Der Hobbit – eine Neufassung von Beowulf?

In J.R.R. Tolkiens Werken rund um die Welt Mittelerde sind viele Motive aus älterer Literatur, im Besonderen jener, die auf nordischen Mythen basiert, eingeflossen.[1] Ein Beispiel sind die Namen der 13 Zwerge aus dem Hobbit, die alle aus dem Gedicht Völuspá, einem Lied aus der Edda, stammen.[2] Einige besonders prägnante Ähnlichkeiten und damit vermutete Einflüsse gibt es zu dem altenglischen Epos Beowulf.[3] Die Parallelen bestehen vor allem zwischen Beowulf und dem Hobbit. Einige Stimmen gehen dabei so weit, zu behaupten, dass der Hobbit so etwas wie eine Neuinterpretation, oder eine moderne Neufassung von Beowulf ist.[4] Eine Vertreterin dieser Theorie ist Bonniejean Christensen. Sie hat ihre Dissertation den vielen Parallelen zwischen Beowulf und dem Hobbit gewidmet. Neben anderen Motiven geht Christensen dabei vor allem auf die Ähnlichkeiten in der Handlung ein. In diesem Artikel sollen drei Beispiele dieser Ähnlichkeiten näher beleuchtet werden, um zu überprüfen, inwieweit die These des Hobbits als Neufassung von Beowulf schlüssig ist.

Die Parallelen

Zunächst verweist Christensen darauf, dass der Handlungsrahmen durch die vorkommenden Monster eine entscheidende Gemeinsamkeit hat. Tolkien selbst hat die Meinung vertreten, dass die Aneinanderreihung von Begegnungen zwischen dem Helden und verschiedenen Monstern in Beowulf den roten Faden der Geschichte ausmachen und daran, gegenüber anderen Meinungen, nichts falsch sei.[5] Wenn man die Geschichte des Hobbit genauer betrachtet, findet man auch hier einen roten Faden, der durch Begegnungen mit Monster wesentlich geprägt wird. Letztlich arbeitet hier sogar von Anfang an alles auf die Begegnung mit dem letzten großen Monster, dem Drachen, hin. Dieses Grundkonzept ist also in beiden Geschichten vorhanden.[6]
Ähnlichkeiten findet man auch in einzelnen Handlungssträngen. Christensen gibt in ihrer Arbeit eine ganze Reihe von Parallelen an, von denen hier drei prägnantere Fälle als Beispiel dienen sollen. Die verschiedenen Passagen finden sich innerhalb der beiden Geschichten nicht immer an der gleichen Stelle im Handlungsverlauf. Das ist für einen solchen Einfluss aber auch nicht zwangsläufig nötig.

Die ersten Monster

Die ersten Monster, auf die die Gefährten im Hobbit treffen, sind drei Trolle, die im Wald um ein Feuer herum sitzen und sich ein Schaf rösten. Bilbo und die Zwerge werden von ihnen entdeckt und gefangen und werden erst durch den zurückkehrenden Gandalf gerettet, der die Trolle durch einen Trick in Stein verwandeln lässt.[7] Christensen zieht den Vergleich zwischen dieser Szene und dem ersten Monster in Beowulf, also zu Grendel.[8] Grendel wird dort als „Riese“[9] beschrieben. Die Trolle sind große menschenähnliche Wesen, die man ebenfalls als Riesen bezeichnen könnte. Des Weiteren erfährt man, dass die drei, seit sie aus den Bergen heruntergekommen sind, in der umliegende Gegend und den auf dem Weg liegenden Dörfern alles Essbare, was sie finden, fangen und verzehren. In der Umgebung scheint es aber nicht mehr viele Menschen zu geben. „Never a blinking bit of manflesh have we had for long enough,“[10], beschwert sich einer von ihnen.  Auch Grendel terrorisiert die Menschen, indem er sie immer wieder angreift und umbringt.[11] Und auch hier flüchten die Menschen aus seiner Umgebung. In beiden Fällen werden die Unruhestifter durch die Helden außer Gefecht gesetzt und so die Menschen in der Umgebung von ihnen befreit.

Beorn

In dem Handlungsabschnitt über den Besuch der Gefährten bei Beorn gibt es nach Christensen mehrere Zusammenhänge zu Beowulf. Der erste bezieht sich auf die Ankunft. Als Beowulf und sein Gefolge in Dänemark ankommen werden sie zunächst von einem Strandwächter und später von Wulfgar, einem Amtmann am Hofe, begrüßt und nach ihrer Herkunft gefragt. Ihre Ankunft wird daraufhin König Hrothgar übermittelt, der sich an Beowulfs Vater erinnert und die Schar empfängt.[12] Als die Gefährten im Hobbit an Beorns Heim ankommen, wird ihre Ankunft dem Hauseigentümer dort ebenfalls angekündigt.

„Some horses, very sleek and well-groomed, trotted up across the grass and looked at them intently with very intelligent faces; then off they galopped to the buildings. „They have gone to tell him of the arrival of strangers,“ said Gandalf.“[13]

Christensen interpretiert dies als eine etwas scherzhafte und untertriebene Umsetzung der ausgeschmückten Szene in Beowulf.[14]
Die nächste, von Christensen aufgestellte, Parallele besteht zwischen den beiden Trophäen-Köpfen.[15] Beorn verfolgt die Spuren der Gefährten zurück, um sich von deren Geschichte, über die Flucht vor den Orks, zu überzeugen. Als Bilbo Beorn fragt, was er mit den Orks getan hat, zeigt dieser ihm einen Orkkopf, der auf dem Eingangstor zu Beorns Heim steckt.[16] Den Kopf des Monsters als Trophäe findet man auch in Beowulf. Beowulf und sein Gefolge nehmen Grendels Kopf mit nach Heorot, nachdem Beowulf Grendels Mutter besiegt hat, und stellen ihn dort, ebenfalls aufgespießt, aus.[17]
Die letzte Gemeinsamkeit ist zwischen den beiden Abschieden.[18] Als die Gefährten im Hobbit Beorn verlassen und abreisen, bekommen sie von ihm als Unterstützung Pferde und Proviant, um ihre Reise weiter bestreiten zu können.[19] Auch Beowulf und sein Gefolge bekommen bei ihrer Abreise aus Dänemark von König Hrothgar Geschenke für das Besiegen von Grendel.[20]

Der Drache

Die wahrscheinlich deutlichste Parallele, die in der Forschung des Öfteren erwähnt wird, besteht in den Episoden rund um die Drachen der beiden Erzählungen. Christensen widmet den Ähnlichkeiten zwischen ihnen ein ganzes Kapitel. In dieser Stelle dieses Artikels wird allerdings nur auf die Handlungsparallelen rund um den Drachen eingegangen.
Der Drache Smaug aus dem Hobbit hat das Innere des Berges Erebor besetzt. Dort hat er einen großen Schatz angesammelt, den er nun hütet. Bilbo, der im Verlauf der Geschichte mehrmals den Titel Meisterdieb erhält, kann mithilfe des Ringes durch einen geheimen Nebeneingang ungesehen in Smaugs Heimstätte eindringen und ihm einen goldenen Pokal entwenden. Smaug, dem dieser Verlust nicht entgeht, der aber den Dieb nicht sehen konnte, macht sich auf den Weg seinen Zorn an der nahe gelegenen Menschenstadt auszulassen, da er den Dieb unter den Dorfbewohnern vermutet. Im Zuge dieses Angriffs wird Smaug getötet.[21]
Beim Drachen in Beowulf klingt die Geschichte sehr ähnlich.

[…] als auf einmal anfing,
In dunklen Nächten ein Drache zu wüten,
Der auf einer hochgelegenen Heide einen Hort bewachte,
Eine steile Steinhöhle. Ein Steig führt hinunter,
Den Leuten unbekannt. Doch gelangte einer,
Man weiß nicht wer, auf irgendeinem Wege dorthin
Zu dem heidnischen Hort. Die Hand stahl einen Schatz,
Ein glänzendes Schmuckstück, schwer bewacht vom Drachen, […]
[…] Einen kostbaren Kelch. Solcher Kleinode waren viele
Im Inneren der Erdhöhle, uralte Schätze, […][22]

Der Sklave, der hier im Auftrag seines Herren den Kelch stielt, kommt ebenfalls ungesehen am Drachen vorbei, allerdings nicht durch einen magischen Ring, sondern weil der Drache schläft.
Die Parallelen sind unverkennbar. Beide Drachen leben in einer Höhle aus Stein, bewachen einen Schatz und werden von einem ungesehenen Dieb eines goldenen Pokals beraubt. Anschließend machen sie sich beide auf, an den Menschen Rache zu nehmen, verwüsten dabei Teile von menschlicher Zivilisation und finden am Ende ihren Tod.

Kritik und Fazit

Christensen bietet in ihrer Arbeit eine ganze Reihe von Vergleichen und Ähnlichkeiten zwischen Beowulf und dem Hobbit. Obwohl von einigen Parallelen, wie die zwischen den Episoden der Drachen, durchaus geschlossen werden kann, dass Tolkien beim Schreiben des Hobbit von Beowulf inspiriert wurde, ist die These, dass der Hobbit eine Art Neufassung von Beowulf ist, vielleicht doch etwas zu stark. Viele Motive die Christensen als Parallele zwischen den beiden Geschichten aufzeigt, sind weniger speziell, als es zunächst klingt. Zum Beispiel die zwischen dem mitgebrachten und aufgespießten Orkkopf auf der einen und Grendels Kopf auf der anderen Seite. Den Kopf eines Gegners als Trophäe mitzunehmen ist ein gängigeres Motiv. Dass man in dem Punkt eine direkte Verknüpfung der beiden ausgewählten Werke herstellt, scheint etwas voreilig zu sein. Auch wenn die Ähnlichkeit so weit geht, dass es sich in beiden Fallen um die Köpfe von Monstern handelt.
Dass Tolkien im Erschaffen des Hobbits von Beowulf inspiriert wurde, kann man annehmen. Dass das Werk eine Neuinterpretation des altenglischen Epos ist, ist dann aber doch eine etwas zu drastische These.


[1] Eine Auflistung der verschiedenen möglichen Quellen mit zusätzlichen Kommentaren findet man in Shippey, Tom: The Road to Middle-Earth. Boston: Houghton, 1983, S. 288ff.

[2] Vgl. Shippey, Tom: The Road to Middle-Earth. Boston: Houghton, 1983, S.390.

[3] Vgl. Ebd., S.389.

[4] Vgl. Christensen, Bonniejean: Beowulf and The Hobbit: Elegy into Fantasy in J.R.R. Tolkien’s Creative Technique. Dissertation, University of Southern California, 1969, S. 5f.

[5] Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Monsters and the Critics. In: The Monsters and the Critics and other Essays. Hg. v. Christopher Tolkien. London: HarperCollins, S. 5-48.

[6] Vgl. Christensen, S.21.

[7] Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Hobbit, London 2006, S.41ff.

[8] Vgl. Christensen, S.39f.

[9] Beowulf: Ein altenglisches Heldenepos. Übersetzt und herausgegeben von Martin Lehnert. Reclam, Stuttgart 2004 S. 61, Vers 761.

[10] Tolkien: The Hobbit, S.42.

[11] Vgl. Beowulf, S.34ff, Vers 121ff.

[12] Vgl. Ebd., S.38ff, Vers 229ff.

[13] Tolkien: The Hobbit, S.137f.

[14] Vgl. Christensen, S. 96.

[15] Vgl. Ebd., S.99.

[16] Vgl. Tolkien: The Hobbit, S.154.

[17] Vgl. Beowulf, S.104f, Vers 1635ff.

[18] Vgl. Christensen, S.101.

[19] Vgl. Tolkien: The Hobbit., S.154f.

[20] Vgl. Beowulf, S.72f, Vers 1019ff.

[21] Vgl. Tolkien: The Hobbit.

[22] Beowulf, S.132, Vers 2210ff.

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