Fiktion und Realität – Die Rolle der Monster im mittelalterlichen Weltbild

Während der Begriff Monster heutzutage vor allem in Bereichen der fiktionalen Literatur und Fantasy- oder Science-Fiction-Filmen verortet wird, hatten die damit bezeichneten Fabelwesen im Mittelalter noch einen festen Platz im Weltbild der Menschen, von denen deren Existenz keineswegs angezweifelt wurde. Wesen wie der Drache, der Phönix oder der Basilisk, die heute vor allem aus Erzählungen wie J.K. Rowlings Romanreihe über den Zauberer Harry Potter bekannt sind, fanden damals ihren Platz in Form eines für die Zeit gewöhnlichen lexikonähnlichen Eintrags in mittelalterliche naturgeschichtliche Quellen und waren dort neben Tieren wie der Natter und anderen Schlangenarten oder Vögeln wie dem Strauß oder Reiher zu finden.1 Das 2001 erschienene, ebenfalls dem Harry Potter-Universum entstammende Werk Fantastic Beasts and Where to Find Them ist an mittelalterlichen Bestiarien angelehnt. Zu Beginn findet sich dort der Abschnitt „A brief history of Muggle awareness of Fantastic Beasts“ 2, in dem die zentrale Thematik dieses Artikels auf ironische Art und Weise zum Tragen kommt:

Muggles have not always been ignorant of the magical and monstrous creatures […]. A glance through Muggle art and literature of the Middle Ages reveals that many of the creatures they now believe to be imaginary were then known to be real. 3

Wann und warum haben Menschen aufgehört, an Monster zu glauben? Die Tatsache, dass sich das frühere Verständnis dieses Begriffs in dieser Hinsicht so vom heutigen unterscheidet, bietet Anlass, die Rolle der Monster und Fabelwesen im mittelalterlichen Weltbild genauer zu untersuchen und die Frage zu erörtern, welche Stellung sie für den Menschen im Mittelalter einnahmen. Dazu soll im Folgenden zunächst die kulturhistorische Entwicklung des Monster-Motivs in mittelalterlichen Schriften und literarischen Werken von damals bis heute skizziert werden. Am Beispiel der Ebstorfer Weltkarte soll das mittelalterliche Weltbild erklärt werden; das Augenmerk liegt auf den dort eingetragenen Tierwesen und die Art ihrer Darstellung.

Entwicklung des Monster-Motivs vom Mittelalter bis heute

Bei der Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Texten wird schnell klar, dass das Motiv der Monster und Bestien in der älteren deutschen Literatur allgegenwärtig ist. In dieser Hinsicht scheint sie sich zunächst nicht von der heutigen Populärkultur zu unterscheiden: Wundersame Kreaturen wecken nach wie vor die Faszination für fiktionale Erzählungen. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zwischen den Monstern aus der mittelalterlichen und denen der zeitgenössischen Literatur: „Sie waren keine Fiktion (res fictae), sondern für die Zeitgenossen real (res factae).“ 4 Während zu Zeiten des Philosophen und Schriftstellers Aristoteles die Erwartung an den Künstler darin bestand, die Natur möglichst wahrheitsgetreu darzustellen, dabei aber alles Hässliche zu vermeiden oder in Schönes zu verwandeln, hielt bereits in der Spätantike diverses Monströses und Unschönes Einzug in die Literatur und wurde nicht länger außen vor gelassen.5 Diese Bewegung gipfelte in Reiseberichten des Mittelalters, in denen die Autoren die Existenz von außergewöhnlichen Tierwesen, die heute als fiktiv bezeichnet würden, als Augenzeugen bestätigten.6 Ein wichtiger Wendepunkt in der Entwicklung zum heutigen Monster-Begriff  setzt gegen Ende des Mittelalters ein, indem sich der Wahrheitsanspruch mit karikaturhaften Darstellungen vermischt oder die Monster „nur noch“ als Metaphern fungieren.7

Sie behalten zwar ihre Stellung als Gegenstand der Faszination, verlieren aber langsam ihren Status als Geschöpfe Gottes und Teil der ordo-Konzeption. Vielmehr werden sie zu Fabelwesen, Produkten der menschlichen Vorstellungskraft oder Unwissenheit, deren Existenz nicht wörtlich zu nehmen ist.8

In der Literatur der Romantik lebt das Motiv der Andersartigkeit und Monstrosität dann zwar wieder auf, ist jedoch auch hier einer eher metaphorischen Ebene zuzuordnen und dient als faszinierende Darstellungsart des menschlichen Innenlebens oder auch als Rebellion gegen die klassizistische Strömung.9

Die Monster genossen im Mittelalter noch einen anderen Stellenwert im Weltbild als es im gegenwärtigen Verständnis der Fall ist. Welche Rolle sie genau einnahmen, gilt es in den folgenden Erläuterungen zu beleuchten. Dabei liegt der Fokus auf tierähnlichen Fabelwesen, wie es die zu Beginn genannten Beispiele sind, nicht etwa auf menschlichen Monstern.

Das mittelalterliche Weltbild

Die Ebstorfer Weltkarte ist die „größte[…] aus dem Mittelalter überlieferte[…] Mappa mundi10 und gilt als Denkmal und Repräsentant eines mittelalterlichen Weltbildes.11 Charakteristisch für dieses Weltbild ist zum Beispiel die runde Form der Erde, die obige Ausrichtung zum Osten anstatt wie heutzutage zum Norden und die Dreiteilung. Der Mensch im Mittelalter erkannte Asien, Europa und Afrika als die drei zentralen Erdteile an, die auf der Karte in einer T-Form angeordnet sind.12 Asien liegt östlich von Afrika und Europa und nimmt so viel Platz ein wie die anderen beiden Kontinente zusammen. Diese in der Forschung als T-O-Schema bezeichnete Darstellung wird in der Außenlegende der Karte erklärt.13 Bei der Ebstorfer Weltkarte handelt es sich aber nicht um eine um Korrektheit bemühte Abbildung der geografischen Informationen, die der Mensch im Mittelalter hatte; sie enthält viele weitere Details und Darstellungen, die Aufschluss über die mittelalterliche Weltanschauung geben, in der allem voran nicht nur die christliche Religion, sondern auch Monster und Tiere oder tierähnliche Wesen eine wichtige Rolle spielen. Neben den Zeichnungen der Tiere befinden sich außerdem jeweils kurze Beschreibungen auf der Karte, die Details zu den damals vorherrschenden Vorstellungen von Monstern enthalten: „In der Regel wirken bei der Darstellung eines Tieres Bild, beigeschriebener Eigenname und eingeschriebene oder in den äußeren Zwickeln beigefügte Legende zusammen.“14.

Wie die Abbildungen 1.)15 und 2.)16 zeigen, sind auf der Karte beispielsweise auch die bereits eingangs erwähnten Fabelwesen Phönix und Basilisk platziert.

Abb. 1.) Der Phönix auf der Ebstorfer Weltkarte

Die Abbildungen und Legenden der Monster legen den Fokus auf „arttypisches Verhalten und Handeln, so wie es in enzyklopädischer Tradition überliefert ist“.17 So stellt die Abb. 1.) dar, wie der Phönix in seinem eigens angefachten Feuer verbrennt und links daneben als junger Vogel aus der Asche wieder aufersteht.18

Abb. 2.) Der Basilisk auf der Ebstorfer Weltkarte

Die Darstellung des Basiliscus unterscheidet sich schon deutlich mehr von dem Basilisk aus Harry Potter: Er ist ein verhältnismäßig kleines Mischwesen aus Hahn und Schlange und gilt dennoch als der König der Schlangen, was die Krone auf seinem Haupt verdeutlicht.19 Die Darstellungen und Explikationen für die Fabelwesen sind an mittelalterliche Bestiarien und Enzyklopädien wie die des Isidor von Sevilla20 angelehnt und können damit als exemplarisch für die Vorstellung über die (Tier-) Weltordnung im Mittelalter bezeichnet werden.

Stellenwert der Monster: Ein Fazit

Zwar wurde schon bei vereinzelten Darstellungen auf der Ebstorfer Karte in der Forschung eine metaphorische Deutungsmöglichkeit ausgesprochen, die vermuten lässt, dass die Kampfszenen der Tiere eine Anspielung auf die Kreuzzüge seien, diese These lässt sich jedoch nicht eindeutig verifizieren.21 Dagegen ist mit Sicherheit zu bestätigen, dass die Mappa mundi „ein enzyklopädisches Buchprogramm in ein programmatisches Schaubild aus Bildern und Texten um[setzt]“.22 Jedoch spielt allen voran auch der christliche Glaube eine immense Rolle bei der Darstellung der Tier- und Monsterwelt und bietet zugleich eine Erklärung dafür, warum auch Letztere im Mittelalter als existent und zur Weltordnung gehörend angesehen wurde:

Die […] Absicht, gerade den unbekannten Tieren ihren Raum zu widmen, ist motiviert durch das Ziel, in aller Fülle Tiere und dazu auch tierische Monstra und wundersame Völkerschaften wie auf einem Schöpfungsbild wahrnehmbar zu machen, damit sie die mirabilia [mittellat.: Wunder(ding)23 – Anm. der Verf.] der Schöpfung und die admirabilia [Bewunderungswürdigkeit; lat. admirabilis: bewundernswert24 – Anm. der Verf.] des Schöpfers bezeugen.25

Was bedeutet das alles also für die eingangs formulierte Fragestellung, welchen Stellenwert die Monster für den Menschen im Mittelalter einnahmen? In der älteren deutschen Literatur können sie eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen erfüllen und dienen meist auf eine bestimmte Art dazu, den Helden der Geschichte durch spektakuläre aventiure bis an sein Ziel zu bringen. Insgesamt wurden die hier behandelten Fabelwesen und Monster aber als reale Lebewesen der Tierwelt mit besonderen und daher faszinierenden Attributen wahrgenommen, sozusagen als Zeugnisse für die bemerkenswerte Schöpfungskraft Gottes.

Um weiter zu erforschen, wie es sich mit der Entwicklung der damaligen zur heutigen Monster-Darstellung genau verhält, lohnt es sich Einzelfälle zu betrachten, bei denen es zu einem Monster aus dem Mittelalter ein modernes Pendant gibt: So lassen sich zum Beispiel Parallelen zwischen dem im altenglischen Heldenepos Beowulf auftauchenden Biest Grendel und dem aus J.R.R. Tolkiens berühmtem Herr der Ringe-Universum bekannten Wesen Gollum feststellen. Ebenso lässt sich in Teilen nachvollziehen, wie das Einhorn aus dem Mittelalter, welches traditionell als Ziegenmischwesen dargestellt wurde, sich in der Zeit bis heute zum Sinnbild für Glück und Harmonie und damit einhergehend zur Verkaufsförderungsmaßnahme der Marketingbranche entwickelt hat.

Für die Monster-Forschung gibt es durch die gesamte deutsche Literaturgeschichte hindurch erstaunlich viel zu entdecken. Dieser Blog lädt Sie herzlich dazu ein, für eine Zeit in die Welt der Monster und Fabelwesen einzutauchen!

  1. Vgl. Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Übers. v. Lenelotte Müller. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008, S. 463 und 480.
  2. Rowling, J.K.: Fantastic Beasts and Where to Find Them. London: Bloomsbury 2001, S. 24-28.
  3. Rowling: Fantastic Beasts and Where to Find Them, S. 24f.
  4. Hacke, Simone: Der Reiseweg des Herzog Ernst auf der Ebstorfer Weltkarte, in: ZfdA 146,1 (2007), S. 54-69 (hier S. 57) – Hervorhebung im Original.
  5. Vgl. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen: Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2013, S. 1f.
  6. Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 3.
  7. Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 4.
  8. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 4.
  9. Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 5.
  10. Hacke: Der Reiseweg des Herzog Ernst auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 54.
  11. Vgl. Hacke: Der Reiseweg des Herzog Ernst auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 54-56.
  12. Vgl. Hacke: Der Reiseweg des Herzog Ernst auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 57.
  13. Vgl. Kugler,Hartmut (Hg.): Die Ebstorfer Weltkarte. Kommentierte Neuausgabe in zwei Bänden. Unter Mitarbeit von Sonja Glauch und Antje Willing. Digitale Bildbearbeitung Thomas Zapf. Bd. I: Atlas, Bd. II: Untersuchungen und Kommentar. Berlin 2007, S. 15.
  14. Ruberg, Uwe: Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik. In: Kugler, Hartmut (Hg.): Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft mbH 1991, S. 319-346 (hier S. 324).
  15. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/39/Ebstorfer-stich2.jpg(gesehen: 10.07.2018).
  16. Ebd.
  17. Ruberg: Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 328.
  18. Vgl. Ruberg: Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 328f.
  19. Vgl. Ruberg: Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 334.
  20. Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla. Übers. v. Lenelotte Müller. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008.
  21. Vgl. Ruberg: Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 330-333.
  22. Vgl. Ruberg: Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 346.
  23. Vgl DUDEN Online-Wörterbuch, https://www.duden.de/rechtschreibung/Mirabilien(gesehen: 13.07.18).
  24. Vgl DUDEN Online-Wörterbuch, https://www.duden.de/rechtschreibung/admirabel(gesehen: 13.07.18).
  25. Ruberg: Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte, S. 346.

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