Die Bedeutung von Tierkämpfen in der mittelalterlichen Literatur im Vergleich mit Harry Potter

Am Ende des zweiten Buches der Harry-Potter-Reihe mit dem Titel Harry Potter and the Chamber of Secrets  kommt es zu einem entscheidenden Kampf zwischen dem Phönix Fawkes, dem Haustier des Schulleiters Albus Dumbledore, und dem Lord Voldemort gehorchenden Basilisken. Hierbei tragen die Tierwesen ihr Kräftemessen nicht nur stellvertretend für ihre Besitzer aus, vielmehr geht es dabei um den Kampf zwischen Gut und Böse. Dieses Phänomen besteht nicht erst seit der Veröffentlichung der britischen Fantasy-Reihe, sondern bedient sich vermutlich der zahlreichen abendländischen Vorlagen, in denen „gute“ oder „edle“ Wesen gegen „böse“ oder „niedere“ kämpfen und dabei als Metaphern auf den Antagonismus zwischen Gott und Teufel, Himmel und Hölle hinweisen.
So auch im klassischen höfischen Artusroman „Iwein“ des mittelhochdeutschen Dichters Hartmann von Aue, anhand dessen im nachfolgenden Blogeintrag in Hinblick auf den Kampf zwischen dem Löwen und dem Drachen ein Vergleich zu Joanne K. Rowlings Version in der Kammer des Schreckens gezogen wird.

Vogel gegen Schlange

Nachdem bereits im Blogeintrag zum Phönix dessen äußerliche Merkmale und wesensbeschreibenden Eigenschaften behandelt wurden, ist bekannt, dass Phönixe in der von Joanne K. Rowling geschaffenen Zaubererwelt als treue Haustiere fungieren können.
So entschloss auch Fawkes sich offenbar, bei Albus Dumbledore zu bleiben und wohnt seither im Büro des Schulleiters. Am Ende des Buches Harry Potter and the Chamber of Secrets stellt der Vogel dann seine Treue zu seinem Besitzer unter Beweis. Er erscheint in der Kammer des Schreckens, in dem Moment, als Harry Tom Riddle, der jugendlichen Version des später gefürchteten Zauberers Lord Voldemort, verbal die Stirn bietet, indem er verkündet, dass Albus Dumbledore der größte Zauberer aller Zeiten sei.[1] Damit beweist er ebenfalls seine unerschütterliche Treue zu seinem Mentor. Fawkes bringt ihm daraufhin den Sprechenden Hut (Sorting Hat)[2], in dem im weiteren Verlauf des vorletzten Kapitels des Buches ein Schwert erscheint, mit dem Harry sich verteidigen kann. Als Tom Riddle nach dem Auftauchen des Phönix‘ dann das in der Kammer wohnende Monster, den Basilisken, herbeiruft und ihm befielt, Harry zu töten[3], interveniert der Phönix und verletzt die Augen der Riesenschlange so sehr, dass sie erblindet und somit ihr tödlicher Blick Harry nichts mehr anhaben kann:

„Fawkes was soaring around its head, and the Basilisk was snapping furiously at him with fangs long and thin as sabres. Fawkes dived. His long golden beak sank out of sight and a sudden shower of dark blood spattered the floor. […] Harry looked straight into [the basilisks] face, and saw that its eyes […] had been punctured by the phoenix […].“[4]

Tom Riddle versucht daraufhin, die Aufmerksamkeit des Basilisken wieder auf die Beseitigung Harrys zu lenken und den Vogel zu ignorieren: „Leave the bird! Leave the bird! The boy ist behind you! You can still smell him! Kill him!“[5] Der Basilisk missachtet den Befehl und versucht, seines Augenlichts beraubt und verwirrt, sich gegen die andauernden Attacken des Vogels zu wehren, welcher unablässig seinen Kopf umkreist, und nun auch mit seinem Schnabel auf das Riechorgan des Kontrahenten einsticht. Bei genauerer Betrachtung dieser Szene fällt auf, dass nur Tom Riddle seinem ihm untergebenen Tierwesen Anweisungen gibt und es somit bewusst in seinem Namen kämpfen lässt. Harry hingegen wird von dem Phönix lediglich beschützt, gibt ihm seinerseits aber keine Befehle. Dies hängt, neben Harrys Überforderung in der Situation, vermutlich auch damit zusammen, dass der Vogel nicht ihm direkt untersteht. Er verteidigt Harry lediglich aufgrund seiner Treue zu Dumbledore.

Der Kampf in der Kammer des Schreckens, Jennie Huggins Illustration: https://www.deviantart.com/jenhuggybear/art/The-Chamber-of-Secrets-567376737 (zuletzt aufgerufen 10.09.2018)

Als Harry nun das besagte Schwert entdeckt, übernimmt er selbst den aktiv kämpfenden Part und Fawkes findet erst wieder Erwähnung, nachdem Harry den Basilisken getötet hat und an seiner im Kampf entstandenen Wunde durch einen Zahn der Schlange, zu sterben droht.
Der Phönix heilt die Verletzung durch seine Tränen: „[…] and there was Fawkes, still resting his head on Harry’s arm. A pearly patch of tears was shining all around the wound – except that there was no wound.“[6]

Bei dem Kampf zwischen dem Phönix und dem Basilisken handelt es sich, wie nun ersichtlich geworden ist, um einen stellvertretenden Kampf, den die Tierwesen im Namen ihrer Besitzer austragen. Hierbei nimmt der Basilisk, welcher direkte Anweisungen seines Gebieters erhält, die angreifende, der Phönix hingegen die verteidigende Rolle ein. Übergeordnet handelt es sich darüber hinaus um ein Kräftemessen zwischen der guten und der bösen Seite der Zaubererschaft. Fawkes steht für die Zaubererwelt, welche sich als nach ethischen und moralischen Grundsätzen handelnd versteht. Die Gestalt des Phönix steht, wie bereits aus dem vorangegangen Artikel über den Phönix bekannt, in der mittelalterlichen und antiken Anschauung überdies auch für die Erlösung und die Auferstehung Christi.[7] Sie stellt also ein Symbol des Guten und der Hoffnung dar. Der Basilisk kämpft im Namen Tom Riddles, also der dunklen Seite. In der christlichen Tradition gilt der Basilisk als eine Verkörperung des Bösen und als Sinnbild für Ungerechtigkeit, Lüge und Bosheit,[8] was auch seine Funktion in J.K. Rowlings Geschichte unterstreicht. Sie beabsichtigt zudem beim Leser durch die Beschreibungen der Kreatur klare Antipathien zu wecken.[9] Dies wird zum Beispiel dadurch deutlich, dass der Basilisk keinen Namen bekommt, wie der Phönix Fawkes, sondern bei seiner bloßen Bezeichnung genannt wird. Hierdurch wird klar, dass Riddle kein emotionales Verhältnis zu der Riesenschlange hat, sondern sie lediglich für seine Zwecke nutzen möchte. Im Gegensatz dazu, hat Dumbledore seinem Vogel einen Namen gegeben, weil er in ihm einen Weggefährten, und kein ihm unterstelltes Machtinstrument sieht.

Löwe gegen Drachen

Im Iwein stößt der gleichnamige Hauptprotagonist zu einem Kampf zwischen einem Löwen und einem Drachen hinzu. Zuvor hatte der Artusritter das Angebot ausgeschlagen, Herr des Landes der Dame von Narison zu werden. Iwein sucht Zuflucht in einem nahegelegenen Wald und hört schmerzerfüllte und zornige Laute in der Nähe. Er vermutet dahinter bereits einen Drachen oder ein wildes Tier und folgt den Geräuschen bis auf eine Waldlichtung. Iweins Verdacht bewahrheitet sich, als er Zeuge eines Kampfes zwischen einem Löwen und besagtem Drachen wird. Zunächst ist er unentschlossen, wem er helfen soll, entscheidet sich dann aber für das „edlere“ Tier.[10] Trotzdem zögert er, einzuschreiten, da er fürchtet, der Löwe könnte ihn nach Besiegen des Drachen dennoch angreifen:

wan alsô ist ez gewant,
als ez ouch under den liuten stât:
sô man aller beste gedient hât
dem ungewissen manne,
sô heute sich danne
daz er in iht beswîche.[11]

Französische Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert, Künstler unbekannt. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Yvain-dragon.jpg (zuletzt abgerufen 13.08.2018)

Schließlich überwindet sich Iwein und erschlägt den Drachen, woraufhin der Löwe sich zu seinen Füßen niederwirft. Damit vollzieht er die höfischen Gesten der Dankbarkeit:

„er antwuorte sich in sîne pflege,
wander in sît alle wege
mit sînem dienst êrte
und volget im swar er chêrte.“[12]

Der Kampf zwischen dem Löwen und dem Drachen und Iweins Einschreiten werden in nur 40 Versen abgehandelt. Trotz der Kürze dieses Textbeispiels lassen sich einige Auffälligkeiten und Parallelen zum Kampf in Harry Potter herausarbeiten. Zunächst einmal handelt es sich ebenfalls um zwei Tiere, welche in der mittelalterlichen Auffassung klar als positiv und negativ konnotiert werden. Der Drache gilt laut Isidor von Sevilla als größtes Lebewesen auf der Erde und wird eng mit dem Feuer in Verbindung gebracht.[13] Im christlichen Mittelalter besteht eine starke Verbindung zwischen dem Drachen und dem Teufel.[14] Dem Löwen hingegen wird stets eine edle und ehrenvolle Rolle zugewiesen.[15] So wird auch im Millstätter Physiologus der Löwe[16]  als erstes Tier gewählt und nicht nur als „König aller Könige“ (chunich aller chunige[17]) sondern als Gott selbst bezeichnet.[18] Dies ist auch der Grund, warum Iwein sich für die Seite dieses Tiers entscheidet und der Löwe sich ihm anschließt.[19] Eine weitere Parallele zu Harry Potter besteht außerdem dahingehend, als dass die Gestalt des Drachen im frühmittelalterlichen Verständnis oftmals einer riesigen Schlange glich, wodurch sich auch die mittelhochdeutsche Bezeichnung wuorm erklärt. Neben der Parallele zum Basilisken als Riesenschlange sei außerdem das Haus Slytherin erwähnt, aus dem Tom Riddle stammt und welches das Symbol einer Schlange trägt.[20]
Der Phönix Fawkes bringt Harry außerdem das Schwert Godric Gryffindors, dem Gründer des Hauses Gryffindor, welches durch einen Löwen verkörpert wird.[21] Im weitesten Sinne handelt es sich also beim Kampf in der Kammer des Schreckens auch um einen zwischen Schlange und Löwe. Somit sind diese Symbolik und ihre Bedeutung mit der aus von Hartmanns Iwein nahezu gleichzusetzen.

Miniaturzeichnung aus dem 13. Jahrhundert. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Yvainlion.JPG (zuletzt abgerufen 13.08.2018)

Fazit

Sowohl in der mittelalterlichen Epik als auch in modernen Fantasyromanen verfolgen Kämpfe zwischen zwei Tieren oder Fabelwesen mehrere und häufig ähnliche Ziele.
Zum einen dienen diese natürlich immer als spannungsgebende Szene in der Erzählung und lassen den Leser beim Kampf zwischen den meist offensichtlich erkennbaren Parteien mitfiebern. Zum anderen können dadurch aber auch unterschwellig weitere Bedeutungen transportiert werden, wie die Symbolik der kämpfenden Tierarten. Diese kann mitunter in Hinblick auf den vorangegangenen oder nachfolgenden Erzählstrang oder aber auch auf einen übergeordneten (zum Beispiel christlichen) Kontext von großer Relevanz sein. In jedem Fall lohnt es sich, unabhängig vom Erscheinungszeitraum der Werke, einen genaueren Blick auf Tierkämpfe in der vorliegenden Literatur zu werfen. Oftmals halten Metaphorik und Symbolik hier noch mehr interessante Informationen bereit, als es oberflächlich scheint.

——

[1] Vgl. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, London, 1998, S. 232.

[2] Details zum Sprechenden Hut siehe: Rowling, Joanne K.: The Sorting Hat, unter: https://www.pottermore.com/explore-the-story/the-sorting-hat [zuletzt abgerufen  27.07.2018].

[3] „Then he heard Riddle’s hissing voice: ‚Kill him.‘ The Basilisk was moving towards Harry […].“,
Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, S. 234.

[4] Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, S. 235.

[5] Ebd.

[6] Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, S. 236f.

[7] Vgl. Obermaier, Sabine: Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, Berlin, 2009, S. 181.

[8] Liess, Kathrin: Basilisk, unter: http://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/basilisk/ch/9e5f445d919214cd6a0116619af7b233/ [zuletzt abgerufen 27.07.2018].

[9] Vgl. Rowling, Joanne K.: Harry Potter an the Chamber of Secrets, S. 234-236.

[10] „dem hern Îwein tet der zwîfel wê | wederm er helfen solde, | doch gedâhter daz er wolde | helfen dem edeln tiere“, Hartmann von Aue: Iwein, Übers. Krohn, Rüdiger, Stuttgart, 2012, V. 3846-3849.

[11] Hartmann von Aue: Iwein,  V. 3854-1859.

[12] Hartmann von Aue: Iwein,  V. 3877-3880.

[13] Möller, Lenelotte (Übers.): Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, Wiesbaden, 2008, S. 463.

[14] Hünemorder, Ch.: Dragons – Late ancient and medieval tradition, aus: Lexikon des Mittelalters, unter: http://apps.brepolis.net.00578dpl0d80.emedien3.sub.uni-hamburg.de/lexiema/test/Default2.aspx [zuletzt abgerufen 29.07.2018] und Graf von Nayhauss-Cormons-Holub, Hans-Christoph: Die Bedeutung und Funktion der Kampfszenen für den Abenteuerweg der Helden im „Erec“ und „Iwein“ Hartmanns von Aue, Freiburg, 1967, S. 178.

[15] Vgl. Wolf, Jürgen: Einführung in das Werk Hartmanns von Aue, Darmstadt, 2007, S. 87.

[16] Zur Symbolik des Löwens im Früh- und Hochmittelalter siehe auch: Jäckel, Dirk: Der Herrscher als Löwe, Köln, 2006, S. 144.

[17] Schröder, Christian: Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar, Würzburg, 2005, S. 64, 6.

[18] Vgl. Schröder, Christian: Der Millstätter Physiologus, S. 64, 7.

[19] Vgl. hierzu auch Sieverding, Norbert: Der ritterliche Kampf bei Hartmann und Wolfram, Heidelberg, 1985, S. 147-150.

[20] Vgl. Rowling, Joanne K.: Hogwarts houses: Slytherin, unter: https://www.pottermore.com/collection/all-about-slytherin, [zuletzt abgerufen 29.07.2018].

[21] Vgl. Rowling, Joanne K.: Hogwarts houses: Gryffindor, unter: https://www.pottermore.com/collection/all-about-gryffindor, [zuletzt abgerufen 29.07.2018].

Das Motiv des Drachen in der Legende des Heiligen Georg

Mit dem Passional liegt bis heute eines der umfangreichsten deutschsprachigen Werke des Mittelalters vor. Seine Entstehungszeit wird in das 13. Jahrhundert datiert, was es darüber hinaus zu einem der ältesten Legendare macht.[1] Als hauptsächliches Vorbild für das Passional, dessen Autor bislang unbekannt ist, gilt die auf Latein verfasste Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, eines der erfolgreichsten Legendare des Mittelalters.[2] Das Passional kann somit als erste systematische Bearbeitung der Legenda Aurea gelten.[3] Insbesondere sei es vermutlich, so der aktuelle Forschungsstand, durch Mitglieder des Deutschen Ordens rezipiert und verbreitet worden; der Entstehungskontext ist jedoch noch unklar.[4] Das Passional ist in drei Büchern überliefert. Das Erste erzählt von dem Leben Marias, der Geburt Jesu und der Passionsgeschichte, das zweite beschäftigt sich dann mit Legenden der Apostel und der Erzengel. Das dritte Buch, mit dem in diesem Beitrag gearbeitet wird, führt in kalendarischer Reihenfolge 75 Heiligenlegenden an.[5] Im Passional sei, so Seidl, die Tendenz erkennbar, das „Geschehen narrativ auszuschmücken.“[6] Auch in der Legende, die hier zur Untersuchung herangezogen wird, kommt durch diese Tendenz einem speziellen Motiv mehr Aufmerksamkeit zu als in anderen Überlieferungen der gleichen Legende: dem Drachen.

Der Drache, dessen etymologischer Ursprung vermutlich nah bei dem griechischen drakon liegt, was sich als „der scharf/furchtbar Blickende“ übersetzen lässt, wird in der mittelalterlichen Literatur oft als Ungeheuer, Untier, Bestie oder ähnliches bezeichnet.[7] Verschiedene Drachenvorstellungen haben sich einander seit dem Mittelalter angenähert.[8] In der mittelalterlichen Literatur hält der Drache insbesondere als monströser Gegner mutiger Helden Einzug, so erscheint er häufig in der mittelhochdeutschen Heldenepik.[9] Auch im Kontext der Heiligenlegende taucht der Drache teilweise auf, so ist es hier ein Heiliger, bzw. eine Heilige, der/die den Drachen bekämpft.[10] Die bei weitem berühmteste Heiligenlegende, in der ein Drache und der damit verbundene Drachenkampf eine Rolle spielen, ist die Legende des Heiligen Georg.[11]

Wie wird eben dieses Drachenmotiv in der Georgslegende aus dem Passional zum Ausdruck gebracht? Um diese Frage zu beantworten, wird zunächst das Drachenbild herausgearbeitet, das die Dichtung entwirft. Anschließend soll erörtert werden, was für eine Funktion dem Drachen in dieser Heiligenlegende zukommt. Zwar gibt es noch weitere Drachenkampfdarstellungen in Heiligenlegenden, doch für diese Arbeit bleibt die Antwort begrenzt auf das Passional und seine wohl bekannteste Drachendarstellung, die in der Forschung bereits zu unterschiedlichen Interpretationen geführt hat.[12]

Der Drache in der Georgslegende

Die Legende des Heiligen Georg ist ursprünglich vermutlich um das 4. Jahrhundert in Kleinasien entstanden und berichtete zunächst ausschließlich von dem vorbildhaften Märtyrer Georg.[13] Erst sekundär soll das Drachenmotiv mit in die Legendentradition eingefügt worden sein, so ist es im Westen literarisch erst ab dem 12. Jahrhundert fassbar.[14] Insbesondere durch die Legenda Aurea soll dieser Teil der Legende Verbreitung erhalten haben. In diesen Zusammenhang wird aktuell auch die Ausgestaltung des Heiligen Georg zum Ritter eingeordnet.[15] Im Passional lässt sich die Legende in zwei Episoden aufteilen, so wird dem Märtyrerbericht die Drachenkampfpassage, welche für diesen Artikel bedeutend ist, vorangestellt.[16] Zunächst soll nun ein Blick auf die Darstellung des Drachen in dieser Passage geworfen werden.

Berichtet wird von der Hauptstadt Libyens[17], die sich in einer bedrohlichen Lage befindet: „dar quam ein wurm, ein trache / ungevuge unde starc. / von naturen was er arc / und dem lande ein schure“ (III 253, 23–27).[18] Die Rede ist von einem Drachen, bzw. einem „wurm“[19], der böser Natur ist und das Land bedroht. Dieser Drache klettert immer wieder an der Stadtmauer hoch und versetzt die Bewohner mit seinem bösartigen Blick in Angst und Schrecken (III 253, 30f.). Außerdem stößt er stinkenden, giftigen Atem aus (III 253, 33–35). Er wohnt in einem Teich, der nah der Stadt gelegen ist und schadet mit seiner Anwesenheit den Bewohnern und ihrem Vieh. Immer wenn er Hunger hat, kommt er zu der Stadt und bedroht sie mit seinem tödlichen Atem, damit sie ihm zu speisen geben (III 253, 37–51). Um größeren Schaden zu umgehen, werden dem Drachen zwei Tiere pro Tag gegeben, doch die Bewohner sind der Bedrohung seiner „vientliche[n] nature“ erneut ausgesetzt, als von dem Vieh schließlich nichts mehr übrig ist (III 254, 20–37, zit. nach 34). So wird entschieden, jeden Tag per Losverfahren einen Menschen aus der Stadt zu wählen, der dem Drachen geopfert wird (III 254, 45–55). Als das Los eines Tages auf die einzige Tochter des Königs der Stadt fällt, kommt es zu einer Reihe von Schilderungen, die für die Analyse des folgenden Abschnitts von Bedeutung sind.

Zunächst bleibt jedoch festzuhalten: Dargestellt wird der Drache in der Legende des Heiligen Georg als ein lebensbedrohlicher „wurm“, der die Menschen durch seine Bosheit in Angst versetzt. Nicht nur sein Atem ist tödlich, er bedroht die Stadt insbesondere durch seinen Hunger. Die nun herausgearbeiteten Attribute, die dem Drachen in dieser Legende zugeschrieben werden, entsprechen gängigen mittelalterlichen Mustern. Vor allem der giftige Atem, die bösen Augen und der Wohnraum am Wasser sind Elemente, die vielfach in der mittelhochdeutschen Heldenepik sowie auch teilweise in Heiligenlegenden auftauchen.[20] Im nächsten Schritt soll die Funktion des nun als durchaus typisch klassifizierten Drachen erörtert werden.

Die Funktion des Drachenmotives

Die Tatsache, dass die Tochter des Königs die einzige Thronnachfolgerin der Stadt ist, hindert die Bewohner nicht daran, sie ihrem durch das Los bestimmte Schicksal zu überlassen. So wird sie schließlich doch zu dem bösen Wesen geschickt (III 254, 63–255, 60). In diesem Moment jedoch „ein ritter quam geriten / […] / den unser herre sante“ (III 255, 67; 71). Es ist der heilige Ritter Georg, der von Gott gesandt wurde, um das durch den Drachen verursachte Leid der Bewohner zu beseitigen. Schließlich taucht der Kopf des „bosen wurmes“ aus dem Wasser hervor und Georg sieht jenen Drachen aus der Flut wandern (III 256, 71–85, zit. nach 71). Er bekreuzigt sich[21] und reitet dann in hohem Tempo auf den Drachen zu, um ihn niederzuschlagen. „Nach ritterlicher saze“ schlägt er ihn nieder und durchstößt mit voller Kraft seine Mitte (III 256, 89–97, zit. nach 95). Als der Drache dann stark verletzt zu Boden fällt, trägt Georg der Prinzessin auf, ihn mit ihrem Gürtel zu fesseln, denn er habe noch Großes mit ihm vor. Der Drache folgt ihnen „in demutiger sache, / als ein wolbedenc hunt, / deme alle erge ist unkunt“ (III 257, 24–26). In der Stadt verkündet Georg den Einwohnern dann, dass er von Gott gesandt worden sei, um das Land von dem Drachen zu befreien. Er stellt sie vor die Wahl: Er werde den Drachen töten, wenn die Einwohner sich von den „bosen abgoten“ abkehrten und sich taufen ließen (III 257, 61–63, zit. nach 63). Als die Menschen bekennen, dass sie Gottes Gebot halten und sich taufen lassen wollen, schlägt Georg den verletzten Drachen vor den Augen aller tot (III 257, 75–84).

Durch die hier dargestellte Handlung wird die Funktion des Drachenmotives in der Heiligenlegende deutlich. Das Befreiungsschema, das in dieser Legende durch die Rettung der Prinzessin Ausdruck findet, ist ein bekanntes Drachenkampfmotiv der mittelhochdeutschen Heldenepik. In dieser Legende dient es jedoch, im Gegensatz zur Heldenepik, nicht zwingend nur zur Ruhmerlangung des Ritters, sondern beinhaltet der Gattung entsprechend eine christliche Motivation.[22] Der von Gott gesandte Ritter befreit zunächst die heidnische Prinzessin, darüber hinaus aber auch die gesamte Stadt aus den Fängen des Drachen. Indem er dies tut, befreit er die Stadt von dem Bösen, welches der Drache hier allgemein unverkennbar verkörpert. Warum diese Stadt überhaupt durch einen Drachen in Not gerät, wird im Passional deutlich beantwortet:

Diz swerliche klagende we
dulten si von rechter schult,
wand die stat was gevult
mit abgoten vil genuc,
den man dienstlich opfer truc
und unsers herren vergaz;
hier von sie wol diz leit befaz. (III 254, 6–12)

Diese Verse werfen ein interessantes Licht auf das Drachenmotiv. Der Drache wird als Folge des heidnischen Glaubens und der falschen Opfer der Einwohner bezeichnet. Er wird deshalb auch durch die Opfer an ihn weder zufriedengestellt, noch besiegt. Das geschieht erst als Georg, der Gesandte Gottes, herbeigeritten kommt, um das Volk zu befreien. Der Drache wird also erst überwältigt, als das Volk sich dem christlichen Glauben zuwendet. Georg besiegt ihn, um das Volk vom heidnischen zum christlichen Glauben zu bekehren. Der Drache kann in dieser Legende folglich nicht nur als Verkörperung des Bösen oder der Strafe Gottes, sondern darüber hinaus als Allegorie für den heidnischen Unglauben der Bewohner interpretiert werden.[23]

Fazit

Der Drache wird in der Legende des Heiligen Georg als ein Wesen dargestellt, dem monströse Attribute zugeschrieben werden, die im Kontext der mittelalterlichen Literatur allgemein verbreitet waren. Während der Drache in der Heldenepik überwiegend als Gegner auftritt, der in einer Art Mutprobe besiegt werden muss, um die Prinzessin, Reichtum oder Ruhm zu erlangen[24], kommt ihm in dieser Heiligenlegende eine allegorische Funktion zu. Er fungiert zunächst als Verkörperung des Bösen, doch kommt hier eine christlich motivierte Spezifizierung des Bösen hinzu: Mit dem Bösen, Monströsen, ist in dieser Legende der falsche, teuflische Unglaube der Heiden gemeint, den es durch den christlichen Helden Georg zu besiegen und aus der Welt zu schaffen gilt. Der Drache wird also aktiv in den hagiografischen Kontext der Legende und des Passionals eingebunden.


[1]    Unter einem Legendar ist eine Sammlung von Heiligenlegenden zu verstehen. Vgl. Seidl, Stephanie: Blendendes Erzählen: narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters. Berlin [u.a.]: de Gruyter 2012, S. 41.

[2]    Hammer, Andreas: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 35.

[3]    Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 36.

[4]    Vgl. Seidl: Blendendes Erzählen, S. 46.

[5]    Ebd., S. 41.

[6]    Ebd., S. 42.

[7]     Vgl. Röhrich, Lutz: Drache, Drachenkampf, Drachentöter. In: EM 3. Berlin/New York: de Gruyter 1981, Sp. 787–820 (hier Sp. 789). Zur Etymologie dieses Wortes gibt es jedoch Meinungsverschiedenheiten, vgl. Seidl: Blendendes Erzählen, S. 51.

[8]    Ebd., Sp. 790.

[9]    Ebd., Sp. 797.

[10]   Ebd., Sp. 795.

[11]   Ebd.

[12]   Vgl. für einen Überblick der Forschung zu diesem Thema: Schwarz, Monika: Der Heilige Georg – Miles Christi und Drachentöter. Wandlungen seines literarischen Bildes in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Köln-Sülz: Kleikamp 1972, S. 86–88.

[13]   Haubrichs, Wolfgang: Georg, Heiliger. In: TRE 12. Berlin [u.a.]: de Gruyter 1984, S. 380–385 (hier S. 380).

[14]   Haubrichs: Georg, Heiliger, S. 381; Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 370.

[15]   Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 370.

[16]   Ebd., S. 371.

[17]   Die Stadt wird im Passional, im Gegensatz zu der Legenda Aurea, nicht mit einem Namen versehen.

[18]   Es wird im Folgenden ausschließlich verwendet und zitiert nach: Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des 13. Jahrhunderts. Zum ersten Mal herausgegeben und mit einem Glossar versehen von Friedrich Karl Köpke. Quedlinburg/Leipzig: Gottfr. Basse 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen Nationalliteratur 32). Abgekürzt wird mit der Sigle „III“, es folgen Seiten- und Versangaben. Das originale „ſ“ wird in direkten Zitaten kontinuierlich durch ein „S“ ersetzt.

[19]   Vermehrt werden Drachen in der mittelhochdeutschen Literatur als wurm bezeichnet, etymologisch könnte dies noch aus dem Germanischen abgeleitet werden, wo das Wort wurm ein Sammelbegriff für Reptilien jeglicher Art war, vgl. hierfür: Röhrich: Drache, Sp. 789.

[20]   Vgl. Röhrich: Drache, Sp. 790.

[21]   Die Bekreuzigung führt in anderen Heiligenlegenden, wie bspw. in der Margaretenlegende, bereits zum Sieg über den Drachen, in der Legende des Heiligen Georg ist dafür jedoch der Kampf entscheidender. Vgl. für die Legende der Heiligen Margarete: Das Passional: Eine Legendensammlung des 13. Jahrhunderts, S. 326–332.

[22]   Seidl: Blendendes Erzählen, S. 53.

[23]   Vgl. für die Möglichkeit dieser Interpretation, sowie für weitere vertretene Ansätze: Schwarz: Der Heilige Georg, S. 86.

[24]   Vgl. Röhrich: Drache, Sp. 792–797.

Ein Vergleich der Drachen im Beowulf und in Tolkiens Hobbit

J.R.R. Tolkien ist vor allem durch seine Werke wie Herr der Ringe oder Der Hobbit bekannt. Doch Tolkien war auch Professor für englische Sprache und beschäftigte sich intensiv mit Beowulf. Auf die Frage nach der Beziehung zwischen Hobbit und Beowulf gibt er in einem Brief zur Antwort, dass Beowulf zu seinen wertvollsten Quellen gehört:

Beowulf is among my most valued sources; though it was not consciously present to the mind in the process of writing, in which the episode of the theft arose naturally (and almost inevitably) from the circumstances. 1

Tolkiens intensive Beschäftigung im Besonderen mit Drachen ist in einem weiteren Brief enthalten, in dem er seine Meinung über den Beowulf-Drachen äußert:

I find ‚dragons‘ a fascinating product of imagination. But I don’t think the Beowulf one is frightfully good. But the whole problem of the intrusion of the ‚dragon‘ into northern imagination and its transformation there is one I do not know enough about. Fáfnir in the late Norse versions of the Sigurd-story is better; and Smaug and his conversation is in debt there. 2

Aus seinem Aufsatz über das altenglische Epos „The Monsters and the Critics“ kann zudem herausgelesen werden, dass er einen besonderen Fokus auf die Ungeheuer der Erzählung gelegt hat, wozu auch der Feuerdrache gehört:

And dragons, real dragons, essential both to the machinery and the ideas of a poem or tale, are actually rare. [The Beowulf poet] esteemed dragons, as rare as they are dire, as some do still. He liked them – as a poet, not as a sober zoologist; and he had good reason.3

Geradezu naheliegend scheint da der Vergleich zwischen dem Drachen im Beowulf und dem Drachen im Hobbit; daher wird in diesem Artikel untersucht, in welchen Merkmalen sich die beiden Drachen ähneln oder unterscheiden, wie ihre Beziehungen zu anderen Figuren dargestellt werden und welche jeweiligen Rollen und Funktionen beide in der Erzählung haben.

Vergleich der Drachen

Im Vergleich der Merkmale und des Verhaltens beider Drachen sieht man mehrere Punkte, in denen sich die Drachen stark ähneln.  Es gibt im Beowulf keine ausführliche Beschreibung des Drachens,  er erscheint  in der Handlung ohne jedwede Hinführung, wie auch Gwyn Jones schreibt: „Admittedly one would be troubled to draw the dragon in any detail“4. Durch bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen lassen sich jedoch einige Informationen ableiten.

Tolkien hingegen beschreibt den Drachen im Hobbit ausführlich. Der Drache Smaug wird eingehend dargestellt, einmal aus einer auktorialen Erzählperspektive, die den Drachen visuell vorstellt, ein weiteres Mal durch mehrere Passagen, in denen Smaug selbst die Erzählperspektive einnimmt. So tritt Smaug als „rotgoldner[…] Drache“5 mit einem langen mächtigen Schwanz (H vgl.S. 217) auf und wird bei der Beschreibung seiner Flügel mit einer „Fledermaus“ (H S. 217) verglichen.

Stellt man die hier gewonnenen Informationen zusammen, ergeben sich erkennbare Verbindungen: Sowohl Smaug als auch der Drache im Beowulf sind nachtaktiv; Beowulfs Drache zeichnet sich genau durch dieses Verhalten aus, es wird explizit sein Bezug zur Nacht betont.

Der Tag war endlich vergangen / Nach Wunsch des wütenden Drachen.6

Zum Hort floh er zurück, / Zum geheimen Höhlenraum, vor hellem Tagesanbruch (B V. 2319f.)

Auch Smaug verbreitet sein Unglück nachts. Bereits zu Anfang der Erzählung bei der ersten Vorstellung Smaugs als das Monster, welches es zu bezwingen gilt, wird sein Erscheinen in der Nacht betont:

Die Kiefern rauschten auf der Höhe  und die Winde stöhnten in der Nacht. Das Feuer war rot und barst wie ein Glutball.  Die Bäume brannten hell wie Fackeln.  (H S.21)

Sogar die Reaktionen der mit den Drachen verbundenen Menschen ähneln sich stark in ihrer Wortwahl. Demnach heißt es bei Beowulf: „Der helle Feuerschein / Flößte den Leuten im Land Entsetzen ein“ (B V. 2313f.) und Tolkien schreibt in dem Lied der Zwerge: „[…] und die Menschen schauten mit fahlen Gesichtern herauf:  der Zorn des Drachen entbrannte noch heller als Feuer“ (H S. 22). Beide Drachen, wie man den gerade genannten Textstellen entnehmen kann, können Feuer speien und sind flugfähig. Feuer geht mit dem Bild des Drachen einher, es ist das erste Anzeichen für einen Drachen und die Methode seiner Zerstörung, „the monster and the fire turn out to be the same thing“7. Außerdem zeichnen sich die Drachen durch ihre außerordentlich starken Panzer aus. Am Kopf des Beowulf-Drachen zerbricht Beowulfs Schwert Nägeling (vgl. B V. 2680). Allerdings besitzt der Panzer eine verwundbare Stelle: „Indem [Wiglaf] den Kampffeind am Körper weiter unten traf / […]. Das ruhmreiche Schwert drang ein“ (B V. 2269f.). Auch Smaug wird durch einen starken Panzer geschützt; aber er ist im Vergleich zum Beowulf-Drachen noch weiter gestärkt und geschmückt:

[…] versprühte [Smaugs] untere Panzerseite im Mondlicht weißes Edelsteingeglitzer – aber ein einzelner Fleck blieb stumpf. […] Der Pfeil schlug ein […] (H S.251-252)

Anhand der Analyse der Kenningar von Hertha Marquardt wird der Beowulf-Drache nämlich sowohl „Schatzhüter“8  als auch „Hüter des Berges“9 bezeichnet, Begriffe die auch auf Smaug zutreffen. Ferner erreichen beide Drachen ein hohes Alter, im Beowulf heißt es: „So bewohnte der gewalttätige Volksfeind dreihundert Winter lang […]“ (B V.2278). Während im Hobbit Smaug spricht:

Ich brachte die alten Krieger um, und solche Krieger gibt es heute in der Welt nicht mehr. Und damals war ich noch jung und zart. Jetzt aber bin ich alt und stark, stark, stark […] (H S.229)

Beziehung zu anderen Figuren

Um die Charakterisierung fortzusetzen, sollen nun die Verknüpfungen der Drachen mit anderen Figuren betrachtet werden. Beide Drachen kommen mit nur einer kleinen Anzahl an Figuren in Berührung. Smaug trifft auf Bilbo Beutlin, den Meisterdieb, der den Pokal entwendete und seinen Bewacher damit aus dem Schlaf holte; und auf Bard den Bogenschützen, der ihn mit einem gezielten Schuss an seiner Schwachstelle trifft und tötet. Mit ähnlich vielen Personen tritt der Drache im Beowulf in Kontakt. Vor allem der Held Beowulf selbst setzt sich mit dem Drachen auseinander; dazu kommt Wiglaf, der den Drachen durch einen gezielten Stoß in seine Schwachstelle zum Tod verhilft. Dieser Drache trifft auch auf ‚seinen‘ Dieb. Der Dieb ist hier ebenso der Grund für das Aufwachen des Drachens.

Der Beowulf-Drache kommt im Wesentlichen aber nur mit einer Figur in Berührung: König Beowulf. Dieser Kampf, in dem der Drache mit Feuer und voller Wut versucht, Beowulf zu töten, ist die einzige Auseinandersetzung. Gegenüber anderen Figuren reagiert der Drache nur mit Wut und Zorn. Den Dieb sucht er „[k]ochend vor Wut“ (B V. 2296) in der Umgebung; gegenüber Beowulf wird „sein Zorn entzündet“ (B V. 2555), sobald er Beowulf hört. Der Drache ist in diesem Moment nur auf einen Kampf aus (vgl. B V. 2561).

Ein weiterer Mensch, der insbesondere für den Tod des Drachen eine große Rolle spielt, ist Wiglaf. Dieser lenkt den Drachen durch einen geschickten Stoß, in eine sich am Bauch befindende Schwachstelle (vgl. B V. 2269-70), ab, sodass Beowulf den Drachen töten kann, bevor er selbst kurze Zeit später – an einer von dem Drachen zugefügten Wunde – stirbt. „Wiglaf ist der eigentliche Überwinder des Drachens, stellt aber seine Hilfe ganz bescheiden dar […]“10, da der Tod des Drachens zu Gunsten Beowulfs geschieht.

Im Hobbit ist es insbesondere Bilbo, der durch den Dialog mit dem Drachen und den Beobachtungen, die er währenddessen anstellt, Smaug mehr Tiefe verleiht. Bilbo hat bei seinem zweiten Gang in die Höhle eine lange Unterhaltung mit Smaug. Smaug kann sprechen und sich mit Bilbo unterhalten, was einen bedeutenden Unterschied zwischen beiden Drachen darstellt. Smaug entwickelt sich zu mehr als einer gewalttätigen Bestie, die es zu erschlagen gilt. Denn, obgleich der Beowulf-Drache nicht vollständig einem Tier bezüglich seiner Intelligenz gleicht, ist er doch weit entfernt von der geistigen Auseinandersetzung zwischen Bilbo und Smaug.

Bilbo schleicht unsichtbar durch die Halle und lenkt Smaug mit Schmeicheleien und Rätseln ab. Der Drache bemerkt das zwar sofort (vgl. H  S.2 25) und hält „kein einziges Wort Bilbos für wahr“ (H S. 225), lässt sich aber trotzdem auf die Rätsel und Komplimente ein. Im Laufe der Unterhaltung entlockt er Bilbo mehrere Details über seine Herkunft und Gruppe (vgl. H S. 225), oftmals durch kleine Fehler des Hobbits, die der Drache sofort bemerkt. Es gelingt ihm sogar, Bilbo zu verunsichern, indem er auf seine bereits bestehenden Zweifel eingeht, wodurch dieser tatsächlich beginnt, die Zwerge zu verdächtigen (vgl. H  S. 228). Damit hat Smaug einen Konflikt in Bilbo erkannt, von dem dieser selbst noch nicht einmal wusste. „Drachenzauber“ (H S. 228) wird Smaugs Einfluss genannt, seine Persönlichkeit ist so „überwältigend“ (H S. 228), dass Bilbo dagegen ankämpfen muss. Während der gesamten Unterhaltung kommt Smaugs Arroganz zum Vorschein, sein Stolz über seine Kraft und seinen Besitz; diese Arroganz verleitet ihn jedoch dazu, auf Bilbos Bitte einzugehen, seine Unterseite zu offenbaren, und seine Schwachstelle zu entblößen:

[…] und daß es [Bilbo] aus ganz besonderen Gründen gelüstete, noch einmal genauer nachzuschauen. Der Drache rollte sich herum. „Schau“, sagte er. „Was meinst du dazu?“

[…] Aber im Innern dachte er: Alter Narr! Da ist doch ein leerer Fleck an seiner linken Brust, so nackt wie eine Schnecke ohne Haus! (H S. 229f.)

Funktion in der Handlung

Die Funktion und Rolle der Drachen ist anhand der Handlung klar auszumachen: Smaug ist der Antagonist des Hobbits, und wird schon im ersten Kapitel vorgestellt. Der Drache im Beowulf ist auch das zu bezwingende Monster,  wird allerdings erst sehr spät in Vers 2211 eingeführt. Trotz der Tatsache, dass sich beide Handlungen in nur scheinbar wenigen Details unterscheiden, haben Smaug und der Beowulf-Drache zwei grundlegend unterschiedliche Positionen in der Handlung.

Der erste große Unterschied zwischen beiden Werken findet sich in den Vorstellungen der Drachen, und der damit erzeugten Wirkung. Der Drache im Beowulf wird nur so weit präsentiert, als dass der König Beowulf einen Anlass, hat gegen das Monster zu kämpfen, „the dragon was in his right place, fulfilling his proper function“11, während Smaug genaustens beschrieben wird und  in der Gesamthandlung einen deutlich größeren Platz einnimmt. Die bereits erwähnten wiederholten Treffen mit Bilbo ermöglichen ein konkretes Bild des Drachens.

An genau dieser unterschiedlichen Gewichtung ist die Bedeutung der Drachen für die Erzählung festzumachen; Smaug begründet den Rahmen, in dem einerseits die Erzählung stattfindet, und den es andererseits zu brechen gilt. Der Beowulf-Drache dagegen dient im Schlusskapitel als Mittel zum Zweck für ein glorreiches Ende des Königs (vgl. B V.2842f.), und wie William Lawrence schreibt: „The dragon fits Beowulf as any dragon fits any hero.“12

Zweitens werden durch die längere Zeitspanne, die die Erzählung dem Drachen widmet, die tatsächlichen Begegnungen mit Smaug mit mehr Bedeutung beladen. Außerdem ist die Konfrontation das Resultat einer Erwartungshaltung, die während des gesamten Romans Kapitel für Kapitel gesteigert wurde: Die Handlung strebte von Anfang an auf das Treffen und Überwältigen Smaugs zu.

Im Beowulf dagegen beschäftigt sich der Autor nur kurz mit dem Drachen, da dieser als Monster weithin bekannt war: „that a man fights a dragon is commonplace of story“13, wodurch eine ausführliche Vorstellung ausfällt:„The dragon was so well known on Germanic soil that the poet of Beowulf did not even give him a name.”14
Mit diesem Satz illustriert Lawrence noch eindringlicher den grundlegenden Unterschied zwischen beiden Drachen. Wie schon angedeutet wurde, sind die ‚Namen‘ der Drachen wichtig. Der Drache im Hobbit trägt einen Namen, der im Beowulf allerdings nicht, wodurch auch seine Rolle in der Erzählung beeinflusst wird.

Deutlich wird diese Betrachtung anhand des Todes beider Drachen: In Smaugs letzten Momenten ist der Drache nämlich selbst im Fokus der Erzählung; der Tod des Drachen im Beowulf ist eine Randhandlung für die ausführliche Schilderung des langsamen Todes des Königs.

Smaug wird wie eine Figur behandelt, zeigt ein komplexes Innenleben und besitzt eine eigene Erzählperspektive. Sein Agieren mit Bilbo zeigt im Weiteren eine fast menschliche Intelligenz und konkrete Charakterzüge: Er ist arrogant, gierig, aber auch überaus intelligent und geradezu intrigant in seiner Fähigkeit, Bilbos Unsicherheiten auszunutzen. Tolkiens Drache reagiert nicht nur auf seine Umwelt, er besitzt in der Geschichte einen starken Willen, um eigenständig zu handeln. Sein Verhalten ist eigenständig und den anderen Figuren im Hobbit gleichgestellt.

Der Drache im Beowulf hingegen bleibt namenlos, die Erzählperspektive betrachtet den Drachen distanziert und führt ihn nur zum Zweck der Machtdemonstration des Königs ein. Der Kampf König gegen Drachen vollzieht sich in kurzen Zügen, und dient dem „Heldentod“ (B V.2842f.) Beowulfs, als ehrenvoller Abschluss des „Heldenleben[s]“ 15. Smaugs Tod hingegen beschäftigt sich nur mit Smaug, und offenbart die unterschiedlichen Gewichtungen der Drachen in beiden Erzählungen; der Drache im Beowulf ist Beowulf untergeordnet, Smaug im Hobbit ist die Ordnung, der sich die Erzählung anpasst.