Die Funktion des Monsters Marrien in Wirnts von Grafenberg Wigalois

Der Wigalois1 ist ein zwischen 1210 und 1220 entstandener Artusroman und Wirnts von Grafenberg einziges belegbares Werk. Eming lobt Wirnts besondere Leistung „in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß mit dem Wunderbaren zu arbeiten,“2 und spielt damit nicht nur auf Zauberei, sondern auch auf monströse Gestalten und magische Dinge an. Überhaupt ist die „ritterlich-höfische Dichtung (1180–1230) […] stark von der mittelalterlichen Monsterkultur geprägt.“3 Behr argumentiert jedoch, dass die Monster, die in den arthurischen Romanen auftreten „offenbar zu keinem anderen Zweck geschaffen wurden als dem, edle Ritter und unschuldige Jungfrauen zu bedrohen und dafür vom Titelhelden nach mehr oder weniger hartem Kampf erschlagen zu werden […].“4

Die Rolle von Monstern in Literatur, Kunst und Wissenschaft entsprang meist der theologischen Diskussion der mittelalterlichen Frage „nach dem Sinn und [ihrem] Stellenwert […] in Gottes Schöpfungsplan.“5 Aus diesem Grund muss die Funktion von Monstern auch immer in einem bestimmten Kontext gesehen werden, da gerade die höfische Literatur des Mittelalters christlich-religiös gekennzeichnet ist. Daher wurden jegliche Arten von Monstern schnell zu Trägern negativer Eigenschaften und Verhaltensweisen und als „feindselig, bösartig, widerwärtig, ungestüm, gierig, schändlich und abscheulich“6 identifiziert. Eine Vielzahl von Mediävisten hat den Wigalois – einen bekanntlich christlich-religiösen Text – für ihre Studien zu Wundern und übernatürlichen  Wesen  herangezogen,  ohne  dabei  jemals  den theologischen Rahmen der fiktiven Dichtung außer Acht zu lassen. Im Folgenden soll daher am Beispiel des Monsters Marrien untersucht werden, welche Funktion dieses fremdartige Wesen im Wigalois besitzt und wie es in Hinblick auf seine körperlichen Besonderheiten dargestellt wird.

Die vremdiu crêatiure

Wigalois begegnet im Verlaufe seines Abenteuers mehreren monströsen Wesen, vor allem im dämonischen Reich von Korntin, wo er auf seinen Endgegner Roaz trifft. Der Weg zu Roaz wird von Wächtern beschützt, darunter auch von einer vremdiu crêatiure (V. 6932). Es ist Marrien, ein Ungeheuer, das als halb Mensch, halb Tier beschrieben wird. Es hat einen Hundekopf mit glühenden Augen, einen menschlichen Oberkörper und den Unterkörper eines Pferdes. Außerdem wird der Körper dieses fremdartigen geschepftes (V. 6951) von Schuppen bedeckt, die härter als Stein sind, und es kann nicht eindeutig bestimmt werden, ob Marrien männlich oder weiblich ist.

ein vremdiu crêatiure;
diu bestuont in mit viure.
si hêt ein houbet als ein hunt,
lange zene, wîten munt,
diu ougen tief, viurvar;
niderhalp der gürtel gar
hêt si eines rosses lîp.
weder ez man ode wîp
wære, des enweiz ich niht. […]
enzwischen gürtel und houbet
was sie geschaffen als ein man;
breite schuopen wâren dran
gewahsen herter danne ein stein (V. 6932–6946)

Um Wigalois von seinem Weg abzubringen, wirft Marrien mit einem Feuer nach ihm, das es in einem eisernen Topf bei sich trägt. Es ist ein Zauberfeuer, das alles verbrennt, was damit in Berührung kommt und mit Wasser nicht gelöscht werden kann. Erst als es Wigalois gelingt, Marrien eines der vier Beine abzuschlagen, stellt er fest, dass das Blut des Ungeheuers das Feuer löschen kann. Marrien flieht verwundet in den Pechnebel eines Moors und findet dort den Tod.

Die Vermischung zweier Monstra

Marrien trägt verschiedene monströse Merkmale, sodass eine Zuordnung zu einer bestimmten Art von Monster nicht möglich ist. Das liegt an Wirnts Versuch „verschiedene Traditionen und Tendenzen zu kombinieren, so dass eine besondere Monstervorstellung daraus entspringt.“7 Das auffälligste an Marriens Gestalt sind die „Merkmale zweier der beliebtesten mittelalterlichen Monstra […]: die des Kynocephalen und des Kentauren.“8 Simek zählt die Kentauren zu den Sonderformen der Monster, da sie für gewöhnlich nicht als Einzelwesen, sondern als ganze Völkerschaften auftreten.9 Der Kopf und der Oberkörper eines Mannes treten entweder mit dem Leib und den Beinen eines Pferdes (Hippocentaur), seltener eines Esels (Onocentaur), auf. Zudem werden ihnen aufgrund antiker Mythen Eigenschaften wie Wildheit, Trunkenheit, sexuelle Aggressivität und Kampfeslust nachgesagt.10 Friedrich beschreibt sie als stereotype Mischwesen mit einem undurchdringlichen Fell und meist unritterlichen Waffen wie Speer, Bogen und Feuer. In antiken Mythen war ihr Ansehen positiv, in der mittelalterlichen höfischen Literatur dagegen negativ, denn die Funktion ihrer Gestalt wurde je nach Bedarf variiert: germanisch-heldenepisch (Tier), exotisch-ethnographisch (wilder Reiterkrieger) oder christlich-dämonisch (Teufel).11

 Die Kynocephalen werden als eine „Rasse von Menschen mit Hundeköpfen [beschrieben], die sich durch Bellen verständigen.“12 Isidor von Sevilla bestimmt Indien als ihren Geburtsort.13 Das fehlende Sprachvermögen der sogenannten Hundsköpfigen führte dazu, dass ihre Menschlichkeit in Frage gestellt wurde.14 Auch Isidor schreibt sie durch diesen Umstand eher der Tier- als der Menschenwelt zu.15 Ihr Bellen und die Tatsache, dass sie zu den Anthropophagen (Menschenfresser) gezählt werden,16 scheint die Zuordnung in das Reich der Tiere zu bekräftigen, andererseits werden sie als streitsüchtige Menschen und Verräter17 bezeichnet, was dem vehement widerspricht. Interessant ist, das Wirnt gerade diese beiden Wesen, die doch so unterschiedlich zu sein scheinen,  zu einer Lebensform vereint, wie Antunes darstellt:

„Da der menschliche Kopf [der Kentauren] den animalischen Unterkörper beherrscht, wird er als ein zum Denken fähiges und die Bekehrung suchendes Wesen aufgefasst, im Gegensatz zu den Kynocephalen, die einen vom Tierkopf beherrschten Menschenkörper besitzen und infolgedessen oft als unzivilisiert gelten.“18

Was auch immer Marrien ist, es stecken menschliche und tierische Eigenschaften in dem fremdartigen Wesen. In dieser Doppelnatur sieht Gottzmann die Versinnbildlichung von „Häresie und Lasterhaftigkeit“.19 Auch Lohbeck sieht – neben unbändiger, roher Gewalt – verschiedene Laster, die durch die Mischung aus Fischschuppen, Hund und Pferd entstehen: Neid, Zorn und Unreinheit.20 Als vâlant (V. 6976) und tievel (V. 7001) bezeichnet, wird Marrien somit „deutlich zum Funktionselement des Teufels: nunmehr ausgerüstet mit ‚infernalischem‘ Feuer.“21

Als „Hüter der teuflischen Herrschaft“22 fungiert Marrien als ein Hindernis, dem sich der Held auf seinem Weg stellen muss. Als „Helfershelfer“23 unterstützt Marrien das diabolische Vorhaben Roaz‘, der „als heide […] zur dämonischen, fremden Gesellschaft jenseits der Christenheit [gehört].“24 Da die Christen über die  Heiden siegen, sterben  auch  die Widersacher, gegen die sich  Wigalois zur Wehr setzen muss.

Fazit

Die Überlieferungen von Tieren, Mischwesen und besonders Monstern dienten im Mittelalter als Instrumente für das Verständnis von Gottes Schöpfungsplan, heizten die Unsicherheit und Befremdung über die – nach dem mittelalterlichen Weltbild ursprünglich meist orientalischen – Monster aber auch weiter an. „Um Laster und Tugenden begrifflich und inhaltlich vorstellbar zu machen, kombiniert die Scholastik ganz rational Montagen aus Tieren und Menschen.“25 Überwiegend wurde dieses Wissen in einem theologischen Rahmen verarbeitet. Die christliche Ausrichtung des Wigalois spiegelt sich kontinuierlich im Text wieder. Friedrich bemerkt ebenfalls, dass die „poetische Funktion weitgehend vom theologischen Diskurs absorbiert“26 wird. „Aufgrund dieser Beobachtung kann vermutet werden, dass, wenn der Verfasser des Wig[alois] ein orientbezogenes Szenario als Schauplatz für einen großen Teil seines Romans wählte […], Teile der Monstertradition aufgenommen wurden.“27

Die Verwendung von Monstern, die entweder menschliche oder tierisch-menschliche Merkmale vorweisen, erhält damit eine zugeschnittene Funktion: „Das Monströse [dient] als Definition des Anderen, des Fremden.“28 Marriens monströses Aussehen macht es unmöglich, es als ein bestimmtes Wesen zu identifizieren, besonders wegen der Vermischung von Merkmalen mehrerer sehr unterschiedlicher Monster. Außerdem benutzt Marrien magische Utensilien wie das Zauberfeuer, und schließt sich durch die Verbindung zu Roazʻ Teufelsreich selbst aus dem Christenreich aus.

Doch die theologische Perspektive auf Monster wie Marrien ist auch zweckmäßig: Das (je nach Funktion) interpretierte Wissen um ihre Existenz, der Kampf mit ihnen und ihre Überwindung, stellen Hindernisse dar, die der Romanheld auf seiner heiligen  Mission  überwinden muss. Und  nicht  zuletzt dadurch  erweisen  sich  diese Hindernisse als eine Belehrung.29 Diese Belehrung ist auf dem Bewährungsweg des christlichen Helden überaus wichtig, denn „die Beseitigung der Teufelsherrschaft heidnischen Unglaubens ist ständig von der Möglichkeit eines Scheiterns begleitet […].“30 Es ist allein der unerschütterliche Glaube an Gott, der Wigalois auf seinem scheinbar aussichtlosen Weg bekräftigt. Und dieser Weg wird bewacht von dem absonderlichen Monster Marrien, das durch seine dämonische Codierung als „Repräsentan[t] des Teufels“31 fungiert.

  1. Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausg. von J.M.N. Kapteyn, übers., erl. und mit einem Nachw. vers. von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin/New York: de Gruyter 2005.
  2. Eming, Jutta: Funktionswandel des Wunderbaren: Studien zum Bel Inconnu, zum Wigalois und zum Wigoleis vom Rade. Trier: WVT Verlag 1999, S. 3.
  3. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier: WVT Verlag 2013, S. 225.
  4. Behr, Hans Joachim: Die Rolle des Dämonischen in der Heldenepik. In: Müller, Ulrich/Wunderlich/Werner (Hg.): Mittelalter-Mythen (Bd.2). Dämonen, Monster, Fabelwesen. St.Gallen. UVK, Fachverlag für Wissenschaft und Studium 1999. S. 627–633 (hier S. 627). Auch für Antunes 2013 spielt die Monstertradition im Wigalois eher auf symbolischer als auf realistischer Ebene eine Rolle. Vgl. Ebd. S. 223.
  5. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2015, S.38.
  6. Wunderlich, Werner: Dämonen, Monster, Fabelwesen. Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe. In: Müller, Ulrich/Wunderlich, Werner (Hg.): Mittelalter-Mythen (Bd. 2). Dämonen, Monster, Fabelwesen. St. Gallen: UVK, Fachverlag für Wissenschaft und Studium 1999. S. 11–35 (hier S. 25).
  7. Antunes 2013, S. 192.
  8. Ebd. S. 213.
  9. Vgl. Simek 2015, S. 89.
  10. Vgl. ebd., S. 246.
  11. Als dämonische Wesen stellen Kentauren in der mittelhochdeutschen Epik eine Station im Bewährungsweg des Protagonisten dar. Vgl. Friedrich, Udo: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. In: Jussen, Bernhard et. al. (Hgg.): Historische Semantik (Bd. 5). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 240–241. Dazu auch Antunes 2013: „[Kentauren] fallen in der höfischen Literatur meist in Bezug auf Jagdszenen auf oder sie übernehmen eine Rolle als Gegner bzw. als Personifikation des Wilden und Nicht-Höfischen.“ Ebd. S.214.
  12. Simek 2015, S. 224.
  13. Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Übersetzt und mit Anm. vers. von Lenelotte Möller. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008, S. 304. XI,3,15.
  14. Vgl. Simek 2015, S. 224.
  15. Vgl. Isidor XI,3,15. S. 304.
  16. Vgl. Simek 2015, S. 224.
  17. Vgl. ebd., S. 225.
  18. Antunes 2013, S. 214.
  19. Gottzmann, Carola: Wirnts von Gravenberc ‚Wigalois‘. Zur Klassifizierung sogenannter epigonaler Artusdichtung. In: Minis, Cola/Quak, Arend (Hg.): Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik (Bd. 14). Amsterdam: Rodopi 1979, S. 117.
  20. Vgl. Lohbeck, Gisela: Wigalois. Struktur der bezeichenunge. In: Gottzmann, Carola (Hg.): Information und Interpretation. Arbeiten zu älteren germanischen, deutschen und nordischen Sprachen und Literaturen (Bd. 6). Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang 1991, S. 237.
  21. Friedrich 2009, S. 241.
  22. Gottzmann 1979, S. 117.
  23. Lohbeck 1991, S. 246.
  24. Vgl. ebd.
  25. Vgl. Wunderlich 1999, S. 16.
  26. Friedrich 2009, S. 298.
  27. Antunes 2013, S. 191.
  28. Simek 2015, S. 18.
  29. Vgl. Antunes 2013, S. 224.
  30. Gottzmann 1979, S. 116.
  31. Friedrich 2009, S. 142.

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