, lightning, laser beams or electric bolts.“[10] Neben den Beschreibungen der einzelnen Drachenspezies gibt es auch Kapitel, die erklären, wie man Drachen trainiert, oder wie man auf ihnen fliegt.

Mittelalterliche Quellen

Eines der wohl bekanntesten naturwissenschaftlichen Werke der Mediävistik ist Etymologiae Isidors von Sevilla. Der elfte Band dieser Schrift trägt den Namen Vom Menschen und von Monstern. Das dritte Kapitel heißt Von den Missgeburten (Potenta) und befasst sich mit jenen Wesen, die nach der Meinung Isidors von Sevilla entgegen der bekannten Natur existieren. Er berichtet in diesem Teil des Buches von Wesen wie Giganten und Sirenen, nicht aber von Drachen. Diese finden erst im zwölften Buch Von den Tieren Erwähnung. Das vierte Kapitel handelt Von den Schlangen (Serpentes) in deren Gattung Isidor auch die Drachen einordnet.[11] Schlangen, zu deren Spezies der Drache hier gehört, würden von Heiden für Schutzgottheiten gehalten werden. In diesem Sinne kommt ihnen eine doppelte Bedeutung zu: einerseits die der Schutzgottheit, einem positiv konnotierten Begriff, andererseits werden sie ausschließlich von Heiden für solche gehalten. Diese Erwähnung weist die Auffassung der Schlange als Schutzgottheit im christlich orientierten Mittelalter als Irrglaube zurück.[12] Schlangen sind nach Isidor von Sevilla Lebewesen, die keine Beine haben, sondern sich durch Kriechbewegungen mit Hilfe ihrer Schuppen fortbewegen.[13] Weiterhin habe der Drache einen „Kamm auf dem Kopf, ein kleines Gesicht und dünne Röhren, durch welche er den Atem einzieht und die Zunge bewegt.“[14] Schlangen verfügen über nur eine Zunge, die sie aber außergewöhnlich schnell bewegen können. Gefährlich sei vor allem der Schwanz, nicht aber die Zähne. Wie eine Würgeschlange umschlinge er seine Opfer, darunter auch Elefanten. Giftig ist er nicht, oder zumindest sind seine Gifte nicht gefährlich. Der Drache sei in Indien oder Äthiopien „im Feuer ewiger Hitze“[15] geboren. Er hält sich oft in Höhlen auf, von denen aus er sich in die Luft stößt und diese „erregt.“[16] Alle Schlangen, so auch der Drache, hätten keine besonders guten Augen Gemessen an der Tatsache, dass der Drache in dem Buch Von den Tieren und nicht in dem vorigen Vom Menschen und von Monstern genannt wird, kann man davon ausgehen, dass Isidor von Sevilla ihn nicht als Monster, sondern als normales Tier gesehen hat. Tatsächlich verfügt der Drache in den Etymologiae über keine besonderen Fähigkeiten. Im Gegensatz zu dem der Schlangen ist sein Gift wirkungslos.[17] Ob er fliegen kann, wird aus dem kurzen Abschnitt ebenfalls nicht klar, Isidor erwähnt nicht, ob der Drache über Flügel verfügt. Zumindest aber kann er sich „in die Luft verziehen,“ [18] was zumindest eine Art von elementarer Verbundenheit impliziert.

Auch Konrad von Megenberg hat ein naturwissenschaftliches Werk, Das Buch der Natur, geschrieben, welches sich im dritten Kapitel mit den Tieren befasst. Er hält sich maßgeblich an andere Schriften, weswegen bei ihm viele Übereinstimmungen mit solchen zu finden sind.[19] Auch er behandelt den Drachen in dem Abschnitt, der sich mit den Schlangen beschäftigt, nennt den Drachen eines der größten Tiere der Welt und merkt an, dass er nicht giftig ist, es sei denn, er hat vorher etwas giftiges gefressen. Auch das Aussehen des Drachen, das  Konrad von Megenberg beschreibt ähnelt den Ausführungen von Isidor von Sevilla: Der Drache hat eine Krone, ähnlich einem Kamm, auf dem Kopf. Die meisten Drachen haben keine Füße und ihre Schwänze sind tödlicher als ihre Bisse, die hingegen kaum schädlich sind. Das Buch der Natur bezieht sich auf Aristoteles, wenn es erklärt, dass Drachen lange Zeit nichts zu sich nehmen, aber dann umso hungriger sind, oder auf Augustinus, wenn er auf den Wohnraum der Drachen in tiefen Abgründen eingeht. Die Drachen, über die Konrad von Megenberg schreibt, verfügen über Flügel, die denen von Fledermäusen ähneln. Sein Atem ist tödlich. Aus seinem Gehirn kann man, wenn der Drache während des Prozesses der Entnahme noch am Leben ist, einen Stein schneiden, der außergewöhnliche Fähigkeiten hat. Dieser Prozess kann am einfachsten erfolgen, wenn der Drache sich sonnt. Seine Galle und Zunge werden als Medizin verwendet und das Drachenfleisch wirkt kühlend. Mit einer Größe von zwanzig Ellen werden Drachen „so groß, dass er einen Menschen, der auf ihm sitzt, weit wegtragen kann.“[20]

In der Edition des Physiologus hat der Drache keinen eigenen Eintrag. Er wird ausschließlich in Bezug auf andere Tiere genannt. Der Physiologus beschreibt weder Aussehen, noch Wohnort oder andere Eigenschaften des Drachen, sondern ausschließlich sein Gefahrenpotenzial gegenüber anderen Tieren. Die Drachendarstellungen des Physiologus gründen, wie auch viele andere Schriften des Mittelalters, auf einer „heilsallegorisch ausgelegte Tierwelt.“[21] Die Erkenntnisse, die jene Werke vermitteln sollten, basierten zwar auf naturwissenschaftlichen Beobachtungen, wurden aber verfälscht, so dass sie sich in das religiöse Weltbild einfügen oder diesem zumindest nicht widersprechen.[22] Im neuen Testament wird der Drache in der Offenbarung des Johannes mit dem Teufel gleichgesetzt: „

And the great dragon was thrown down, that ancient serpent, who is called the devil and Satan, the deceiver of the whole world he was thrown down to the earth […].“[23]

Dies geschieht an keiner anderen Stelle der Bibel in diesem Ausmaß, dennoch ist das Bild des Drachen ein durchweg negatives.

Ergebnisse

Es lassen sich schnell mehrere Unterschiede in den Drachendarstellungen finden. Zunächst fällt auf, dass die mittelalterlichen Bestiarien stets über eine einzige Gattung von Drachen berichten. Konrad von Megenberg bricht damit, wenn er schreibt, dass Drachen selten Füße haben.[24] Er impliziert, dass es zumindest zwei verschiedene Arten von Drachen geben muss – eine mit und eine ohne Füße –auch wenn er nicht explizit von mehreren Drachenarten spricht. Cressida Cowell erwähnt in ihrem Buch weit mehr als nur eine Drachenspezies. Ein weiterer Unterschied liegt in den Gefahren, die von dem Geschöpf ausgehen. Die mittelalterlichen Bestiarien sind sich einig, dass Drachen nicht giftig sind, und die Hauptgefahr vom Schwanz ausgeht. In The Complete Book of Dragons gibt es beispielsweise den giftigen „Venomous Vorpents,“[25] und es gibt Drachen, die über keinerlei Gifte verfügen. Autoren im Mittelalter beschreiben Drachen oft als Geschöpfe ohne Beine. Das The Complete Book of Dragons greift eine so große Varietät an Drachen auf, dass es hier Exemplare mit vier Beinen, acht Beinen, komplett ohne Beine, oder weitere Versionen gibt. Zudem existiert eine Drachenart, die ähnlich der Drachen im Mittelalter nicht über Füße verfügt und ihre Opfer erwürgt,[26] der Großteil aller Drachen im The Complete Book of Dragons hat allerdings Füße und Flügel. Im Mittelalter wurde der „Drache in der Naturkunde fast ausschließlich […] als Tier wahrgenommen […].“[27], schreibt Timo Rebschloe. Der Drache kommt bei Isidor von Sevilla nicht in dem Kapitel über Monster, sondern in dem über Tiere vor und auch Konrad von Megenberg behandelt Drachen in dem Kapitel Von den Thieren im Allgemeinen. Hicks bezeichnet die Drachen in seinem Buch jedoch als „creatures,“[28] nicht als „animals“. Seine Einstellung zu den Reptilien ist dennoch eine positive. Er räumt ein, dass Drachen gefährliche, furchterregende Geschöpfe sind, beharrt aber trotzdem auf seiner Faszination ihnen gegenüber. Außerdem gibt er Hinweise darauf, wie man mit angreifenden Drachen umgehen sollte, erwähnt aber nichts, was mit der Tötung des Reptils endet. Stattdessen zielt er auf ein friedliches Zusammenleben ab. In mittelalterlichen Bestiarien ist dies ähnlich. Weder Isidor von Sevilla noch Konrad von Megenberg sprechen die Tötung eines Drachens aufgrund seines Gefahrenpotentials an. Megenberg beschreibt aber, dass einige Innereien der Geschöpfe als Nahrung oder Medizin zu verwenden sind. Der Stein, der aus dem Gehirn eines lebendigen Drachen geschnitten werden muss, bringt aber die Tötung desselben mit sich. Megenberg erwähnt, dass man einen, sich sonnenden Drachen, erschlagen, und den Stein entnehmen solle, so lange das Tier noch lebt. Im Physiologus werden keine direkten Hinweise auf die Hinrichtung geliefert. Das Gefahrpotential, beziehungsweise die Antagonistenfunktion wird dennoch deutlich gemacht, da der Drache ausschließlich als Gegner in den Artikeln anderer Tiere Erwähnung findet. Die Einstellung den Drachen gegenüber ist in mittelalterlichen Bestiarien eine andere, als im The Complete Book of Dragons. Zwar stellen zumindest Isidor von Sevilla und Konrad von Megenberg den Drachen nicht als Feind dar, gehen aber auch nicht den Schritt wie Hicks, sie als faszinierend zu bezeichnen und mit ihnen zusammenleben zu wollen. Die Darstellung im Physiologus ist die, eines Antagonisten. Das Buch der Natur und die Etymologiae geben keine Wertung über die Natur des Drachen hinsichtlich Gut und Böse ab. Sie schreiben lediglich, dass Drachen gefährlich sind, was Hicks bestätigt. Über die Natur des Drachen sind sich die Bestiarien, mit Ausnahme des Physiologus, nicht uneinig, aber der Ursprung der Gefahr ist abweichend.

Fazit

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die mittelalterlichen und neuzeitlichen Drachendarstellungen im The Complete Book of Dragons in mehreren Punkten. Der größte Unterschied liegt in der Zahl der Drachenarten, durch die auch eine größere Variation im Aussehen und Verhalten zustande kommt. Es sind sich alle einig, dass Drachen – oder im Falle des The Complete Book of Dragons die meisten Drachen – Schuppen haben. Bei der Frage nach Flügeln spalten sich die Meinungen bereits im Mittelalter. Auch die Auffassung des Drachen als Antagonisten lässt sich nur im Physiologus finden. Die Anfangsthesen lassen sich teils bestätigen. So ist die Darstellung von Drachen in mittelalterlichen Bestiarien weniger negativ als vermutet. Nur im Physiologus sind Drachen als ausschließlich böse Geschöpfe genannt. Synonym hierzu ist das Drachenbild im The Complete Book of Dragons kein durchweg positives. Hicks sieht zwar in den Drachen keine Feinde, warnt aber dennoch wiederholt vor den Gefahren, die von den Wesen ausgehen und bringt immerhin auch den Angstfaktor als Kategorie an. Die äußerliche Ähnlichkeit ist aufgrund der Anzahl der Drachen im The Complete Book of Dragons vorsichtig zu bestätigen. Zwischen den über 80 Drachenarten gibt es einige, die weder über Beine, noch Füße verfügen. Ein spezifischer Drache erfüllt sogar die würgeschlangenähnlichen Eigenschaften des Drachenbildes im Mittelalter.

 

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[1] Vgl. Rebschloe, Timo: Der Drache in der mittelalterlichen Literatur Europas. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2014, S. 101.

[2] Vgl. Cowell, Cressida. The Complete Book of Dragons. New York: Little, Brown and Company 2014, S.6.

[3] Cowell, S. 6.

[4] ebd., S. 158.

[5] ebd., S. 24.

[6] Vgl. Cowell, S. 26

[7] Cowell, S. 116.

[8] Vgl. ebd, S. 57.

[9] ebd., S. 21.

[10] ebd., S. 11.

[11] Vgl. Rebschloe , S. 111.

[12] Vgl. ebd., S. 111.

[13] Vgl. Isidor von Sevilla: Etymologiae. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008, S. 463.

[14] ebd., S. 463.

[15] ebd., S. 463.

[16] ebd., S. 463.

[17] Vgl. Rebschloe, S. 111.

[18] Isidor von Sevilla, S. 463.

[19] Vgl. Rebschloe, S. 120.

[20] Konrad von Megenberg,Das Buch der Natur. Greifswald: Julius Abel 1897, S. 228.

[21] Febel, Gisela/Maag, Georg: Einleitung. In: Bestiarien im Spannungsfeld zwischen Mittelalter und Moderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1997, S. 7-12. S.7

[22] Vgl. ebd., S. 7

[23] Bibelwissenschaft.de. https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/english-standard-version/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/76/120007/120007/ch/159a44ebbc3177663f8c084f7dad039b/ [gesehen am 08.09.2018]

[24] Vgl. Konrad von Megenberg, S. 227.

[25] Cowell, S. 90.

[26] Vgl. ebd, S. 57.

[27] Rebschloe, S. 364.

[28] Cowell, S. 7.

Cundrîes Bruder Malcreatiure in Wolframs Parzival

Im Vergleich zu seiner Schwester Cundrîe ist ihr Bruder Malcreatiure in Wolframs Parzival lediglich eine Randfigur und hat nur kurze Auftritte im sechsten und im zehnten Buch des Parzival. Trotz der geringen Ausgestaltung hat die Figur Malcreatiure eine ähnliche erzählerische Funktion wie seine Schwester Cundrîe. Beide überbringen mahnende Botschaften und verbinden durch ihr Auftreten die Artuswelt mit der Welt des Übernatürlichen, wenn auch in recht unterschiedlicher Ausprägung. In dieser Funktion spielt auch die Monstrosität der Geschwister eine enorme Rolle, die Malcreatiure wie ein Etikett in seinem Namen trägt. Da zu Malcreatiure insgesamt nur wenige individuelle Angaben gemacht werden, kann auf diese Figur nur im Abgleich mit seiner Schwester näher eingegangen werden. Erzählerisch wie auch konzeptionell ist Malcreatiure daher eher als eine Erweiterung Cundrîes anzusehen, die sich aus der gemeinsamen Herkunft und Abstammungsgeschichte ergibt. In diesem Zusammenhang soll daher genauer auf den genealogischen Ursprung der Geschwister und ihres Volkes eingegangen werden, der auf dem Motiv der Adamstöchter beruht.

„…der knape fiere…“: Monstrosität als Etikett

Anders als seine Schwester Cundrîe, die im gesamten Parzival Erwähnung findet und textlich deutlich größeren Raum einnimmt, ist Malcreatiure als Einzelfigur lediglich in der Gâwân-Handlung anzutreffen. Im X. Buch des Versromans hört der auf der Suche nach dem Gral umherziehende Gâwân durch einen verletzten Ritter von der Schönheit der Königin Orgelûse de Lôgroys. Er reitet darauf hin zu ihr, um sie um ihre Minne zu bitten. Orgelûse behandelt Gâwân abschätzig und fordernd, dennoch reitet sie gemeinsam mit ihm los, um den verletzten Ritter mit Kräutern zu behandeln. Unterwegs werden sie von Orgelûses Knappen Malcreatiure eingeholt, der ihnen eilig hinterherreitet, um eine Botschaft zu überbringen.

Anders als beim warnenden Auftritt der Gralsbotin Cundrîe im VI. Buch verzichtet Wolfram von Eschenbach auf eine detaillierte Beschreibung des Aussehens. Malcreatiures Erscheinung wird nicht etwa erzählerisch ausgedehnt durch Merkmale und Eigenschaften eingeführt, sondern prompt alsungehuire“ bezeichnet.[1] Diese direkte Einordung ins Monströse wird durch seinen sprechenden Namen unterstützt, der sich etwa mit „schlechtes Geschöpf“[2] übersetzten lässt. Während die Schwester erzählerisch enthüllt[3] wird, beschränkt sich die Beschreibung von Malcreatiures Äußerem, lediglich auf einen kurzen Vergleich mit Cundrîe:

„Cundrîe la surziere
was sîn swester wol getân:
er muose ir antlütze hân
gar, wan daz er was ein man.
Im stuont ouch ietwider uan
Al einem ever wilde,
unglîch menschen bilde. (Pz 517: 18-24)

Anders als bei Cundrîe, deren raffinierte Aufmachung bereits Grundlage von Forschungsarbeitenwurde,[4] wird auf Malcreatiures Bekleidung oder Ausrüstungsgegenstände nicht eingegangen.  Lediglich die Haarlänge wird in Abgrenzung zu seiner Schwester beschrieben: „im was det hâr ouch niht sô lanc /als ez Cundrien ûf den mûl dort swanc: / kurz, scharf als igels hût es was.“ (Pz 517: 25-28).  Cundrîes langer Zopf, abgesehen von davon, dass er sehr lang und borstig wie „eins swînes rückehâr“ (Pz 313: 20) ist, ist das einzige Merkmal, das sie von ihrem Bruder unterscheidet. Während Cundrîe durch ihre Kleidung eindeutig als weiblich charakterisiert wird, fehlen im Falle von Malcreatiure, abgesehen von seiner Haarlänge, sämtliche weitere Männlichkeitsattribute.

Malcreatiures Igelhaare dienen noch einem weiteren Zweck: Als Gâwân ihn aufgrund seiner Beschimpfung erzürnt bei den Haaren packt und ihn zu Boden wirft, verletzt sich der Gralsritter daran die Hand, dass „diu wart von bluote al rôt erkant“ (Pz 521:14). Malcreatiures Haarpracht ist in ihrer Funktion daher anders anzusehen als die seiner Schwester. Während Cundrîes Haar überwiegend dekorativ erscheint, sind Malcreatirues Borsten auch ein Mittel der Verteidigung. Obwohl das Geschwisterpaar zuvor als „wunderlîch menesch“ eingeordnet wird, so wirkt die ganze Person durch sein Haar „igelmaezec“ und animalisch (Pz.521: 13). Besonders im Vergleich zur distinguierten Schwester, erscheint Malcreatiure dadurch weniger menschlich und seine tierischen Komponenten werden stark betont. Auch wenn Cundrîe ebenfalls tierische Züge aufweist, werden diese durch innere Schönheit ausbalanciert. Hierzu trägt auch bei, dass über Malcreatiures Bildungstand, anders als über Cundrîe, keine Aussagen getroffen werden, es wird lediglich deutlich, dass er die höfische Sprache beherrscht. Entsprechend geringer fällt auch der Kontrast zwischen äußerer Hässlichkeit und innerer Schönheit aus, da hierüber nur wenige Angaben vorhanden ist. Malcreatiure, ebenso wie Cundrîe, wird trotz seiner Monstrosität ein positives Inneres bescheinigt. So bezeichnet ihn Wolfram zwar ironisch als „knape fiere“, attestiert ihm im Gegenzug aber auch „wîs unde wert“ zu sein, auch sein Beiname „clâr“, unterstreicht zusätzlich Malcreatiures positive innere Disposition[5] (Pz 517: 18, 521: 10, 519: 22).

Der kleine Unterschied: Herkunft und Genealogie

Cundrîe und Malcreatiure gelangen als Geschenke der indischen Königin Secundille an den Gralskönig Anfortas. Die märchenhaft reiche Königin, in deren Land „gebirge guldîn“ stehen und „für den griez edel gesteine“ in den Flüssen liegen, schenkte Anfortas die Geschwister als „kleinoete“ um seine Gunst zu gewinnen. Anfortas behielt Cundrîe bei sich am Gralshof, während er Malcreatiure, „disen knappen kurtoys“ an seine frühere Geliebte Orgelûse de Lôgroys schickte (Pz 519: 18, 21,30). Obwohl die Geschwister als das Wertvollste unter den Geschenken Secundilles geführt werden, sind weder Cundrîe noch ihr Bruder einzigartige Wunderwesen, vielmehr gibt es in Secundilles Reich, „bî dem wazzer Ganjas/ ime lant ze Trîbalibôt […]“ Menschen ähnlichen Phänotyps häufiger: „der liute vil/ mit verkêrtem antlützes zil:/ si triuogen vremediu wilden mal“ (Pz 519: 8,9). Als Grund für die Missgestalt wird der verbotene Konsum bestimmter Kräuter während der Schwangerschaft genannt, auf die einige der Töchter Adams aufgrund ihrer weiblichen Gier und ihres schwachen Fleisches nicht verzichten konnten (Vgl. Pz 518:10-30). Auch wenn die Geschwister dieselbe Genealogie teilen, ist bei der weiteren Ausführung nur noch von Malcreatiure die Rede „Von wibes gir ein underscheit/ in schiet von der menescheit./ der würze unt der sterne mâc“ (Pz 520: 1-3). Diese Aussonderung Malcreatiures bedeutet nicht nur einen verwandtschaftlichen Bruch mit seiner Schwester, sondern geht darüber noch hinaus. „Malcreatiures anthropologischer Status wird damit als grenzwertig dargestellt, noch deutlicher als Cundrîe verweist er als hybride Figur auf die Existenz eines Zwischenbereichs von Mensch und Tier.“[6] Die Hässlichkeit der Geschwister als Resultat eines zweiten Sündenfalls, rückt sie jedoch heilsgeschichtlich wieder stärker an die grundsätzlich sündhaften Menschen, die diesen die eigenen Verfehlungen als Spiegel vorhalten.[7]

Botschafter und Grenzgänger

Während Cundrîes Hybridität das Mittel zu sein scheint, dass sie zum freien Wechsel zwischen der Artuswelt und der Gralswelt befähigt, bleibt Malcreatiure gänzlich in der Artuswelt verhaftet. Im Gegensatz zu Cundrîe, die den Beinamen la surziere trägt, werden Malcreatiure keine magischen Fähigkeiten zugeschrieben.  Trotz seines Äußeren und seiner Herkunft verdingt er sich in der weltlichen Funktion eines Knappen, die mit einer sozialen Stellung einhergeht. Trotz seines festen Platzes in der Gesellschaft erfüllt er wie seine Schwester eine Botenfunktion. Sein Auftritt als Bote ist trotz seines Aussehens jedoch keineswegs wundersam. Während Cundrîes Auftritt die gesamte Artusgesellschaft in Staunen und Erschrecken versetzt, ist das Zusammentreffen mit Gâwân weit weniger furios und entbehrt auch nicht einer gewissen Komik:

Malcrêatiur kom geritn
ûf eime runzide kranc,
das von leme an allen vieren hanc.
es strûchte dicke ûf d’erde. (Pz 520: 6-9)

Gleichzeitig wird mit dem Zustand des Pferdes noch eine weitere Komponente hinzugefügt:

frou Jeschût diu werde
iedoch ein besser pfärt reit
des tages dô Prazivâl erstreit a Orilus die hulde:
die vlôs se an alle ir schulde (Pz 520: 9-14)

Das lahme Pferd ist eine Form der Ächtung und Bestrafung. Wie Jeschûte ist auch Malcreatiure keines Verbrechens schuldig und trotzdem ein durch den Sündenfall seiner Ahninnen Ausgestoßener und durch sein Reittier als solcher markiert. Später wird klar, dass Malcreatiure das Pferd auf dem Weg einem Bauern abgenommen hat. Der mangelnde Zugang zu einem besseren Reittier unterstreicht daher seinen niedrigen sozialen Status in der höfischen Gesellschaft.

Anders als bei seiner Schwester verläuft auch die Überbringung seiner Botschaft. Bei Cundrîe ist diese verbunden mit einem großen Auftritt und geprägt von Verzweiflung und großer Traurigkeit. Ihre deutliche Ausdrucksweise, in Kontrast zu ihrer hohen Bildung und ihres außergewöhnlichen Status verfehlt ihre Wirkung nicht. In Malcreatiures Fall allerdings gerät die Botschaft an Gâwân zur wüsten Beschimpfung mit der Androhung von Prügel:

„her, sît ir von rîters art,
sô möht irz gerne han bewart:
ir dunket mich ein tumber man,
daz ir mîne frouwen füeret dan:
och wert irs underwîset,
daz man iuch drumbe prîset
op sichs erwert iwer hant.
sît ab ir ein sarjant,
sô wer ir gâlunt mit stabn,
daz irs gern wandel möhtet haben“ (Pz 520: 17-26)

Erstaunlich ist hier, dass Malcreatiure trotz seiner schwächlichen Aufstellung und niedrigeren Stellung als Knappe den Mut zur Ritterbeschimpfung aufbringt und Gâwâns vermeintliches Fehlverhalten kritisiert und seine Herrin zu beschützen versucht. Ohnehin scheint Orgelûse ein besonderes Verhältnis zu ihrem treu ergeben Knappen zu haben. Malcreatiure folgt seiner Herrin sogar später zu Fuß nach. Er verlässt sie erst, nachdem Orgelûse mit ihm „heidenisch“ spricht (Pz. 529: 20).

Trotz der rüden Beschimpfung und seines monströsen Aussehens wird Malcreatiure an keiner Stelle als bedrohlich oder kämpferisch charakterisiert, zumal er auch keine Waffen trägt. Gâwân reagiert daher auch nicht mit Waffengewalt auf seine Beschimpfung, sondern wirft ihn mit bloßen Händen unters Pferd. Auch wenn er sich dabei verletzt, so ist der Konflikt schnell beigelegt und das Ungeheuer Malcreatiure wird durch Gâwân unproblematisch besiegt. Malcreatiures Schmähkritik ist jedoch nicht nur als akute Herausforderung, sondern sowohl als Warnung vor den kommenden Prüfungen als auch als eine Ermahnung zu verstehen, ritterliches Verhalten aufrecht zu erhalten.

Auch wenn unklar bleibt, wessen Botschaft Malcreatiure tatsächlich überbringt, so markiert sein Auftritt auch den Übergang in die verzauberte Welt des Schastel marveil, deren Befreiung durch Gâwân als das weltliche Gegenstück zu Parzivals Gralssuche einzuordnen ist.[8] Auch wenn Malcreatiure die Grenze nicht selbst übertritt, so gibt er doch eine Vorahnung darauf, was auf Gâwân in seiner âventiure bevorsteht, ähnlich wie seine Schwester Parzival den Weg weist.[9] Während der Weg zur Gralsherrschaft für Parzival entbehrungsreich und schwierig ist, meistert Gâwân die weltlichen Herausforderungen recht mühelos und mit vorbildlicher Ritterlichkeit, ebenso wie er das Ungeheuer Malcreatiure mit leichter Hand niederringt.

Malcreatiure lässt sich konzeptionell und erzählerisch nicht von der Figur der Cundrîe lösen. Die genauere Betrachtung hat indes gezeigt, dass er nicht nur als Anlass dient, Cundrîes Herkunft und die Gründe ihrer Missgestalt zu klären. Vielmehr repräsentiert er das weltliche und animalischere Gegenstück seiner Schwester, die beinahe engelhafte Züge[10] trägt. Er ergänzt die mythisch und symbolisch stark aufgeladene Figur der Cundrîe durch bodenständige Borstigkeit, die eine gewisse Komik nicht entbehrt. Dadurch werden in Wolframs Parzival nicht nur die Gâwân- und Parzival-Handlungen miteinander verknüpft, sondern auch die Begegnung mit dem Monströsen erhält hierdurch zwei unterschiedliche Ausgestaltungsdimensionen.

 


 

[1] W. von Eschenbach, B. Schirok, P. Knecht: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Mit Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation 2012, V. 517,20, im Folgenden unter der Sigle Pz direkt im Text zitiert.

[2] Aus dem Französischen mal=schlecht,aussätzig, sowie creatiure, aus dem Lat.= Kreatur, Geschöpf. Zur Mittelalterlichen Bedeutung vergleiche auch: Lexer Matthias: Nachträge zum Mittelhochdeutschen Handwörterbuch, http://www.woerterbuchnetz.de/NLexer?lemma=malat, letzter Zugriff: 28.09.2018.

[3] Vgl. Pappas, Katherine. In: U. Müller, W. Wunderlich (Hrsg.): Verführer, Schurken, Magier, Mittelaltermythen: 3, St. Gallen, Switzerland 2001 In: U. Müller, W. Wunderlich (Hrsg.): Verführer, Schurken, Magier, Mittelaltermythen: 3, St. Gallen, Switzerland 2001, hier S. 158

[4] Ebenda.

[5] Zur Lichtmetaphorik und Schönheit gibt es zahlreiche Quellen. Vergleiche zur Verbindung von innerer Schönheit und Licht: Wuthe, Elisabeth: Die schönen Männer im Parzival. Eine textimmanente Untersuchung von Schönheit, Körperlichkeit, Erotik und Sexualität am Beispiel der männlichen Figuren in Wolfram von Eschenbachs Parzival, S. 43 ff.

[6] Schuler-Lang, Larissa: Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. ‚Parzival‘, ‚Busant‘ und ‚Wolfdietrich D‘ 2014, S. 178.

[7]Vgl. ebenda S. 179.

[8] Hasty, Will: A Companion to Wolfram’s Parzival 1999, vgl. S. 55.

[9] Monströse Figuren markieren traditionell Grenz- und Übergangsbereiche. Vgl. hierzu Schuler-Lang 2014, S. 179.

[10] Vgl. ebenda, S. 325.

Die Figur der Cundrîe zwischen Monster und Verführerin – Teil 2: Die fluchbeladene Verführerin bei Richard Wagner

Illustration zu Wagners „Parsifal“ (Radierung von 1894)

Von Wolfram zu Wagner

Wenn in Wagners Oper Parsifal Kundry1 im zweiten Aufzug als „jugendliches Weib von höchster Schönheit“2 auftritt, hat dieses Wesen auf den ersten Blick denkbar wenig mit einem Monstrum mittelalterlicher Weltsicht gemein und der Weg von der missgestalteten Gralsbotin, die im Parzival Wolframs von Eschenbach unter dem annähernd gleichen Namen Cundrîe den Titelhelden erst verfluchte und dann zum Gralskönig berief, hin zu dieser Femme fatale erscheint unendlich weit. Sollten also diejenigen Einschätzungen zutreffen, die in beiden Ausprägungen des Charakters „zwei völlig verschiedene Figuren“3 sehen, oder lassen sich hinter einer veränderten Fassade doch noch Gemeinsamkeiten mit dem Vorbild erkennen? Sind womöglich sogar Faktoren erhalten geblieben oder neu hinzugekommen, die monströse Eigenschaften anderer Machart verkörpern? Es sind Fragen wie diese, die im Folgenden die Betrachtung leiten sollen.

Kundry zwischen Neuschöpfung und Nachhall der Vorlagen – Äußerliche Attribute und Charakterzüge als Reste von Monstrum und Magie?

Unbestritten sind Kundrys Verführungskünste, die in Wagners dramatischer Handlung eine zentrale Bedeutung einnehmen, weshalb ein exaktes Festhalten am Erscheinungsbild der mittelalterlichen Cundrîe, das bei Wolfram noch dazu diente, die unangenehme Botschaft der Gralsbotin zu unterstreichen und einen Kontrast zur äußerlichen Schönheit Parzivals herzustellen,4 nun nicht mehr der inneren Logik des Stücks entsprochen hätte. Dennoch wird auch bei Kundry gleich bei ihrem ersten Auftritt das Element der Wildheit betont (vgl. PS S. 9), Umstehende begegnen ihr mit furchtsamer Zurückhaltung (vgl. PS S. 14) und wo bei Wolfram noch von Augen gelb wie ein Topas, langen Zähnen und veilchenblauen Lippen5 die Rede war, werden nun „stechende schwarze Augen, zuweilen wild aufblitzend“ (PS S. 9) hervorgehoben. Eingangs erwähnt der Nebentext „schwarzes, in losen Zöpfen flatterndes Haar“ (PS S. 9) und auch im dritten Aufzug, als Kundry Parsifals gewaschene Füße mit ihren „schnell aufgelösten Haaren“ (PS S. 75) trocknet, erfolgt eine Anknüpfung an den langen Zopf und die wilde Behaarung der Vorlage (vgl. PZ 313, 15-20). Indes wird offen gelassen, ob Kundry bei ihrem ersten Auftritt bereits über die betörende Schönheit verfügt, mit der sie später Parsifal entgegentritt, doch da sie im zweiten Aufzug „in durchaus verwandelter Gestalt“ (PS S. 54) erscheint, steht sogar die Möglichkeit einer Verwandlung mittels Zauber im Raum, wo sich bei Wolframs Cundrîe noch keinerlei Indiz für wirkliche Magie fand. Mit einer solchen Gabe wäre Kundry nicht mehr weit entfernt von den Kriterien für Monstra und Wilde Frauen, die – wie Habiger-Tuczay ausführt – nicht zwingend allein über Hässlichkeit definiert seien, sondern gerade mit großen erotischen Reizen ausgestattet sein können; die Sirene6 oder der Succubus seien nur zwei Beispiele für Monstra, deren besondere Merkmale gerade in außergewöhnlicher Verführungskraft lägen.7 In ihrem ersten Auftritt zu Pferde klingt die für Wilde Frauen ebenfalls relevante Nähe zu Tieren8 an und Kundry selbst wird an verschiedenen Stellen wie der Bemerkung eines Knappen „Was liegst du dort wie ein wildes Tier?“ (PS S. 13) oder Gurnemanz‘ Ausruf „So jammervoll klagt kein Wild“ (PS S. 66) wiederholt mit Tieren verglichen. Schließlich weißt Bronfen auf zahlreiche Fälle von hysterischem Geschrei oder Gelächter hin,9 wenn Kundry „unheimlich zu lachen“ (PS S. 44) beginnt, in „ekstatischeres Lachen“ (PS S. 44) und schließlich in „Wehgeschrei“ (PS S. 45) verfällt oder nach ihrer Zurückweisung durch Parsifal in Wut und Tobsucht übergeht (vgl. PS S. 63f.), was als Anzeichen einer Art innerer Monstrosität und dabei zugleich als abgewandelte Ausgestaltung von Cundrîes zorniger Verfluchung Parzivals bei Wolfram (vgl. PZ 316, 11-25) angesehen werden kann.

Ausgebaute Rolle in Handlung und Personenkonstellation

Hatte Wolframs Cundrîe als Grenzgängerin zwischen den Welten ihre scheinbare Omnipräsenz im Handlungsverlauf noch daraus gewonnen, dass sie mittels wiederholter Erwähnung durch andere Figuren wie eine stille verbindende Kraft im Hintergrund wirkte, tritt Wagners Kundry deutlich häufiger und vordergründiger auf und steht mit allen weiteren Figuren in direkter Verbindung. Gegenüber Klingsor unterliegt sie einer unheilvollen Abhängigkeit aus einem alten Fluch heraus (vgl. PS S. 41f.), während bei Wolfram nur eine mittelbare Verbindung auftrat, als Cundrîe die Ritter zur Errettung der Königinnen und Jungfrauen von Clinschors Burg Schastel marveile aufrief (vgl. PZ 318, 13-24) oder später die Königin Arnive regelmäßig mit Heilmitteln versorgte (vgl. PZ 579, 24-28). In Bezug auf Amfortas wiederum wandelt sie sich von der treuen Gralsbotin bei Wolfram zur Verantwortlichen für das Leiden des Gralskönigs bei Wagner (vgl. PS S. 58). Dieser stark vergrößerte Anteil an der Gesamthandlung liegt vor allem darin begründet, dass in Kundry eine ganze Reihe weggelassener Figuren aus Wolframs Epos zusammengeführt wurden: Von Parzivals Halbbruder Feirefîz wurde das Element der Taufe zum Ende der Handlung übernommen (vgl. PZ 817, 1-30) und vom Einsiedler Trevrizent die Überbringung der Nachricht vom Tod der Mutter (vgl. PZ 476, 12-14), die beide auf Kundry übergehen (vgl. PS S. 76 und S. 26). Vor allem aber ist die „Wagnersche Kundry […] eine Verschmelzung der Wolframschen Frauenfiguren Sigune, Cundrie und Orgelûse de Lôgroys“.10 Während von der Klausnerin Sigune, Parzivals Base, die Aufklärung über dessen Namen und Herkunft übernommen wurde (vgl. PZ 140, 1-30) und auch sie ursprünglich am Ende des Epos stirbt (PZ 804, 23), verkörpert Orgelûse jene bildschöne aber kaltherzige Verführerin, die bei Wolfram das Leiden des Gralskönigs herbeiführt und – wie später Kundry – einzig an Parzival scheitert: „mînen lîp gesach nie man, / ine möhte wol sîn sîn dienst hân; / wan einer, der truoc wâpen rôt.“11 Für Wagner selbst war es eine bahnbrechende Erkenntnis bei der Konzeption des Stückes, „dass die fabelhaft wilde Gralsbotin ein und dasselbe Wesen mit dem verführerischen Weibe des zweiten Actes sein soll[te]“,12 und obwohl die zentrale Verfluchungsszene aus Wolframs Versepos damit zwangsläufig wegfiel und nur noch in groben Zügen im Wutausbruch Kundrys nach der Zurückweisung (s.o.) anklang, setzt Giertler die Verfluchung Cundrîes mit dem Kuss Kundrys als zentralen Wendepunkt im jeweiligen Stück gleich, als „Schlüsselszene auf dem Weg zur Erkenntnis.“13

Die Geschichte hinter der Verwandlung

Zu seinem Einfall der Identität vieler ursprünglich getrennter Wesenszüge in der Figur der Kundry maßgeblich inspiriert wurde Wagner vor allem durch die Lektüre Schopenhauers und der dadurch vermittelten Lehren des Buddhismus – hieraus entstand „das leidvolle Geworfensein in die wechselnden Wiedergeburten“,14 das den Kern in Kundrys die Zeiten überdauerndem Fluch ausmacht und an frühere rastlose Gestalten wie den Fliegenden Holländer anknüpft. Schon Klingsor, der Kundry einer Beschwörung gleich bei vielerlei Namen anruft – „Ur-Teufelin! Höllen-Rose! / Herodias warst du, und was noch? / Gundryggia dort, Kundry hier“ (PS S. 39) –, zeigt die Möglichkeiten auf, die sich Wagner auf diese Weise boten, die Figur der Kundry noch weit über ihre Vorlagen hinaus mit zusätzlichen Facetten und mythologischen Hintergründen anzureichern. Als frühere Daseinsformen der zeit- und alterslosen Kundry benennt er biblische Sünder wie Herodias, die den sterbenden Jesus am Kreuz verlacht haben soll,15 spielt aber auch auf den ganz ähnlich angelegten Mythos von Ahasver an, des „Ewigen Juden, der Jesus auf seinem Leidensweg die Rast vor seiner Tür verweigerte und dafür mit ruheloser Wanderschaft gestraft wurde.“16 Indem Kundry Parsifal gegenüber bekennt „Ich sah – Ihn – Ihn – / und – lachte … / da traf mich Sein Blick. – / Nun such‘ ich ihn von Welt zu Welt“ (PS S. 61), offenbart sie ihm den Grund ihres Fluchs, die Erbsünde, die anstelle des Adamstöchtermythos bei Wolfram (vgl. PZ 518, 1-30) nun für ihr Schicksal verantwortlich ist. Die Szene der Fußwaschung Parsifals im dritten Aufzug (PS S. 74f.) ist wiederum bewusst der Schilderung Maria Magdalenas nachempfunden17 und weitere Interpreten sehen Kundry als Allegorie des Begehrens nach buddhistischer Lehre sowie Variante weiterer allegorischer Frauengestalten.18 In einem Brief an König Ludwig II. legt Wagner selbst eine Deutung Parsifals als Christus und Kundrys als Eva dar, deren Kuss zur Erkenntnis führt,19 sodass Giertler argumentiert, Kundry sei „Schlange und Eva in einer Person“20 und ihr Ruf nach Parsifal „dem Lockruf der Schlange des Paradieses vergleichbar“.21 Mertens sieht es als Wagners explizite Absicht an, eine große Fülle von Material in seinen stark komprimierten, aus vielerlei Einflüssen gespeisten Figuren anzuhäufen, sodass die „Subtexte der Quellen […] präsent [bleiben], denn fast alle Bausteine Wagners sind als ‚Mytheme‘ semantisch aufgeladenes Material.“22

Abschließende Bemerkungen

In der gewaltigen, beinahe schon überladenen mythischen Konzentration, von der sich die Figur der Kundry ausgefüllt sieht, bleiben viele Fragen – mit hoher Wahrscheinlichkeit bewusst – offen, sodass sich vielfältige Deutungsspielräume ergeben, doch ins Übernatürliche und zuweilen befremdlich Monströse führen sie im Kern alle. Der Gralsbotin Cundrîe, die sicherlich als wirkmächtigste Vorlage gelten darf, wurden trotz der Entfernung des Merkmals augenfälliger Hässlichkeit eher noch ungezählte Dimensionen hinzugefügt, die Wagners Schöpfung zu einem literarischen Mischwesen mit hundert Gesichtern machen, und der Fakt, dass man nie das richtige kennt, stimmt viel beunruhigender als eine missgestaltete, letztlich aber als berechenbar und im Innersten gutmütig erwiesene Figur. Obgleich Wagner Wolframs Dichtung als „wüst und dumm“23 schmäht, ist gerade seine Kundry ihrem Vorbild, dessen ganzes Gegenteil sie bei flüchtigem Blick auf das pure Äußere zu sein scheint, auf vielen Ebenen sehr ähnlich, da manche Facetten hartnäckig überdauerten und weggelassene monströse Eigenschaften durch neue, womöglich noch eindringlichere ersetzt wurden – und nach mittelalterlichen Kriterien würde man wohl beide wenn auch nicht als reines Monstrum, so doch mindestens als in maßgeblichen Teilen monströs einstufen.


1 Die Schreibung Kundry bei Wagner und Cundrîe bei Wolfram orientiert sich an den zitierten Primärtexten in den Ausgaben von De Gruyter (Parzival) und Reclam (Parsifal). Sie wird in diesen voneinander abweichenden Formen auch beibehalten, um den Bezug auf die eine oder die andere Variante der Figur sichtbar zu machen. In direkten Zitaten folgt die Schreibung dem jeweils zitierten Text. Aus gleichem Grund werden die Namen des Titelhelden Parsifal (Wagner) bzw. Parzival (Wolfram) sowie des Zauberers Clinschor (Wolfram) und Klingsor (Wagner) unterschiedlich geführt. Namen weiterer Figuren folgen, soweit nicht anders genannt, dem Wagner-Text.

2 Wagner, Richard: Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel. Stuttgart: Reclam 2013, S. 54. Im Folgenden zitiert unter PS, jeweils direkt im Text nach der zitierten Stelle.

3 Böhland, Dorothea: Integrative Funktion durch exotische Distanz. Zur Cundrie-Figur in Wolframs ‚Parzival‘. In: Gaebel, Ulrike (Hrsg.): Böse Frauen – gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2001, S. 45-56, hier S. 44.

4 Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich (Hrsg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelalter-Mythen Bd. 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 161.

5 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Berlin: De Gruyter 2003: 780, 19-22 [Anmerkung: Zitate aus diesem Primärtext folgen dem Muster, dass zunächst die im Original enthaltene Gliederungsziffer und danach die exakten Versangaben genannt werden.]. Im Folgenden zitiert unter PZ, jeweils direkt im Text nach der zitierten Stelle.

6 Vgl. Habiger-Tuczay, Christa: Wilde Frau. In: Müller, Ulrich: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Konstanz: UVK 1998, S. 603-616, hier S. 606.

7 Vgl. ibid., S. 613.

8 Vgl. ibid., S. 605.

9 Vgl. Bronfen, Elisabeth: Kundry’s Laughter. In: New German critique 23/3 (1996), S. 147-161, hier S. 155.

10 Wurz, Stefan: Kundry, Salome, Lulu. Femmes fatales im Musikdrama. Frankfurt am Main: Lang, 2000, S. 41.

11 PZ 618, 19ff. Das „rôt“ identifiziert hier Parzival, der bei Wolfram als „Roter Ritter“ auftritt.

12 Wagner, Richard: Brief vom 10. August 1860. In: Dürrer, Martin (Hrsg.): Sämtliche Briefe. Band 12. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1999, S. 235-238, hier S. 237.

13 Giertler, Mareike: Vom Sinnesreiz zum Vorstellungsbild. Zur Funktion der Gralsbotin bei Wolfram von Eschenbach und Richard Wagner. In: Wagnerspectrum. Schwerpunkt Parsifal. 12/1 (2016), S. 43-66, hier S. 43.

14 Kienzle, Ulrike: Tönendes Nirvana. Von der musikalischen Aufhebung der Zeit in Wagners Tristan und Parsifal. In: Wagnerspectrum. Schwerpunkt Wagner und der Buddhismus. 3/2 (2007), S. 35-54, hier S. 40.

15 Wurz: Kundry, Salome, Lulu, S. 42.

16 Mertens, Volker: „Wesenlose Phantasterei“? Die mittelalterlichen Quellen von Wagners Parsifal. In: Wagnerspectrum. Schwerpunkt Parsifal. 12/1 (2016), S. 13-42, hier S. 33.

17 Vgl. Voss, Egon: Nachwort zu Parsifal. In: Ders. (Hrsg.): Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel. Stuttgart: Reclam 2013, S. 89-110, hier S. 102.

18 Vgl. Bhikku, Pandit: Kundry – the Personification of the Role of Desire in the Holy Life. In: Wagnerspectrum. Schwerpunkt Wagner und der Buddhismus. 3/2 (2007), S. 97-113, hier S. 99f.

19 Wagner, Richard: Brief vom 7. September 1865. In: Wittelsbacher-Ausgleichs-Fonds: König Ludwig II. und Richard Wagner. Briefwechsel. Karlsruhe: Braun 1936, S. 170-174, hier S. 174.

20 Giertler: Vom Sinnesreiz zum Vorstellungsbild, S. 57.

21 Ibid., S. 57.

22 Mertens: „Wesenlose Phantasterei?“, S. 37.

23 Wagner, Richard: Brief vom 30. Mai 1859. In: Dürrer, Martin (Hrsg.): Sämtliche Briefe. Band 12. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1999, S. 103-108, hier S. 107.

Grendel und seine Mutter – Menschen mit monströsen Eigenschaften oder humanisierte Monster?

Grendel und seine Mutter sind zwei von drei Gegenspielern Beowulfs in dem altenglischen Heldenepos, welches denselben Namen trägt wie sein Held. Im Folgenden soll untersucht werden, was für menschliche und monströse Charakterzüge sich an den beiden Bösewichten finden lassen. 1

Genealogie

Zur Genealogie des Antagonisten Grendels lässt sich Folgendes anmerken: Einen Vater scheint Grendel nicht zu haben, zumindest ist dieser nicht bekannt 2, er kennt seine Mutter, deren einziger Nachkomme er ist. 3 Ob und was für potentielle Vorfahren bis auf Kain Grendel und seine Mutter haben, bleibt unklar.  4

Sowohl über Grendel als auch über seine Mutter wird die Information gegeben, dass sie dem Geschlecht Kains entstammen. Kain, der Sohn von Adam und Eva, verübte aus Eifersucht den ersten Mord der Geschichte an seinem eigenen Bruder Abel, daher entstammt alles Böse sowie alle Verbrechen auf der Welt dem Geschlecht Kains. 5

Menschliche sowie monströse Züge Grendels und seiner Mutter

Grendel wird als „gräßlicher Unhold“ 6 vorgestellt, der fernab der Gesellschaft ein einsames Leben in den „begrenzenden Mooren“ 7 führt. Als seine auszeichnenden Charaktereigenschaften werden Mordlust 8, Verbitterung und Verdruss 9 beschrieben, die Festlichkeiten in Heorot und die damit einhergehenden Fröhlichkeit der Beteiligten sind für ihn kaum zu ertragen.

Grendel wird als teuflisches, gegen Gott agierendes 10, unmenschliches Ungeheuer dargestellt, doch bei genauerer Betrachtung erschließen sich an ihm immer mehr und mehr menschliche Züge. Für die Beschreibung Grendels wird häufig der Begriff „Mann“ eingesetzt 11, optisch soll er den Menschen ähnlich sein, allerdings wird er als „gewaltiger“ als andere Menschen beschrieben 12. Die Tatsache, dass alleine Grendels Kopf von vier Männern auf einem Lanzenschaft zum Goldsaal nach Heorot getragen werden muss 13, lässt darauf schließen, dass er deutlich größer ist als ein gewöhnlicher Mensch. Der in der Abstammung Kains gefundene Indikator für die Boshaftigkeit und Ungeheuerlichkeit Grendels und seiner Mutter, scheint allerdings auch Anhaltspunkt für die Menschlichkeit der beiden zu sein: Kain war ein Mensch, somit müssen seine Nachfahren ebenfalls etwas Menschliches an sich haben.

Grendel erscheint wie ein im Exil lebender „Einzelgänger“ 14, der sich nicht in das soziale System der Dänen einfügen möchte15, indem er weder Frieden stiften, noch Wergeld oder Bußgeld zahlen möchte. 16 Somit führt er ein trauriges und einsames Leben, welches er im Abseits der Gesellschaft verbringen muss. 17. Die durch die Isolation entstanden Emotionen Grendels — Wut, Eifersucht, Einsamkeit, Aggression —sind alles menschliche Gefühle und Empfindungen.

Allerdings wird er sprachlich auch immer wieder von den Menschen abgegrenzt 18 indem er beispielsweise als „Der Feind des Menschengeschlechts“ 19 bezeichnet wird. Übermenschliche Fähigkeiten und Eigenschaften in Form von unglaublicher Stärke 20 sowie einem grässlich flammenden Licht, welches aus seinen Augen kommt 21 unterscheiden ihn ebenfalls von den normalen Menschen. Wie bereits erwähnt, lassen sich auch optische Unterschiede in seiner Riesenhaftigkeit feststellen. Auch die Tatsache, dass er durch jegliche Art von Waffen nicht verletzt werden kann, ist eine übernatürliche Eigenschaft Grendels. Das wohl signifikanteste Indiz dafür, dass Grendel nicht komplett menschlich sein kann, stellt das Schwert dar, welches durch den Kontakt mit Grendels Blut schmilzt, als Beowulf dem bereits toten Grendel den Kopf abschlägt. Als Ursache hierfür wird im Text Grendels giftiger Geist, sowie sein zu heißes Blut genannt. 22

Außerdem wird ihm durch seine grausamen Angriffe auf Heorot und die damit zusammenhängenden barbarischen und blutigen Handlungen seine Menschlichkeit abgesprochen, beispielsweise verschlingt er gierig Leichname und trinkt das Blut aus den Adern der leblosen Körper. 23 Die Dimensionen seiner Angriffe sind so monströs, dass sie für einen Menschen kaum auszurichten sind, während seines ersten Angriffes alleine verschleppt er 30 Krieger 24, über Jahre hinlang greift er Heorot regelmäßig an, kann von den stärksten Kriegern nicht überwältigt werden und verlangt viele Opfer.

Ebenso die Tatsache, dass Beowulf Grendel im Kampf unter den gleichen Voraussetzungen gegenübertreten möchte, ebenfalls unbewaffnet, erhebt Grendel in gewisser Weise vom bloßen Ungeheuer oder Tier zu einem respektablen Gegner. 25 Der Drache, gegen den Beowulf nach seiner Heimkehr kämpfen muss (obgleich dieser natürlich Feuer speien kann, und somit auch als bewaffnet gelten kann), genießt dieses Privileg nicht, gegen ihn setzen Beowulf und schließlich auf Wiglaf ohne zu zögern Schwert und Dolch ein. 26

Grendels Mutter

Ähnliches lässt sich auch bei Grendels Mutter beobachten, auch bei ihr sind die Grenzen zwischen Ungeheuer und Mensch relativ unklar. Häufig wird sie als „Weib“ bezeichnet 27, auch ihre Kampfkraft wird als „Frauenkraft“, dem Mann unterlegen, bezeichnet. 28 Auch die Benennung als Mutter führt zu einer Wahrnehmung als menschenähnliches Wesen, allerdings wird sie ebenso als Ungeheuer 29 bezeichnet. Durch die Tatsache, dass von Grendels Mutter teilweise in der 3. Person Singular fem. gesprochen wird 30, aber auch in der 3. Person Singular mask. 31, wird ihre Einordnung  besonders erschwert.

Genau wie Grendel ist sie durch eine einfache Waffe nicht verwundbar, diese versagt sobald sie gegen Grendels Mutter eingesetzt wird. 32 Erst mit dem gigantischen Riesenschwert aus ihrer eigenen Behausung kann sie getötet werden. Das grelle Licht, welches erleuchtet, als Beowulf Grendels Mutter besiegt, scheint ebenso auf ihre Übermenschlichkeit hinzuweisen. 33

Grendel und seine Mutter leben beide in einer Behausung, die, obwohl sie fernab der Gesellschaft in dem Grendelsee liegt, und anscheinend für einen normalen Menschen schwer zu erreichen ist, der Halle in Heorot sehr ähnlich ist, was beide wiederum aufs Neue menschlich beziehungsweise ansatzweise zivilisiert wirken lässt. Die Halle ist ebenso eingerichtet durch z.B. das kostbare, alte von Riesenhand gefertigte Schwert 34, es ist dort aufgrund eines Daches trocken, obwohl die Halle mitten im Grendelsee liegt 35, außerdem ist der Saal belichtet, da dort ein loderndes, fast schon gemütliches Feuer brennt. 36 Also wirkt der Wohnort Grendels und seiner Mutter nicht wie eine modrige Sumpfhöhle, sondern wie eine recht zivilisierte Behausung.

Besonders nachzuvollziehen sind Trauer und Wut, die Grendels Mutter verspürt, als ihr Sohn Grendel durch Beowulf getötet wird. Erbittert und voll Zorn macht sie sich auf den gefährlichen Weg nach Heorot, um ihren Sohn zu rächen. 37 Es erscheint fast so, als sei diese Handlung impulsiv aus ihrem Zorn heraus entstanden, denn kurz nachdem sie dort ankommt und die Reaktion beziehungsweise Bewaffnung der zahlreichen Krieger sieht, ergreift sie schon wieder die Flucht um ihr Leben zu retten, nachdem sie hastig noch einen Krieger ergreift und Grendels abgetrennten Arm mitnimmt. 38

Als Beowulf in die Behausung der Mutter eindringt, schlägt er, nachdem er die Mutter getötet hat, dem auf dem Totenbett liegenden Grendel den Kopf ab. Die Tatsache, dass die Mutter für Grendel anscheinend eine Art Ruhestätte konzipiert hat, und dementsprechend wahrscheinlich um ihren Sohn trauert, lässt sich nicht mit dem animalischen Dasein eines Ungeheuers vereinen, diese Handlung könnte man durchaus als menschlich bezeichnen. 39

Gerade die Handlungen und Emotionen der Mutter, die Wut über den Tod ihres Sohnes und die damit verbundene Rachsucht, lassen sich auf gewisse Art und Weise nachvollziehen, man könnte sogar fast von Mitleid und Verständnis für Grendels Mutter sprechen.

 Wenig günstig war der Tausch,/
Daß auf beiden Seiten bar bezahlen sollten/
/Mit dem Leben ihrer Lieben. 40

An dieser Textstelle wird deutlich, dass die Mutter offensichtlich Liebe und Zuneigung für ihren Sohn empfunden haben muss, dies ist absolut nicht kompatibel mit der Vorstellung, sie sei ausschließlich ein böses, teuflisches Ungeheuer.

Fazit

Generell ist es schwer, Grendel oder seine Mutter den Kategorien Mensch oder Monster zuzuordnen, da beiden sowohl sprachlich als auch durch zugeschriebene Eigenschaften und beschriebene Handlungen sowohl monströse, als auch menschliche Charakterzüge zugewiesen bekommen. Grade Grendel vereint definitiv Mann und Monster.

Obwohl Grendel und seine Mutter Groll gegen die in Heorot lebenden Menschen hegen und fürchterliche Taten vollbringen, lässt sich die Motivation einiger Taten, wie zum Beispiel der Rache Grendels durch seine Mutter, ansatzweise nachvollziehen. Zusätzlich wird der Anschein erweckt, dass die beiden im Stande sind Emotionen zu verspüren, zum Beispiel Zuneigung füreinander oder auch Trauer. Dies wird zum Beispiel daran deutlich, dass Grendels Mutter für ihren Sonn eine Ruhestätte gestaltet. Definitiv werden beide durch übermenschliche Fähigkeiten und Eigenschaften von der Kategorie Mensch abgegrenzt, allerdings leben sie zum Beispiel, obwohl diese sich fernab von Heorot in einem See befindet, in einer ansatzweise zivilisierten Behausung.  Nicht zuletzt die Tatsache, dass sie von Kain abstammen, der zwar Wurzel alles Bösen ist, aber letztendlich auch ein Mensch, verdeutlicht die Problematik der Kategorisierung besonders.


 

Der Hobbit – eine Neufassung von Beowulf?

In J.R.R. Tolkiens Werken rund um die Welt Mittelerde sind viele Motive aus älterer Literatur, im Besonderen jener, die auf nordischen Mythen basiert, eingeflossen.[1] Ein Beispiel sind die Namen der 13 Zwerge aus dem Hobbit, die alle aus dem Gedicht Völuspá, einem Lied aus der Edda, stammen.[2] Einige besonders prägnante Ähnlichkeiten und damit vermutete Einflüsse gibt es zu dem altenglischen Epos Beowulf.[3] Die Parallelen bestehen vor allem zwischen Beowulf und dem Hobbit. Einige Stimmen gehen dabei so weit, zu behaupten, dass der Hobbit so etwas wie eine Neuinterpretation, oder eine moderne Neufassung von Beowulf ist.[4] Eine Vertreterin dieser Theorie ist Bonniejean Christensen. Sie hat ihre Dissertation den vielen Parallelen zwischen Beowulf und dem Hobbit gewidmet. Neben anderen Motiven geht Christensen dabei vor allem auf die Ähnlichkeiten in der Handlung ein. In diesem Artikel sollen drei Beispiele dieser Ähnlichkeiten näher beleuchtet werden, um zu überprüfen, inwieweit die These des Hobbits als Neufassung von Beowulf schlüssig ist.

Die Parallelen

Zunächst verweist Christensen darauf, dass der Handlungsrahmen durch die vorkommenden Monster eine entscheidende Gemeinsamkeit hat. Tolkien selbst hat die Meinung vertreten, dass die Aneinanderreihung von Begegnungen zwischen dem Helden und verschiedenen Monstern in Beowulf den roten Faden der Geschichte ausmachen und daran, gegenüber anderen Meinungen, nichts falsch sei.[5] Wenn man die Geschichte des Hobbit genauer betrachtet, findet man auch hier einen roten Faden, der durch Begegnungen mit Monster wesentlich geprägt wird. Letztlich arbeitet hier sogar von Anfang an alles auf die Begegnung mit dem letzten großen Monster, dem Drachen, hin. Dieses Grundkonzept ist also in beiden Geschichten vorhanden.[6]
Ähnlichkeiten findet man auch in einzelnen Handlungssträngen. Christensen gibt in ihrer Arbeit eine ganze Reihe von Parallelen an, von denen hier drei prägnantere Fälle als Beispiel dienen sollen. Die verschiedenen Passagen finden sich innerhalb der beiden Geschichten nicht immer an der gleichen Stelle im Handlungsverlauf. Das ist für einen solchen Einfluss aber auch nicht zwangsläufig nötig.

Die ersten Monster

Die ersten Monster, auf die die Gefährten im Hobbit treffen, sind drei Trolle, die im Wald um ein Feuer herum sitzen und sich ein Schaf rösten. Bilbo und die Zwerge werden von ihnen entdeckt und gefangen und werden erst durch den zurückkehrenden Gandalf gerettet, der die Trolle durch einen Trick in Stein verwandeln lässt.[7] Christensen zieht den Vergleich zwischen dieser Szene und dem ersten Monster in Beowulf, also zu Grendel.[8] Grendel wird dort als „Riese“[9] beschrieben. Die Trolle sind große menschenähnliche Wesen, die man ebenfalls als Riesen bezeichnen könnte. Des Weiteren erfährt man, dass die drei, seit sie aus den Bergen heruntergekommen sind, in der umliegende Gegend und den auf dem Weg liegenden Dörfern alles Essbare, was sie finden, fangen und verzehren. In der Umgebung scheint es aber nicht mehr viele Menschen zu geben. „Never a blinking bit of manflesh have we had for long enough,“[10], beschwert sich einer von ihnen.  Auch Grendel terrorisiert die Menschen, indem er sie immer wieder angreift und umbringt.[11] Und auch hier flüchten die Menschen aus seiner Umgebung. In beiden Fällen werden die Unruhestifter durch die Helden außer Gefecht gesetzt und so die Menschen in der Umgebung von ihnen befreit.

Beorn

In dem Handlungsabschnitt über den Besuch der Gefährten bei Beorn gibt es nach Christensen mehrere Zusammenhänge zu Beowulf. Der erste bezieht sich auf die Ankunft. Als Beowulf und sein Gefolge in Dänemark ankommen werden sie zunächst von einem Strandwächter und später von Wulfgar, einem Amtmann am Hofe, begrüßt und nach ihrer Herkunft gefragt. Ihre Ankunft wird daraufhin König Hrothgar übermittelt, der sich an Beowulfs Vater erinnert und die Schar empfängt.[12] Als die Gefährten im Hobbit an Beorns Heim ankommen, wird ihre Ankunft dem Hauseigentümer dort ebenfalls angekündigt.

„Some horses, very sleek and well-groomed, trotted up across the grass and looked at them intently with very intelligent faces; then off they galopped to the buildings. „They have gone to tell him of the arrival of strangers,“ said Gandalf.“[13]

Christensen interpretiert dies als eine etwas scherzhafte und untertriebene Umsetzung der ausgeschmückten Szene in Beowulf.[14]
Die nächste, von Christensen aufgestellte, Parallele besteht zwischen den beiden Trophäen-Köpfen.[15] Beorn verfolgt die Spuren der Gefährten zurück, um sich von deren Geschichte, über die Flucht vor den Orks, zu überzeugen. Als Bilbo Beorn fragt, was er mit den Orks getan hat, zeigt dieser ihm einen Orkkopf, der auf dem Eingangstor zu Beorns Heim steckt.[16] Den Kopf des Monsters als Trophäe findet man auch in Beowulf. Beowulf und sein Gefolge nehmen Grendels Kopf mit nach Heorot, nachdem Beowulf Grendels Mutter besiegt hat, und stellen ihn dort, ebenfalls aufgespießt, aus.[17]
Die letzte Gemeinsamkeit ist zwischen den beiden Abschieden.[18] Als die Gefährten im Hobbit Beorn verlassen und abreisen, bekommen sie von ihm als Unterstützung Pferde und Proviant, um ihre Reise weiter bestreiten zu können.[19] Auch Beowulf und sein Gefolge bekommen bei ihrer Abreise aus Dänemark von König Hrothgar Geschenke für das Besiegen von Grendel.[20]

Der Drache

Die wahrscheinlich deutlichste Parallele, die in der Forschung des Öfteren erwähnt wird, besteht in den Episoden rund um die Drachen der beiden Erzählungen. Christensen widmet den Ähnlichkeiten zwischen ihnen ein ganzes Kapitel. In dieser Stelle dieses Artikels wird allerdings nur auf die Handlungsparallelen rund um den Drachen eingegangen.
Der Drache Smaug aus dem Hobbit hat das Innere des Berges Erebor besetzt. Dort hat er einen großen Schatz angesammelt, den er nun hütet. Bilbo, der im Verlauf der Geschichte mehrmals den Titel Meisterdieb erhält, kann mithilfe des Ringes durch einen geheimen Nebeneingang ungesehen in Smaugs Heimstätte eindringen und ihm einen goldenen Pokal entwenden. Smaug, dem dieser Verlust nicht entgeht, der aber den Dieb nicht sehen konnte, macht sich auf den Weg seinen Zorn an der nahe gelegenen Menschenstadt auszulassen, da er den Dieb unter den Dorfbewohnern vermutet. Im Zuge dieses Angriffs wird Smaug getötet.[21]
Beim Drachen in Beowulf klingt die Geschichte sehr ähnlich.

[…] als auf einmal anfing,
In dunklen Nächten ein Drache zu wüten,
Der auf einer hochgelegenen Heide einen Hort bewachte,
Eine steile Steinhöhle. Ein Steig führt hinunter,
Den Leuten unbekannt. Doch gelangte einer,
Man weiß nicht wer, auf irgendeinem Wege dorthin
Zu dem heidnischen Hort. Die Hand stahl einen Schatz,
Ein glänzendes Schmuckstück, schwer bewacht vom Drachen, […]
[…] Einen kostbaren Kelch. Solcher Kleinode waren viele
Im Inneren der Erdhöhle, uralte Schätze, […][22]

Der Sklave, der hier im Auftrag seines Herren den Kelch stielt, kommt ebenfalls ungesehen am Drachen vorbei, allerdings nicht durch einen magischen Ring, sondern weil der Drache schläft.
Die Parallelen sind unverkennbar. Beide Drachen leben in einer Höhle aus Stein, bewachen einen Schatz und werden von einem ungesehenen Dieb eines goldenen Pokals beraubt. Anschließend machen sie sich beide auf, an den Menschen Rache zu nehmen, verwüsten dabei Teile von menschlicher Zivilisation und finden am Ende ihren Tod.

Kritik und Fazit

Christensen bietet in ihrer Arbeit eine ganze Reihe von Vergleichen und Ähnlichkeiten zwischen Beowulf und dem Hobbit. Obwohl von einigen Parallelen, wie die zwischen den Episoden der Drachen, durchaus geschlossen werden kann, dass Tolkien beim Schreiben des Hobbit von Beowulf inspiriert wurde, ist die These, dass der Hobbit eine Art Neufassung von Beowulf ist, vielleicht doch etwas zu stark. Viele Motive die Christensen als Parallele zwischen den beiden Geschichten aufzeigt, sind weniger speziell, als es zunächst klingt. Zum Beispiel die zwischen dem mitgebrachten und aufgespießten Orkkopf auf der einen und Grendels Kopf auf der anderen Seite. Den Kopf eines Gegners als Trophäe mitzunehmen ist ein gängigeres Motiv. Dass man in dem Punkt eine direkte Verknüpfung der beiden ausgewählten Werke herstellt, scheint etwas voreilig zu sein. Auch wenn die Ähnlichkeit so weit geht, dass es sich in beiden Fallen um die Köpfe von Monstern handelt.
Dass Tolkien im Erschaffen des Hobbits von Beowulf inspiriert wurde, kann man annehmen. Dass das Werk eine Neuinterpretation des altenglischen Epos ist, ist dann aber doch eine etwas zu drastische These.


[1] Eine Auflistung der verschiedenen möglichen Quellen mit zusätzlichen Kommentaren findet man in Shippey, Tom: The Road to Middle-Earth. Boston: Houghton, 1983, S. 288ff.

[2] Vgl. Shippey, Tom: The Road to Middle-Earth. Boston: Houghton, 1983, S.390.

[3] Vgl. Ebd., S.389.

[4] Vgl. Christensen, Bonniejean: Beowulf and The Hobbit: Elegy into Fantasy in J.R.R. Tolkien’s Creative Technique. Dissertation, University of Southern California, 1969, S. 5f.

[5] Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Monsters and the Critics. In: The Monsters and the Critics and other Essays. Hg. v. Christopher Tolkien. London: HarperCollins, S. 5-48.

[6] Vgl. Christensen, S.21.

[7] Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Hobbit, London 2006, S.41ff.

[8] Vgl. Christensen, S.39f.

[9] Beowulf: Ein altenglisches Heldenepos. Übersetzt und herausgegeben von Martin Lehnert. Reclam, Stuttgart 2004 S. 61, Vers 761.

[10] Tolkien: The Hobbit, S.42.

[11] Vgl. Beowulf, S.34ff, Vers 121ff.

[12] Vgl. Ebd., S.38ff, Vers 229ff.

[13] Tolkien: The Hobbit, S.137f.

[14] Vgl. Christensen, S. 96.

[15] Vgl. Ebd., S.99.

[16] Vgl. Tolkien: The Hobbit, S.154.

[17] Vgl. Beowulf, S.104f, Vers 1635ff.

[18] Vgl. Christensen, S.101.

[19] Vgl. Tolkien: The Hobbit., S.154f.

[20] Vgl. Beowulf, S.72f, Vers 1019ff.

[21] Vgl. Tolkien: The Hobbit.

[22] Beowulf, S.132, Vers 2210ff.

Unschuldig schuldig oder warum ist Cundrîe so hässlich?

Die Gralsbotin Cundrîe spielt eine entscheidende Rolle im Parzival Wolframs von Eschenbach: Aufgrund seiner Verfehlungen verflucht sie Parzival zunächst[1] und beruft ihn nach seiner Wandlung zum Gralskönig.[2] Cundrîe besticht durch ihre unbedingte triuwe gegenüber der Gralsgesellschaft,[3] für die sie Parzival und den anderen Mitgliedern der Tafelrunde sehr couragiert gegenübertritt und auf deren Fehlverhalten aufmerksam macht.[4] Cundrîe ist zudem äußert gebildet und weise.[5] Ihr Gewand ist kostbar und symbolträchtig.[6] Ihre Integrität und Kleidung kontrastieren stark mit ihrer körperlichen Hässlichkeit. Doch die Gralsbotin ist mehr als hässlich, sie ist monströs verunstaltet. Cundrîes Haare gleichen den Rückenborsten einer Sau, ihr Mund einer Hundeschnauze, ihre Zähne Eberzähnen, ihre Ohren Bärenohren, ihre Hände Affenhänden und ihre Fingernägel Löwenkrallen. Ihre Augenbrauen sind übermäßig lang und geflochten, ihr Gesicht stark behaart.[7] Durch das prinzipiell menschliche Aussehen, das mit tierischen Attributen gepaart ist, ist Cundrîe nach mittelalterlichem Weltbild in die Kategorie der Monster einzuordnen.[8] Zu den Elementen des Monströsen im äußeren Erscheinungsbild siehe den Artikel „Die Figur der Cundrîe zwischen Monster und Verführerin“ von J. Kühn.

Bemerkenswert ist, dass sich Cundrîe ihrer Monstrosität bewusst ist:
„ich dunke iuch ungehiure, und bin gehiurer doch dann ir.“[9]

Mit dieser Aussage betont sie ihr Selbstbewusstsein und ihren Mut trotz Hässlichkeit. Die höfische Gesellschaft im Mittelalter ging davon aus, dass ein äußerlich hässlicher Mensch auch innerlich hässlich ist, also über einen schlechten Charakter verfügt und vice versa. Durch diese Widersprüchlichkeit bei Cundrîe wird diese Kongruenz von äußerer und innerer Schönheit bzw. Hässlichkeit hinterfragt.[10] Zur Schönheit und Hässlichkeit im Mittelalter siehe den Artikel „Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch als monströs?“ von N. Dobers.

Doch warum ist Cundrîe so hässlich? Dieser Beitrag möchte die Frage untersuchen, warum die Gralsbotin in Bezug auf ihr Äußeres so monströs dargestellt wird und auf welchen Quellen die Begründung für ihre Verunstaltung beruht. Wolfram von Eschenbach legt die Antwort Cundrîes Bruder Malcrêatiure, der ebenso monströs wie seine Schwester aussieht, in den Mund:

Unser vater Adâm,
die kunst er von gote nam,
er gap allen dingen namn,
beidiu wilden unde zamn:
er rekant ouch ieslîches art,
dar zuo der sterne umbevart,
der siben plânêten,
waz die krefte hêten:
er rekant ouch aller würze maht,
und waz ieslîcher was geslaht.
dô sîniu kint der jâre kraft
gewunnen, daz si berhaft
wurden menneschlîcher fruht,
er widerriet in ungenuht.
swâ sîner tohter keiniu truoc,
vil dicke er des gein in gewuoc,
den rât er selten gein in liez,
vil würze er se mîden hiez
die menschen fruht verkêrten
unt sîn geslähte unêrten,
‘anders denne got uns maz,
dô er ze werke übr mich gesaz,‘
sprach er. ‘mîniu lieben kint,
nu sît an sælekeit niht blint.‘
diu wîp tâten et als wîp:
etslîcher riet ir brœder lîp
daz si diu werc volbrâhte,
des ir herzen gir gedâhte.
sus wart verkêrt diu mennischeit:
daz was iedoch Adâme leit,
doch engezwîvelt nie sîn wille.“[11]

Cundrîe und Malcrêatiure sind demzufolge Nachfahren Adams und Evas. Ihre Mutter war eine jener ungehorsamen Töchter, die sich nicht an die Mahnung ihres Vaters Adam hielten und während der Schwangerschaft Kräuter aßen, die zu monströsen Verunstaltungen bei den Kindern führten. Sie waren gierig und begingen wie Eva eine Sünde, weil sie ihre Gier nicht im Griff hatten. Es handelt sich um eine Art „zweiten Sündenfall.“[12] Um nachvollziehen zu können, warum Cundrîes Makel auf eine Sünde im biblischen Sinne zurückzuführen ist, wird im Folgenden das Menschenbild im Mittelalter angerissen.

Der Mensch des Mittelalters war über die Maßen fromm. Das Christentum erlebte in dieser Zeit einen epochalen Aufstieg.[13] Die Religion durchdrang durch alle Stände hinweg sämtliche Lebensbereiche. Der Mensch definierte sich quasi ausschließlich durch seine Religiosität und orientierte sich an den Aussagen und Schriften der Theologie, allen voran der Bibel.[14] Die Bibel galt als höchste Autorität auf intellektueller und geistiger Ebene; treuer Gehorsam war Gesetz.[15]

Die Besessenheit vom Gedanken an die Sünde war charakteristisch für den mittelalterlichen Menschen. Ziel des Menschen war es, keine Sünde zu begehen, d. h. sich nicht dem Teufel hinzugeben, indem man Lastern unterliegt. Diese Laster konkretisierten sich in Form der sieben Todsünden Hochmut, Habsucht, Gier, Wollust, Wut, Neid und Faulheit.[16]

Lucidarius und Wiener Genesis als Quellen Wolframs

Ausgangspunkt für die theologischen, literarischen und künstlerischen Bearbeitungen des Themas Sündenfall waren biblische Berichte über die Erschaffung und den Sündenfall der ersten Menschen, die ca. im Jahr 950 v. Chr. verfasst wurden. Hierauf aufbauend entstanden im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Genesis-Berichte.[17]

Der deutsche Lucidarius ist eine im 12. Jahrhundert entstandene mittelhochdeutsche Enzyklopädie anonymen Autors, die das damalige theologische und naturwissenschaftliche Wissen zusammenfasste.[18] Im Lucidarius ist wie im Parzival Wolframs explizit von Adams Töchtern die Rede:

Adam waʒ der wiʃeʃte man, der ie geborn wart. Do er uʒ dem paradiʃo cam, do ercander die wurʒen alle, die der nature warunt, ʃwel wib die eʒe, daʒ die geburt dauon verwandelt wurde. Do warnete er ʃine dothere, daʒ ʃi der wurʒe nith eʒen. Do gewunnen die wip fúrwiʒ, wie eʒ umbe die wurʒe ʃtuͤnde, vnde aʒent alle die wurʒen, die in ir uatir hete verboten. Die kint, die do uon den wiben wurden geborn, die uerwandeltin ʃich nach den wurʒen vnde miʃʃerietent alʃe ich vor geʃeit han.[19]

Die Enzyklopädie beantwortet somit die Frage nach dem Warum der Hässlichkeit mit der Abstammung von den Töchtern Adams, die durch den Verzehr der Kräuter Sünderinnen wurden und missgebildete Kinder gebaren.[20]

Eine weitere Quelle Wolframs ist die aus dem 11. Jahrhundert stammende Wiener Genesis, deren Autor ebenfalls unbekannt ist.[21] Die Wiener Genesis ist eine von drei Handschriften, die die so genannte Frühmittelhochdeutsche Genesis überliefert. Diese beruht auf der biblischen Genesis und hat die Erschaffung der Welt, den Sündenfall, die Geschichte von Kain und Abel, Abraham, Isaak und dessen Söhne bis zum ägyptischen Joseph zum Inhalt. Teilweise folgt die Erzählung der Wiener Genesis der Bibel, teilweise tauchen paraphrasierende Übersetzungen, gekürzte und ausführliche Beschreibungen und allegorische Deutungen auf.[22]

So handelt es sich bei den Sünderinnen in der Wiener Genesis nicht um die Töchter Adams, sondern um die Töchter Kains, des ersten Mörders in der Menschheitsgeschichte. Die sündhaften Töchter ignorieren die Warnungen ihres Großvaters Adam:

er [Kain] lerte siniu chint die zŏber die hiute sint. dů wurten die scuzlinge glich deme stamme: ubel wůcher si paren, dem tiuele uageten. Adam hiez si miden wurze, daz si inen newurren an ir geburte. sîn gebot si uerchurn, ir geburt si flurn.[23]

Trotz der thematischen Übereinstimmung zwischen Wiener Genesis und Parzival mit Blick auf den verbotenen Verzehr der Kräuter bevorzugt Nellmann den Lucidarius als Quelle Wolframs, weil der Text in der Wiener Genesis Cundrîe zum Nachkommen des ersten Mörders auf der Erde überhaupt und Brudermörders macht, was inakzeptabel wäre.[24] Denn die Verwandtschaft mit einem Menschen, der moralisch gesehen derart verwerflich handelt, würde einen Schatten auf Cundrîes Integrität werfen und sie als Mitglied der Gralsgesellschaft womöglich unglaubwürdig machen.

Schlussbetrachtung

Der Mensch des Mittelalters war in höchstem Maße religiös und lebte nach der Bibel bzw. nach ihren Versionen und Auslegungen. Irritierende Phänomene wie körperliche Verunstaltungen bei Menschen wurden nicht nach naturwissenschaftlichen, sondern nach biblischen Maßstäben erklärt. Demzufolge wird das hässlich-monströse Äußere der Gralsbotin Cundrîe mit dem Sündenfall der Nachkommen Adams und Evas erklärt. Cundrîes und Malcrêatiures Hässlichkeit ist eine Sichtbarmachung der Ursünde. Sie haben keine Sünde begangen, haben lediglich die Sünde ihrer Vorfahren geerbt und sich dadurch schuldig gemacht. In gewisser Weise sind sie unschuldig schuldig.[25]

Diese Art der Erklärung bei Wolfram von Eschenbach ist kein Einzelfall in der Literatur des Mittelalters. In der altenglischen Dichtung Beowulf, dem ältesten vollständig erhaltenen germanischen Heldenepos,[26] wird das Monster Grendel in das Geschlecht Kains eingereiht. Durch den Mord an seinem Bruder Abel verbannte Gott Kain aus dem Menschengeschlecht. Grendel ist ein Monster, weil er von Kain abstammt.

Biblische Berichte wurden im Mittelalter als Erklärung für unverständliche, von der Norm abweichende Erscheinungen herangezogen. Aufgrund der strengen Gläubigkeit der Menschen und der Anerkennung der Bibel als höchste theologische Instanz waren diese Erklärungen für den Menschen des Mittelalters plausibel und unantastbar.[27]


[1] Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2003: 316.

[2] Vgl. PZ: 781.

[3] Vgl. ebd.: 318, 5-12.

[4] Vgl. ebd.: 314, 29-30; 315, 7-9.

[5] Vgl. ebd.: 312, 19-27; 322, 13-30.

[6] Vgl. ebd.: 313, 1-13; 782, 14-30.

[7] Vgl. ebd.: 313, 17-30; 314: 1-10.

[8] Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 17-18.

[9] PZ: 315, 24-25.

[10] Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler 2004, S. 76f.

[11] PZ: 518, 1-30; 519, 1.

[12] Vgl. Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 166.

[13] Vgl. Le Goff, Jacques (Hg.): Der Mensch des Mittelalters. Frankfurt/Main: Magnus 2004, S. 8.

[14] Vgl. Le Goff, S. 10.

[15] Vgl. ebd., S. 44.

[16] Vgl. ebd., S. 36.

[17] Vgl. Hubrath, Margarete: Eva. Der Sündenfall und seine Folgen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 243.

[18] Vgl. Gottschall, Dagmar / Steer, Georg (Hg.): Der deutsche ‚Lucidarius‘. Band 1. Kritischer Text nach den Handschriften. Tübingen: Max Niemeyer 1994, S 25.

[19] Gottschall / Steer (Hg.), S. 25, 4-11.

[20] Vgl. Nellmann, Eberhard: Der ‚Lucidarius‘ als Quelle Wolframs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 122. Band (2003), S. 54-55.

[21] Vgl. Hamano, Akihiro: Die frühmittelhochdeutsche Genesis. Synoptische Ausgabe nach der Wiener, Millstätter und Vorauer Handschrift. Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. XIX.

[22] Vgl. ebd., S. XI-XII.

[23] Ebd., S. 120, 1282-1291.

[24] Vgl. Nellmann, S. 55.

[25] Vgl. Pappas, S. 166.

[26] Vgl. Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Stuttgart: Reclam 2004,  S. 3.

[27] Vgl. Le Goff (Hg.), S 44.

Die Darstellung des Feindes im Rolandslied

Monströse Darstellung der ‚Heiden’ als Legitimation der Vernichtung?

Das Bild der Muslime aus Sicht des christlich-europäischen Menschen im Mittelalter ist äußerst negativ geprägt. Die Andersgläubigen werden in mittelalterlichen Texten oft als ‚Heiden’ stigmatisiert und mit dem Teufel im Verbund gesehen. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad trägt zu dieser Wahrnehmung besonders bei: Hier werden Muslime dämonisiert und als das Böse dargestellt, während Christen antithetisch als das Gute und Richtige herausgestellt werden. Die sog. Sarazenen bilden hier also das Feindbild der Christen. Jedoch findet diese Gegenüberstellung von Gut und Böse im Rolandslied im Kontext der Kreuzzüge statt: Das Reich Karls des Großen soll erweitert werden – durch die Bekämpfung der spanischen Mauren. Das religiöse Feindbild steht also in unmittelbarem Zusammenhang zu einem politischen Feindbild, daher soll sich in diesem Artikel der Frage gewidmet werden, ob im Rolandslied die monströse Darstellung des Feindes als Legitimation der Vernichtung zu verstehen ist.  Als Grundlage dieser These dienen die Annahmen von Cohen, welche später genauer erläutert werden sollen.

Zunächst wird der für diese Fragestellung nötige Kontext des Rolandsliedes geboten, d.h. eine Erläuterung der Entstehung und Gattungszugehörigkeit sowie der literaturhistorische Kontext (Kreuzzugsliteratur).  Daran anschließend soll betrachtet werden, wie Muslime und der islamische Glaube allgemein im christlich-europäischen Weltbild des Mittelalters empfunden und dargestellt sind, um darauf aufbauend die Darstellung im Rolandslied zu untersuchen.

Das Rolandslied – Kontext und Inhalt

Das Rolandslied des Pfaffen Konrad entstand um 1170 und stellt eine Adaption des altfranzösischen Chanson de Roland dar, wobei nicht genau bekannt ist, welche Quelle herangezogen wurde.1 Die mittelhochdeutsche Fassung wurde auf einen bestimmten Aspekt hin deutlich verändert bzw. angepasst: „Der Pfaffe Konrad hat, so der Forschungskonsens, seine altfranzösische Vorlage, […] mit seiner Tendenz zur ‚Vergeistlichung’ […] auf ihre religiöse Aussagekraft hin vereindeutigt.“2

Während der altfranzösische Text also der Gattung chanson de geste3zuzuordnen ist, lässt sich Das Rolandslied des Pfaffen Konrad zwischen Heldenepos und Kreuzzugsdichtung verorten.4 Wichtig ist dabei zu unterscheiden, dass der altfranzösische Text vordergründig das französische Nationalgefühl motivieren sollte,5 während die mittelhochdeutsche Adaption einen christlich-heilsgeschichtlichen Sinn verfolgt.6

Der Text handelt von den Kreuzzügen Karls des Großen gegen die spanischen Mauren. Roland kämpft an der Seite Karls für dessen Weltreich und damit für die Erfüllung des göttlichen Reiches. Er geht als Protagonist hervor, da er als Märtyrer „das treffendste Beispiel eines Miles christianius,jenes christlichen Kriegers, der das Kreuz nahm und gegen die Muslime zog“7 abgibt.

Die Wahrnehmung des Islams im Mittelalter aus europäisch-christlicher Perspektive

Das Rolandsliedillustriert die Mentalität und Motivation der Kreuzzüge sowie die Abneigung gegenüber den Muslimen im christlich-europäischen Denken des Mittelalters allgemein: „Der Islam machte Angst. Denn die Menschen dachten sich der christlichen Mappae-mundi-Tradition gemäß die größten Teile der Welt […] als von Muslimen besetzt.“8 Der europäische Mensch des Mittelalters verfügte nur über ein verzerrtes Bild des Islams.9 Der fremde Glaube wurde oft als ‚gewalttätige’ Religion bezeichnet und damit dem ‚friedlichen’ Christentum antithetisch gegenüber gestellt.10 Ihr Prophet Mohammed galt als Antichrist und Sohn Satans.11 Laut Frank Meier wurde „[d]er Prozeß der Abgrenzung […] aus dem Gefühl der Unterlegenheit in der Wissenschaft gespeist, das durch das Gefühl der Überlegenheit der eigenen Offenbarungsreligion kompensiert wurde.“12 Außerdem wurde der Islam aus christlicher Sicht „nicht als eigenständige Religion anerkannt, sondern als widergöttlicher Kult in die christliche Heilsgeschichte eingeordnet.“13

Die Mentalität der Kreuzzüge und deren Ausarbeitung im Rolandslied

Der Islam stellt folglich ein negatives Gegenbild zum Christentum dar, dementsprechend gelten die Kreuzzüge als heilige Kriege, welche Meier in einem Zug als Vernichtungskriege bezeichnet.14 Für die Mentalität der Kreuzzüge, sowie dessen Ausarbeitung im Rolandslied, gilt: „[…] Die Kreuzritter bewähren sich im Blutvergießen als Krieger wie als Christ, auch als tötende Heroen können sie, sollten sie im Kampf gegen die Feinde des Glaubens umkommen, sich ihres Platzes im Himmelreich sicher sein.“15

Dies zeigt sich zum Beispiel, nachdem die Fürsten nach Karls Ansprache zum Kriegszug beteuern, dass sie alle treu an seiner Seite kämpfen würden und Roland diese Treue kommentiert:

wie sælec der geborn wart,
der nû diese hervart
gevrumet williclîche!
Dem lônet got mit sînem rîche,
des mag er grôzen trôst hân. (R: V147ff.)16

Die Kriegszüge Karls des Großen stehen folglich im Ideal der militia Dei, dem Krieg im Dienste Gottes.  Christen und ‚Heiden’ stellen folglich die irdischen Stellvertreter von Gott und Teufel dar, zumindest aus der Sicht des christlich-europäischen Menschen des Mittelalters. Diese Antithetik – Christ und Muslim, Gott und Teufel, Gut und Böse – wird im Rolandsliedbesonders hervorgehoben:

So werden etwa […] die spanischen Mauren zu den heidnischen Gegnern Karls und als schwarz und hässlich, Kinder des Teufels, hinterhältig, verräterisch und feige charakterisiert, die christlichen Kämpfer dagegen gerne als ihr genaues Gegenteil: Als mutig, treu, schön, siegreich im Kampf oder, sollte letzteres ausnahmsweise nicht zutreffen, siegreich zumindest in der Gewissheit ihrer endgültigen Erlösung beim Jüngsten Gericht.17

Die Vernichtung des Feindes (also der ‚Heiden’) wird durch die Verbreitung des Christentums bzw. den Dienst an Gott legitimiert: „die haidenscaft zestœren/ die cristenhait gemêren.“ (R: V85f.) Denn der Krieg an sich steht nicht im Sinne Gottes, erst durch die Stigmatisierung der Muslime als Heiden und Verbündete des Teufels wird der Krieg erlaubt oder sogar als von Gott gewollt dargestellt.

Bedeutung der monströsen Darstellung der ‚Heiden’

Die Darstellung des Feindes als Monster verfolgt dabei den gleichen Sinn. Um dies genauer zu erläutern, hilft eine wichtige Annahme Cohens: „representing an anterior culture as monstrous justifies its displacement or extermination by rendering the act heroic.“18

Diese Aussage lässt sich auch auf das Rolandslied beziehen. Die gegnerische Kultur wird von den ‚Heiden’ repräsentiert. Ihre Vernichtung, durch die Streitmacht Karls wird als heldenhaft markiert, da im Sinne Gottes gehandelt wird: Die christlichen Krieger sind mutig, tugendhaft und handeln folglich richtig. Dies hängt vor allem auch mit der christlichen Bedeutung des Monsters zusammen, auf die im weiteren Verlauf noch Bezug genommen werden soll.

Jedoch muss dabei zunächst erwähnt werden, dass die ‚Heiden’ nicht durchgängig als ein monströses Volk dargestellt werden. Es liegt allerdings eine deutliche Tendenz vor, in der die Sarazenen oft mit Hunden verglichen oder kynokephal dargestellt werden:

„der künc von Funde -/ ir houbet scain sam der hunde.“ (R: V2655f.) Ein Teil der Streitmacht des Königs Marsilie bzw. die Männer des Königs von Funde werden von dem Dichter als hundsköpfige Gestalten beschrieben.19 Die Darstellung erinnert sehr an das Wundervolk der Kynokephalen, da im Besonderen nur der Kopf als hundeartig beschrieben wird und nicht der gesamte Körper. Die Armee des Königs von Funde wird folglich als monströs beschrieben. Dies hat vor allem den Hintergrund, dass das mittelalterliche Monster ein Zeichen der Sünde darstellt: „Ihre körperlichen und sozialen Unzulänglichkeiten […] erklärte man sich zumindest im theologischen Bereich mit der Ferne vom paradiesischen Urzustand, mit dem Sündenfall und dem Ungehorsam gegenüber Gottes Geboten.“20

Durch die monströse Darstellung des Feindes wird seine Gottlosigkeit untermauert und illustriert, ganz im Sinne des Kreuzzugsgedankens. Die kynokephale Gestalt bedeutet eine Entfernung des paradiesischen Urzustands, die Vernichtung einer solchen Gestalt erscheint folglich als besonders legitim, da hier kein Mensch, sondern ein Monster getötet wird. Jedoch stellt diese Textstelle eher eine Ausnahme einer derartig monströsen Gestaltung der ‚Heiden’ dar. Der Feind wird allerdings sehr oft mit Hunden verglichen:

An einer Stelle der Racheschlacht wird der Kampf gegen den Feind durch die Figuren Naimes und Ansgis folglich beschrieben: „si sluogen si an dem wal/ alsô die hunde ze tal.“ (R: V8309f.) In der Schlacht von Ronceval findet sich ein ähnlicher Verweis, in dem der Bischof Turpin gegen die Sarazenen kämpft und sie zu Boden schlägt: „[…] die haiden allenthalben sîn/ vielen in daz wal/ sam die hunde ze tal.“ (R: V5156 ff.) Ebenfalls in der Schlacht von Ronceval werden die zahlreich herumliegenden Leichen der ‚Heiden’ beschrieben als ‚räudige21 Hunde’: „diu ir scar alsô dicke/ gelâgen an dem gewicke/ sam die hunte unraine.“ (R: V4527)

An diesen Stellen (und vier weiteren)22 wird deutlich, dass die Bezeichnung hund oderhunt als Vergleich für den Feind eingesetzt wird, z.B. durch die Präpositionen alsô oder sam. In der Racheschlacht bezeichnet Karl, im Gespräch bzw. Gebet zu Gott, seine Feinde sogar direkt als Hunde: „erlœse uns von den hunden“ (R: V8420).

Sabel schreibt, dass die Bezeichnung „Hund […] schon im Mittelalter eines der häufigsten Schimpfworte [war], der Ausdruck konnte aber auch speziell Juden oder Heiden bezeichnen.“23

Interessanterweise spricht Paligan, der König der ‚Heiden’, in seiner Ansprache, in der er sein Heer gegen den Kaiser für die Racheschlacht aufstellt, von dreißigtausend Helden, die Borsten wie Schweine auf dem Rücken tragen: „an dem rücke tragent si borsten sam swîn.“ (R: V8046)

Diese Beschreibung wird als Zitat bzw. direkte Rede Paligans markiert. Da er davor davon spricht, wie tapfer die Helden seien (vgl. R: 8045), ist der monströs anmutende Vergleich mit einem Schwein positiv konnotiert. Die Schweineborsten stehen für eine Art schützende Überlegenheit im Kampf. Durch die direkte Rede Paligans gilt die positive Bedeutung jedoch nur für eine ‚heidnische’ Perspektive, für die christlich-europäische Perspektive bleibt eine derartige Darstellung monströs und steht damit im Zeichen des Bösen und Sündhaften.

Conclusio

Die negative Darstellung der ‚Heiden’ im Rolandsliedverfolgt einen christlich-heilsgeschichtlichen Sinn, deswegen liegt es nahe, dass auch die Ausgestaltung als Monster hier seinen Platz findet, um den Feind zu dämonisieren. Jedoch zeigt sich diese Darstellungsmethode nicht als stringent und taucht eher selten auf. Häufiger treten jedoch Beschreibungen auf, in denen der Feind direkt mit dem Teufel in Verbindung gesetzt wird. Die kynokephale Gestalt zeigt sich hier also eher metaphorisch, um das Böse und Sündhafte zu illustrieren. Außerdem wurde in diesem Artikel nicht auf die äußerliche und innere Beschreibung der Helden und dessen Feinde eingegangen. Dabei soll zuletzt noch erwähnt werden, dass dem Feind auch (jedoch eher selten) eine positive äußerliche Beschreibung zukommen kann. Diese wird jedoch den christlichen, inneren Werten diametral gegenüber gestellt24 und durch den falschen Glauben wieder relativiert.

Wichtig ist noch zu erwähnen, dass das Rolandslied einen deutlichen Anti-Islamismus propagiert und damit ein extrem verzerrtes Bild dieser Religion wiedergibt, allerdings sollte dabei gleichzeitig die Frage gestellt werden, inwiefern dies auch noch heute stattfindet. Das Medium der Darstellung mag sich verändert haben, jedoch ist Islamfeindlichkeit (auch als Antithetik) auch noch heute in der westlichen Gesellschaft präsent und wird oft durch ein einseitiges Bild dieser Kultur und Religion vermittelt.

Die thematische Opposition im Beowulf – Ein Blick auf die Grendel-Figur und ihre Opposition zum Guten

Die thematische Opposition Grendels – Die methodische Vorgehensweise

Dieser Artikel widmet sich der thematischen Opposition der Grendel-Figur.[1] Die Untersuchungsgegenstände dieses Artikels sind Robert Zemeckis 2007 erschienener Film Die Legende von Beowulf und der altenglische Primärtext Beowulf. Untersucht werden beide Gegenstände unter folgender Frage: Inwiefern unterscheidet sich die thematische Opposition der Grendel-Figur im altenglischen Beowulf vom im Jahr 2007 erschienenen Film Die Legende von Beowulf? Es wird postuliert, dass Grendel ein thematisches Gegenstück im Film sowie im Primärtext darstellt. Diese Antibeziehung unterscheidet sich jedoch stark im Film und Buch. Im Primärtext stellt Grendel das Gegenstück zur christlichen Ordnung der Dänen dar und ist somit die Verkörperung der metaphysischen Abwesenheit des Guten.[2] Dieses metaphysisch-theologische Konzept der Grendel-Figur wird im Film in eine postmoderne Interpretation übertragen. Grendel stellt somit im Film die Schattenseite der menschlichen Seele, genauer der Seele Hrothgars, dar. Um dieses Postulat zu untersuchen muss zuerst die Abstammungsgeschichte der Grendel-Figur in beiden Werken genauer dargelegt werden. Der Fokus der Untersuchung im Primärtext liegt dabei auf der Dichotomie der Dänen und ihren Werten, wohingegen in der Analyse des Films der Fokus auf die Dichotomie zwischen Hrothgar und Grendel gerichtet wird.

Grendel und Kain – Grendel als Verkörperung der Abwesenheit des Guten im Beowulf

Die Einführung der Grendel-Figur bringt bereits viele Hinweise auf die dämonische Natur Grendels. Grendel sei „ein Feind aus der Hölle“[3], ein „grimmer Geist“[4] und ein „gräßlicher Markgänger“ [5] . Die Abstammungslinie der Grendel-Figur geht im Primärtext direkt auf Kain zurück, jedoch nicht auf die vorsintflutlichen Giganten.[6] Orchard weist in seinen Studien des Manuskriptes darauf hin, dass der Verfasser des Werkes diese Unterscheidung bewusst gewählt hat. Jesaja 26,14 gigantes non resurgent (The Giants shall not rise again) ist dabei die Bezugsstelle des Verfassers, die das Weiterexistieren vorsintflutlicher Giganten verneint und die vom Verfasser des Textes übernommen wurde.[7] Tatsächlich handelt es sich bei Grendel vielmehr um einen antitypischen Abkömmling Kains, da Grendel ebenso wie Kain, ein Mal trägt:

In Beowulf we are told that Cain went ‚guilty‘ or ‘marked’ (fag) into the wastes […] Grendel too, of course, is fag and is explicitly described as the ‘enemy of mankind’ (feond mancynnes; mancynnes feond), shortly after each of the passages on Cain (lines 164 and 1276), so underlining the parallel still further.[8]

Die Abstammung von Kain erklärt jedoch nicht, warum Monster wie Grendel weiterhin die Erde heimsuchen und wie genau die Abstammung Grendels nach der Flut gesichert ist. Ein Hinweis findet sich in der Abstammung des Schwertes, welches Beowulf in der Unterwasserhöhle Grendels und seiner Mutter findet und mit dessen Hilfe er die beiden erschlagen kann. „Ein scharfes altes Schwert von Riesenhand“ [9] deutet auf die Geschichte Hams hin, einem der biblischen Söhne Noahs. Ham wird laut Orchard immer wieder in verschiedenen altenglischen Texten und theologischen Auseinandersetzungen als „zweiter Kain“ und als Grund für das Weiterexistieren des Bösen in der Welt gesehen.[10] Durch ihn überlebten die verdorbenen Künste der Giganten und so wurde auch er von Gott verflucht. Es gibt jedoch noch deutlich mehr Abstammungsgeschichten, auf die sich der Verfasser des Beowulf bezieht, auf die hier nicht weiter eingegangen werden.

Grendel stammt also vermutlich von Kain bzw. Ham ab. Diese Genealogie Grendels, die der Verfasser des Textes direkt mit der Einführung der Figur vollbringt, stellen diesen in ein oppositionelles Verhältnis mit den Dänen und Gauten, Nachkommen Japhets. Der Verfasser hört jedoch hier nicht auf und führt dieses Verhältnis im Verlauf des Werkes weiter aus, um zu unterstreichen, dass Grendel mehr als nur ein Antityp ist, denn Grendel ist die dichotomische Gegenposition zum Guten schlechthin und seine Opposition zu den Dänen ist eine Weiterführung des Kampfes Kains gegen Gott.[11]  Die erste Erwähnung Grendels bringt diesen in die thematische Opposition zum „hellen Gesang des Skops“,[12] einem Gesang über die Erschaffung der Welt, der Menschen und eine Lobpreisung Gottes. „Grollend erduldete“ [13] Grendel, „der in der Finsternis hauste“[14], dieses Lied, was ihn in Opposition zum „lauten Jubel“[15] und dem „fröhlichen Treiben“[16] der Dänen setzt. Seine Aversion der Sonne gegenüber wird hier auch erklärt, da diese als Siegeszeichen Gottes gesetzt wurde.[17] Das darauffolgende kannibalistische Massaker Grendels wird von Anderson als Weiterführung dieser thematischen Opposition gesehen. Denn nachdem die Dänen ihr eigenes Festmahl bei Anbruch der Nacht beendeten, fing Grendel seines an.[18] Das Massaker sowie die nächtliche Besetzung der Halle durch Grendel sieht Anderson als Grendels thematische Opposition zum dänischen Hof: „light versus darkness, joy versus misery, music versus noise, companionship versus slaughter, sleep versus night-stalking, feasting versus cannibalism, community versus solipsism.”[19] Ein weiteres Beispiel für die thematische Opposition findet sich in Beowulfs Kampf mit Grendel. Der Kampf mit Beowulf zeigt seine thematische Opposition zum nordischen Ideal des ehrenhaften Kampfs und der Tapferkeit. Grendels Immunität Waffen gegenüber ist magischer Natur; er verzauberte sich selber mit einem Schutzzauber. Dies ist außerdem ein Hinweis auf die verbotenen Künste der Giganten.[20]  Dieser Mangel an Ritterlichkeit bringt ihm nur Spott von Seiten Beowulfs ein.[21]  Doch sobald der Zweikampf zwischen ihm und Beowulf ausbricht und Grendel feststellen muss, dass Beowulf ihm gleichauf ist, verfällt dieser in Panik und flieht, nicht interessiert und zu feige für einen Kampf auf Augenhöhe.[22]

Grendel und Hrothgar – Grendel als Verkörperung des Bösen im Menschen

Robert Zemeckis Film präsentiert eine andere, postmoderne Interpretation der Grendel-Figur. Die männliche Abstammungslinie Grendels geht in Zemeckis Film nicht auf Kain, sondern auf Hrothgar, den dänischen König, zurück:

Wealthow: […] Grendel. Our curse. He is my husband’s shame.
Beowulf: Not a shame, but a curse.
Wealthow: Shame. Hrothgar has no…other sons…
And he will have no more, for all his talk. [23]

Dieser Unterschied hat auf die thematische Opposition Grendels einen starken Einfluss. Anders als im Primärtext ist Grendels thematische Opposition nun nicht der externe Kampf zwischen Gutem und Bösem. Es ist nun vielmehr ein interner Kampf. Aus diesem Grund soll sich in diesem Abschnitt der Fokus auf die thematische Opposition und Überspitzung der schlechten Eigenschaften Hrothgars in der Grendel-Figur richten. Die erste Konfrontation zwischen Grendel und Hrothgar findet ebenso wie im Primärtext aufgrund der Geräusche aus der Festhalle Heorot statt. Anders als im Primärtext jedoch ist es nicht der „Gesang des Skops“ dessen Inhalt Grendel aus seiner Höhle lockt, sondern der Lärm eines ausschweifenden Festes.[24] Hrothgar wird hierbei als nackter, maßloser Saufbold dargestellt, dessen Überspitzung im darauffolgenden kannibalischen Festmahl des ebenfalls nacktem Grendels seine Spiegelung findet.[25] Das Motiv des kannibalischen, nächtlichen Festmahls wurde aus dem Primärtext übernommen und transponiert. Die charakterlichen Oppositionen hören dort jedoch nicht auf. Die Lärmempfindlichkeit Grendels und die Lautstärke Hrothgars stellen eine weitere Opposition dar: er wird direkt mit seiner lauten Stimme vorgestellt: „The King is happy, shouting loudly enough to be heard by the furthest dog” [26] und “ Hrothgar is laughing loudly at some dirty joke.”[27] Besonders der letzte Abschnitt deutet bereits auf die nächste Opposition hin; das Kleinkindlich-Unschuldige Grendels versus das Alte-Verruchte Hrothgars:

While Grendel is not human, if he were human, he would be retarded, perhaps brain-damaged. He is honestly a sweet and gentle person, except in the matter of eating people, and then only when driven mad with noise.
Grendel begins to play with the spear (and the head on it) as if it were a puppet. [28]

Dieses Kindlich-Unschuldige Grendels bringt eine dichotomische Spannung zwischen seiner Asexualität, er wird ohne Geschlechtsteile dargestellt, und der Hypersexualität der Mutter Grendels samt Verführung Hrothgars. An verschiedenen Punkten im Film wird gezeigt, dass in der Beziehung zwischen Hrothgar und Wealthow kein sexueller Verkehr stattfindet. Der Grund hierfür scheint der Betrug an seiner Frau mit Grendels Mutter zu sein. Eine Deutung in diesem Sinne, könnte die asexuelle Natur Grendels mit der Beziehung Hrothgar-Wealthow in Verbindung bringen.[29]

Monster und der kulturelle Perspektivenwechsel auf diese

Die zeitgenössische Aufarbeitung mittelalterlicher Texte und derer Monster muss zwangsweise eine neue Sichtweise mit sich bringen. In diesem Artikel wurde versucht dies an der Grendel-Figur im Beowulf zu untersuchen. In beiden Versionen der Sage, stellt Grendel eine Hürde und eine thematische Opposition dar, jedoch ist diese Hürde in beiden Werken anders verortet. Der Primärtext des Beowulfs scheint das Monströse als thematische Opposition zum Guten zu sehen. Die Identität Grendels als Troll ist dabei nebensächlich.[30] Er wird nicht durch das charakterisiert, was er ist, sondern durch seine Opposition zum Guten. Diese Darstellung des Bösen in personifizierter Form bildet im Primärtext ein Hindernis, das überkommen werden muss in der Aufgabe Beowulfs, einem Streben nach Ruhm und dem Heroischen. Risden beschreibt diese Suche nach Ruhm als externes Suchen nach Sinn, Anerkennung etc.[31] Das Monster ist so eine Repräsentation der Hürden, die der Mensch auf der Suche nach Sinn und nach einer Möglichkeit, etwas zu erschaffen, das größer als er selbst ist und seinen eigenen Tod überdauern kann, überwinden muss.[32] Dieser externe Fokus der Monster weicht der Freud’schen Revolution. Indem das christliche Motiv im Film aus dem Fokus genommen wird, erscheint die Opposition individuell.  Der Fokus der Monster rückt intern; epische Schlachtfelder weichen dem inneren Kampf der Psyche. Das Monster als Hürde bleibt bestehen. Die Untersuchung des Films Zemeckis scheint auf diesen Wechsel hinzuweisen. Nicht mehr nur als die Verkörperung des Bösen, das überwunden werden muss, wird die Grendel-Figur zur Charakterisierung der Schwächen Hrothgars und des Menschen verwendet. Seine Schwäche im Angesicht der verführerischen Mutter Grendels zeigt einen Kampf mit sich selbst und den Konsequenzen seines Handelns.


[1]     Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Lehnert, Martin (Hg.); Stutt-gart: Reclam 2004.

Sekundärliteratur

Anderson, Earl R.: Understanding Beowulf as an Indo-European epic: a study in comparative my-thology. Lewiston [u.a.]: Edwin Mellen 2010.

Becker, Ernest: The Denial of Death. New York: Simon & Schuster 1973

Gaiman, Neil & Avary, Roger: Beowulf. The Script Book. With in-sights form the authers, their early concept art, and the first and last drafts of the script for the film. New York: HarperCollins 2007.

Haydock, Nickolas; Risden, E.L.: Beowulf on Film. Adaptations and Variations. London: McFarland 2013

Orchard, Andy: Pride and Prodigies. Studies in the Monsters of the Be-owulf-Manuscript. Cambridge: Brewer 1995.

[2]     Diese Formulierung für das Wort „böse“ wird bewusst gewählt, da Böses im theologisch-mittelalterlichen Sinne nicht existiert, da man so unterstellen würde Gott könnte Böses erschaffen.

[3]     Siehe Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Lehnert, Martin (Hg.); Stuttgart: Reclam 2004, S.33. V. 101.

[4]     Beowulf V. 102.

[5]     Beowulf V. 103.

[6]     Vgl. Beowulf V. 103-108.

[7]     Orchard, Andy: Pride and Prodigies. Studies in the Monsters of the Beowulf-Manuscript. Cambridge: Brewer 1995, S.58.

[8]     Orchard 1995, S. 61.

[9]     Beowulf S.101 V. 1556.

[10]   Orchard 1995, S.70.

[11]   Anderson, Earl R.: Understanding Beowulf as an Indo-European epic: a study in comparative mythology. Lewiston [u.a.]: Edwin Mellen 2010, S.95.

[12]   Beowulf S.32 V. 90.

[13]   Beowulf S.32 V. 86.

[14]   Beowulf S.32 V. 87.

[15]   Beowulf S.32 V. 88.

[16]   Beowulf S.33 V. 99.

[17]   Vgl. Beowulf S.33 V. 94.

[18]   Vgl. Anderson, Earl R.: Understanding Beowulf as an Indo-European epic: a study in comparative mythology. Lewiston [u.a.]: Edwin Mellen 2010, S.93.

[19]   Anderson S. 93.

[20]   Vgl. Beowulf S.62f V. 798-804.

[21]   Vgl. Beowulf S.57f V. 681-685.

[22]   Vgl. Beowulf S.63 V. 813-821.

[23]   Gaiman, Neil / Avary, Roger: Beowulf. The Script Book. With insights form the authers, their early concept art, and the first and last drafts of the script for the film. New York: HarperCollins 2007, S.35 Szene 54.

[24]   Vgl. Beowulf Script: S.5 Szene 15.

[25]   Vgl. Beowulf Script: S.7 Szene 20.

[26]   Beowulf Script: S.1 Szene 1.

[27]   Beowulf Script: S.2 Szene 4.

[28]   Beowulf Script: S.25 Szene 41.

[29]   Beowulf Script: S.11 Szene 24, S.35 Szene 54, S.2 Szene 4.

[30]   Anderson S.94.

[31]   Haydock, Nickolas; Risden, E.L.: Beowulf on Film. Adaptations and Variations. London: McFarland 2013, S.6.

[32]   In diesem Kontext die Untersuchung des Heroismus in Becker, Ernest: The Denial of Death. New York: Simon & Schuster 1973. Diese Art des Heroismus wird bei Becker als individueller Heroismus beschrieben, in der der Mensch versucht, durch individuelle Handlung, ein Vermächtnis zu erschaffen das diesen überdauert. Dies steht im Gegensatz zum kulturellen Heroismus, in dem versucht wird, durch soziale Rollen, das Gleiche zu schaffen. S. 7-13.

Der Greif – epische Darstellung und Funktion

Im Mittelalter hielt man den Greif, ähnlich wie den Drachen, für ein real existierendes Lebewesen. Der Greif, ein tierisches Mischwesen aus Löwe und Adler lebt laut mittelalterlichen Quellen meist in Indien und hütet Gold.1 Der Rumpf ist der eines Löwen, das Vorderteil entspricht dem eines Adlers. Sein Kopf ist gefiedert und er hat einen kräftigen Schnabel. Er trägt Flügel, die ihn fliegen lassen und hat vier Beine, die mal einem Löwen und mal Adlerkrallen gleichen.2 Während der Greif in der Romanik das Böse in Gestalt von Löwe, Schlange oder Basilisk abwehrt und überwindet, wird der Greif in der Literatur des Mittelalters häufig als gewalttätiges Wesen dargestellt, dass Menschen und Tiere bestialisch tötet. Isidor von Sevilla schreibt in der Etymologie

Der Greif ist ein geflügeltes Tier mit vier Beinen. Diese wilde Tierart stammt aus dem hyperboreischen Gebirge. In allen Teilen seines Körpers gleicht er dem Löwen, nur sein Kopf und seine Schwingen gleichen dem Adler. Besonders feindlich ist er den Pferden. Wenn er Menschen sieht, will er sie in Stücke reißen. 3

Hildegard von Bingen geht sogar davon aus, dass der Greif auf Grund seiner Monströsität Menschen frisst:

De natura autem bestiarum homines comedit […]. Et caro eius ad esum hominis non valet, quia si homo de carnibus illius comederet, multum inde lederetur, quoniam ille nec pleniter naturam volucrum nec pleniter naturam bestiarum in se habet, sed in utraque natura defectum habet.4

Infolge der Bestiennatur aber frisst er Menschen. […]. Und sein Fleisch taugt nicht zur Speise des Menschen, denn wenn der Mensch von seinem Fleisch äße, würde er davon großen Schaden nehmen, weil jener weder vollständig die Natur der Vögel noch vollständig die Natur der Tiere enthält, sondern in jeder Natur einen Mangel hat.5

Hildegard von Bingen ordnet den Greif in die Gattung der Bestiarien ein, da er sich auf Grund seines Aussehens nicht eindeutig einer Gattung zuschreiben lässt.

Nachfolgend wird darauf eingegangen, wie der Greif in der mittelhochdeutschen Literatur dargestellt wird und ob Ähnlichkeiten in Kontext und Funktion eines Romans zu finden sind. Dazu wird näher auf die Greifenepisoden in der Kudrun und im Herzog Ernst eingegangen.

Die Greifenepisode in der Kudrun

Das Kudrunlied ist ein anonymes strophisches Heldenepos, das vermutlich um 1230/40 im bayrisch – österreichischen Raum entstanden ist und gilt neben dem Nibelungenlied als das zweite große Heldenepos der mittelalterlichen deutschen Literatur.6 Das Epos beinhaltet allerdings auch viele Elemente des höfischen Romans; d.h. höfisch – ritterliche Motive spielen in ihm eine große Rolle, z.B. bei der Schilderung zeremonieller Handlungen am Königshof, Verabschiedung und Begrüßung.7

Der erste Teil (Aventiure 1-4) handelt von Hagen, dem Großvater der Heldin Kudrun: Der „übele tieuvel […]/ sînen boten8 in Gestalt eines Greifs, dringt dort in die höfische Welt von König Sigebant und seiner Frau Ute ein, um deren siebenjährigen Sohn Hagen auf eine Insel zu entführen und dort zu töten. Die Greifeninsel befindet sich weit weg von der zivilisierten Gesellschaft und der höfischen Ordnung. Der Greif kommt aus solcher Höhe, dass sein Gefieder Schatten wirft. Der junge Prinz Hagen steht auf einem Turnierfest abseits der Menschenmenge mit seiner unerfahrenen Betreuerin und lauscht einem Gesangsvortrag.

Ez begunde schatewen dar sîn gevidere in truoc,
als ez ein wolken waere. starc was er genuoc.
Vor ir manigen freuden si nâmens war vil kleine.
Diu maget mit dem kinde stuont vor dem hûse vil eine. 9

Dort greift sich der Greif gezielt den Prinzen und umschließt ihn mit seinen Klauen „Der grîfe lie sich nidere und beslôz daz kindelîn / in di sîne klâwe.10 Er trägt ihn mit seiner Kraft hoch empor und schwingt sich auf in die Luft bis fern zu den Wolken „er truog ez harte hôhe mit der sînen maht. / dô kêrte er gegen dem lufte zuo den wolken verre,11 Der alte Greif bringt Hagen zu seinem Nest; die jungen Greife sollen ihn mit ihren Klauen zerreißen und fressen. Hagen ist dem „wilden grîfen12 scheinbar hilflos ausgeliefert, dennoch überlebt er den Angriff mit Gottes Hilfe. Später nimmt ein junger Greif Hagen in seine Klauen und fliegt von Baum zu Baum. Da die Kraft des Greifs nachlässt, fällt der junge Prinz in den Wald und ist zunächst auf wundersame Weise aus dem Horst des Greifs gerettet. Fast verhungert begegnet er drei Königstöchtern, die früher von dem Greif geraubt wurden, in einer Höhle. Nach anfänglicher Skepsis bleibt Hagen bei ihnen und sie kümmern sich um ihn, bis er groß ist. Lange Zeit später strandet ein Schiff auf der Greifeninsel. Der herangewachsene Hagen sieht, wie der alte Greif die Schiffsmannschaft für seine Jungen tötet und frisst. Voller Zorn nimmt Hagen das Kettenhemd eines auf der Insel gestrandeten, toten Kreuzritters und herumliegende Waffen und erschlägt, trotz geringer Kampferfahrung, die Greifen. Er übt Vergeltung, für das ihm angetane Leid. Hagen bringt sich mit den gefundenen Waffen die Ritterkunst bei und kehrt anschließend in seine Heimat zurück. Dort heiratet er die älteste und schönste der drei Königstöchter.

Die Greifenepisode erhält durch die Entführung von Hagen eine besondere narrative Funktion: Hagen steht kurz davor, in die höfische Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Durch die Entführung wird die gerade angelaufene Aufnahme Hagens in die höfische Welt unterbrochen und es folgt eine Aufnahme in die heroische Sphäre auf der mythischen Greifeninsel.13 Somit schafft die Greifenepisode eine regelrechte Zäsur innerhalb des Romans. Mit diesem Szenario bricht die wilde, unzivilisierte Welt in die höfische Welt ein und schafft dort Unordnung. Die wilden Greife stehen in ihrer Darstellung für Unzivilisiertheit, Primitivität und Gottlosigkeit. Ihr Leben spielt sich außerhalb eines zivilisierten Raumes ab. 14 Durch die Kollision beider Welten werden unterschiedliche kulturelle Paradigmen betrachtet. Die Dämonisierung des Greifen und die damit stilisierte Opposition zum Christentum, der Zusammenstoß heroischer und höfischer Elemente sowie die Gegenüberstellung der zivilisierten Welt des Hofes und der wilden Insel der Greifen zeigen diese „Virulenz des Mythischen“ auf. 15 Allerdings scheint die narrative Funktion des Greifenkampfes eng mit der Heldenfigur Hagens zusammen zu hängen.

Die Greifenepisode im Herzog Ernst

Herzog Ernst ist die Titelfigur des gleichnamigen mittelalterlichen Abenteuerromans, der seinen Ursprung um 1180 hat.16 Herzog Ernst wird zunächst als Mitglied der höfischen Welt beschrieben. Durch seine Herkunft, seine standesgemäße Ausbildung und seine Tugenden entspricht er dem Ideal eines höfischen Vorbilds. Nach dem Kampf gegen die Grippianer flieht Herzog Ernst mit seinen Männern ins Lebermeer, wo sich auch der Magnetberg befindet. Dort verhungert die gesamte Mannschaft, lediglich sieben Männer überleben. Herzog Ernst muss mit ansehen, wie die Toten von den Greifen für ihre Jungvögel fortgetragen werden.

Die andern truoc ein grîfe dan
zeinzigen sô sie sturben.
die lebendigen alsô wurben:
swelhen ie der tôt nam,
den truogen die helden lobesam
ûz dem schiffe schiere.
in leiten die degen ziere
obene ûf des schiffes bort:
daz habt ir dicke gehôrt
sagen vür ungelogen.
die grîfen kâmen dar geflogen
und fuortens hin zir neste.17

Graf Wetzel, ein enger Vertrauter Herzog Ernsts, verfolgt den Plan, die Männer in Meerrinderhäute einzunähen und sich dann von den Greifen davon tragen zu lassen.

„ich hân an disen stunden
uns einen list ervunden
daz uns niht bezzer darf wesen.
suln wir immer genesen,
daz muoz gwislîch dâ von geschehen
daz wir suochen unde spehen,
ê daz wir erwinden,
unz wir in den scheffen vinden
etelîcher hande hiute,
und sliefen wir ellende liute
in unser guoten sarwât.
sô man uns dan vernaet hât
in die hiute“, sprach der degen,
„sô suln wir uns danne legen
vor ûf daz schif sâ.
sô nement uns die grîfen dâ
und füerent uns von hinnen.“18

Herzog Ernst entkommt den Greifen, trauert aber um die verbliebenen Toten seines Gefolges.  Anders als Hagen in der Kudrun durchläuft Herzog Ernst keine Krise, vielmehr durchläuft er ein persönliches Weiterkommen. Seine Reise ist geprägt von Misserfolgen und falschen Einschätzungen, bei denen die meisten seines Gefolges sterben. Er gerät in eine Krise und durch seine falschen Einschätzungen ist er gezwungen Buße zu tun. Die Greifenepisode wird hier weniger ausführlich dargestellt. Anders als in der Kudrun werden die Greife nicht als bestialisch mordend beschrieben, sondern eher als Aasfresser, die ihren Gewohnheiten nachgehen. Es sollte auch erwähnt werden, dass Herzog Ernst es nicht für notwendig erachtet die jungen Greife zu töten, sondern sie am Leben lässt.

dieandern wurden z`âsen
den grîfen und den jungen.
in was dicke alsô gelungen
an liuten genuogen
die sie von dannen truogen
zir neste nâch gewonheit19

Zu den Greifenepisoden der oben aufgeführten Beispiele finden sich zahlreiche Parallelen in der mittelalterlichen Literatur. Claude Lecouteux schreibt in seinem Aufsatz „Die Sage vom Magnetberg“ von einem Motivkomplex in der erzählenden Literatur um 1200:

Vom Magnetberg angezogen, retten sich Seeleute, indem sie sich in Tierhäute einnähen, die dann Greifen bis ans Festland oder auf eine andere, aber bewohnte Insel forttragen. 20

Auch in Werken mittelalterlicher Literatur sind deutliche Parallelen zu erkennen. Das Einnähen in Tierhäute und die Rettung durch Greifen, ist auch für die Protagonisten im Böhmischen Volksbuch [Vgl. Claude Lecouteux: `Herzog Ernst`. Das böhmische Volksbuch von Stillfried und Bruncwig und die morgenländischen Alexandersagen. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 108 (1979), S. 306 – 322. Der böhmische Fürst Bruncwig lässt sich in eine Pferdehaut einnähen und von einem Greif forttragen. Nach seiner Befreiung erschlägt Bruncwig den Greif.[/note], in der Virgilius – Sage des Wartburgskriegs21, sowie in Esclarmonde22die Rettung aus der unzivilisierten Welt zurück in die höfische Welt.

Fazit

Der Greif ist in seiner literarischen Darstellung ein äußerst ambivalentes Wesen: Er beeindruckt durch seine imposante Größe und seine majestätische Ausstrahlung. Er wird in der mittelalterlichen Literatur als räuberisch, dämonisch, böse und als eine Gefahr für die Gesellschaft dargestellt.23 Es ergeben sich durchaus Überschneidungen zwischen der naturkundlichen und fiktionalen Betrachtung angesichts der monströsen bzw. exorbitanten Physis des Greifs. Gerade die beschriebene Menschenfeindlichkeit lässt sich in der mittelalterlichen Literatur mehrfach wiederfinden. Der Greif scheint in der Literatur eine Symbolfigur zu sein, die bei dem Helden einen biografischen Wendepunkt herbei führen soll. Er reift vom Kind zu einem Mann. Als Stellvertreter des Guten kämpft er gegen das symbolische Böse, um die höfische Ordnung wieder herzustellen. Ähnlich wie der Drachenkampf, hat die Begegnung mit einem Greif eine narrative literarische Funktion; die Störung der höfischen Ordnung. Er schafft ein kulturelles Paradigma zwischen der zivilisierten, höfischen Gesellschaft und der wilden, mythischen Insel des Greifs.24 Andererseits dient der Greif in der Literatur als Transportmittel, das zwar die Toten frisst, ansonsten aber keine monströsen Eigenschaften beinhaltet. ,Der Lebensraum der Greife lässt sich als Ort der Strafe, der Bewährung, des Existenzkampfes und der Buße erklären. Es ist ein Ort außerhalb der Zivilisation von dem schreckliche Gefahren ausgehen. Die Protagonisten sind isoliert und auf sich selbst gestellt. Die vermeidlichen Helden müssen sich durch Bußfertigkeit beweisen. Einfach fortgehen scheint unmöglich, es wird immer ein Transportmittel benötigt. Da im Zusammenhang der Magnetbergsage die Schiffe zerstört sind oder in Kudrun kein Schiff vorhanden ist, bedienen sich die Protagonisten der Greifen.

dâ von die helde gemeit,
der herzoge und sîne man,
ze lande kâmen wider dan.25

In der Kudrun wird die Greifenepisode ausschweifend erzählt. Hagens Situation wird damit scheinbar noch dramatischer und aussichtsloser dargestellt. Möglicherweise lässt sich dadurch auch eine größere Zeitspanne erklären, in der Hagen zu einem jungen Mann heranwächst und seine Wut auf das Wilde steigt. Im Herzog Ernst erhalten die Greife eine durchaus eindrucksvolle Rolle, da sie die Not und Hilflosigkeit der Gestrandeten verstärken, jedoch werden sie nicht als bewusst mordende Kreaturen dargestellt. In beiden Erzählungen scheint das Ziel der Reise ein Lernprozess der Protagonisten zu sein. Beide Helden wachsen durch ihre Erfahrungen auf der Greifeninsel heran, gewinnen an Erkenntnis und Bußfertigkeit. Letztendlich wird dann mit Gottes Hilfe die höfische Welt wieder hergestellt und somit die wilde, unzivilisierte Welt verdrängt.

Das (un-)höfische Monster Karrioz in Wirnts von Grafenberg Wigalois

Der gleichnamige Held Wirnts von Grafenberg Wigalois1 (ca. 1210–1220) trifft im Verlaufe seines Abenteuers neben der zentaurenähnlichen Gestalt Marrien auch auf andere monströse Gegner, wie zum Beispiel die wilde Waldfrau Ruel oder den Drachen Pfetan. Während der dritten Âventiurenreihe begegnet er außerdem Karrioz, einem weiteren Wächter des dämonischen Reiches von Korntin. Neben den ausgeprägten körperlich-monströsen Merkmalen fällt auch Karriozʻ höfisches Auftreten auf. Fasbender schreibt: „Karrioz ist in erster Linie Ritter, er wählt die Waffen des Ritters und wird von Wigalois, der ihn sogleich attackiert, im ritterlichen Zweikampf bezwungen.“2 Aber: „Montur und Körperkonzept stehen, gemessen am Maßstab des höfischen Codes, in einem Missverhältnis“,3 welches im folgenden Artikel näher untersucht werden soll.

Karrioz, der Kampfzwerg

Karrioz bewacht die mit 60 Speeren gespickte Brücke, die nach Glois führt. Zunächst wird er als Ritter, später als Zwerg, beschrieben. Aber obwohl Karrioz ein Zwerg zu sein scheint, wird er nicht als solcher benannt, sondern lediglich mit einem Zwerg verglichen.4Grôze arme und kurziu bein / hêt er nâch der getwerge sit“ (V. 6590–6591). Vielmehr liegt die Betonung seiner Beschreibung auf der Ritterlichkeit, die er ausstrahlt. Dazu trägt bei, dass er auf einem Pferd reitet und einen Helm, sowie ein Schild mit dem heidnischen Wappen von Glois trägt.

diu hêt ein rîter in sîner pflege,
der was ze harnasche wol,
als ze strîte ein rîter sol.
er reit ein ors swarz gevar,
mit einer kovertiure gar
bedecket von samîte;
sîn schilt was niuwe unde guot;
von liehter varwe wîze
was der schilt über al;
von rôtem golde ein lîste smal
was geleit ûf den rant;
drinne – dâ bî daz was bekannt
daz er von Glois ein rîter was –
ein sûl, diu glaste al ein glas
von lâzûre und von golde;
als er leben solde,
Machmêt dar ûffe saz;
dâ bî man solde wizzen daz
sich niht erwerte sîm gebot;
durch daz vuort er der heiden got. (V. 6549–6568)

Sein Helm wird als prunkvoll beschrieben und sein Körper wird von dem Fell eines Löwen geschmückt, den er aufgrund seiner Stärke mit bloßen Händen erlegt hat: „Den lewen vienc er âne wer / und sluoc in mit nacter hant“ (V. 6610–6611). Seine Wildheit wird durch das Geschlecht seiner Mutter, einem „wilden wîp“ (V. 6603), erklärt. Sein Körper ist haarig, er ist überaus  stark und seine Knochen sind ohne Mark, was  seine  Stärke noch weiter steigert:

swie kurz er wære, sîn kraft was grôz
er hiez der küene Karriôz.
Sîn muoter was ein wildez wîp;
dâ von was im sîn kurzer lîp
aller rûch unde starc.
sîn gebeine was âne marc
nâch dem geslähte der muoter sîn;
deste sterker muose er sîn.
einem man was er ein her.  (V. 6601–6609)       

Allerdings verwundert seine Stärke nicht, schließlich fällt ihm die wichtige Aufgabe des Brückenwächters zu, der die eigentliche âventiure des Helden, den Zauberer Roaz, bewacht: „der âventiure huot er / vil mangen tac, daz diu sper / niemen gar wider in vertet“ (V. 6595–6596)  Seine Stärke kann als Königsattribut, aber auch als Zeichen von Unzivilisiertheit verstanden werden.5 Doch diese Stärke nützt ihm nichts, denn nachdem er und Wigalois im Kampf alle Lanzen verbraucht haben, und er zu einer unhöfischen6 Kolbenwaffe greift, gelingt es Wigalois seinen Widersacher zu verwunden, beim zweiten Mal sogar tödlich. Der sterbende Karrioz flüchtet schreiend – was ebenfalls als unhöfisch gilt7 – in den Pechnebel, der aus einem Moor aufsteigt, und findet dort den Tod:

Dô in der sper gar zeran
und Karriôz sich des versan,
einen kolben er gevienc,
der im an dem arme hienc;
Als er des tôdes rehte enpfant,
gegen Glois vlôch er zehant
und schrei sô lûte daz erschal
beidiu berge unde tal
dar în vlôch der kurze man;
dâ gesigt ouch im der tôtan. (V. 6667–6676)

„Die Erscheinung des Zwerges zeichnet einen Widerspruch zwischen der höfischen Außenseite, der wertvollen Rüstung, und der körperlichen Beschaffenheit, dem zwergenhaften zottigen Leib, aus.“8 Karriozʻ Wappen und auch ihm selbst werden ritterliche Attribute zugeschrieben,  das  ein oder andere Mal  wird er  sogar als ein rîter bezeichnet. Durch sein unritterliches Kampfverhalten und den Fluchtversuch während seines nahenden Todes erweist er sich jedoch als Scheinritter. Allerdings macht Schmitt darauf aufmerksam, dass Karrioz wegen seines Körpers und seiner Herkunft von Anfang an nicht dem höfischen Ideal entsprochen hat, und der kulturelle Code eines Ritters daher nie erfüllt war:            

„Seine zwergenhafte Gestalt mit dem Missverhältnis zwischen riesigen Armen und kurzen Beinen muss hier erwähnt werden, weil sie den Erwartungen widerspricht, durch die Beschreibung der Rüstung und durch die Charakterisierung als Ritter geweckt worden sind. Die Pracht der Rüstung führt in die Irre, weil sie das Bild eines vorbildlichen Ritters evoziert, der Karrioz nicht ist […]. Dazu kommt das Erbe seiner Mutter, die ein „wildez wîp“ (V. 6603) [ist].“ 9

Dazu auch Fasbender:

„Karrioz ist, nimmt man sein Körperkonzept als Parameter, eine nur bedingt höfische Erscheinung, kleinwüchsig und mit Löwenfell über der Rüstung, das auf seinen Jagderfolg hinweist (V. 6610f.). Seine Gesinnung dagegen ist ritterlich: nâch ganzem strîte ranc ie sîn sin (V. 6644). Allerdings hängt er dem falschen Glauben an (V. 6575).“10

Fazit

Obwohl Karrioz durch Reittier und Rüstung als kampfbereiter, erfahrender Ritter auftritt, trägt er das heidnische „Wappen als Medium einer kollektiven Herkunftsbestimmung“11 und präsentiert sich dadurch als ein Kämpfer – nicht aber als ein Ritter – von Glois. Vor allem seine Herkunft steht dem höfischen Ideal gegenüber:

„[Es] darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Erbe einer [wilden] Mutter einen eklatanten Widerspruch zur höfischen Norm bewirkt. In der Regel stammen ansehnliche Ritter von ansehnlichen Müttern ab.“12

Die Kombination aus „Aussehen, Abstammung und Teufelsverbindung [wirkt daher wie] eine Einheit, bei welcher das Äußerliche als Spiegel des Inneren begriffen werden kann.“13 Da von einem „tievels trût“ (V. 6577) und einem Wesen, das einem „heiden got“ (V. 6575) dient, keine Ehre erwartet werden kann, stellt Karriozʻ Aufmachung – die nur scheinbar ritterlich-höfische Außenseite – also nichts als eine Verschleierung seiner Selbst dar.