Die Funktion der übermenschlichen Kräfte im Nibelungenlied

Das Nibelungenlied ist eines der bedeutendsten Werke der deutschen Literatur des Mittelalters. Der Recke Siegfried verlässt das Land seiner Eltern in Xanten und damit beginnt die Geschichte des Nibelungenlieds. Er wirbt im Burgundenland um die schöne Königin Kriemhild, gewinnt sie für sich und findet schließlich seinen Tod durch die Hand Hagens. Seine Witwe Kriemhild beschließt seinen Tod zu rächen und ihr Handeln nimmt dabei monströse Ausmaße an, wie hier genauer nachzulesen ist.

Dieser Blogartikel möchte sich mit einer weiteren Figur des Nibelungenliedes beschäftigen: mit der Frau des Königs Gunther, Brünhild. In einem ersten Schritt soll dabei genauer betrachtet werden, inwieweit Brünhild als Monster verstanden werden kann. Anschließend soll der Fokus darauf liegen, wieso diese Monstrosität für den Verlauf des Nibelungenliedes von zentraler Bedeutung ist.

Definition des Monsterbegriffs

Um zunächst untersuchen zu können, ob Brünhild monströse Eigenschaften an den Tag legt, muss der Begriff des Monsters definiert werden. Dazu wird die Definition des französischen Diskurstheoretikers Michel Foucault herangezogen, die bereits für die Untersuchung der Figur Kriemhild verwendet wurde und hier noch einmal nachzulesen ist.

Monstrosität der Brünhild

Um zu untersuchen, inwieweit diese Definition auf Brünhild zutrifft, soll ihre erste Beschreibung im Nibelungenlied aufgegriffen werden. In der sechsten Aventiure des Nibelungenliedes wird sie wie folgt beschrieben:

E(z was ein) kuneginne gesezzen uber sê,
ir gelîche enheine man wesse nider mê,
diu was unmâzen schoene. Vil michel was ir kraft.
si schôz mit snellen degenen umb minne den schaft.

Den stein, den warf si verre, dar nâch si wîten spranc.
swer ir minne gerte, der muose âne wanc
Driu spil angewinnen der frouwen wolgeboren.
gebrast im an dem einem, er hete daz houbet sîn verloren. 1

Zu dieser Darstellung Brünhilds sagt Winder McConnell: »Brunhild’s habit of killing unsuccessful aspirants, an act inherently demonic in its nature, stamps her as a figure of the Other World«. 2Und tatsächlich scheint Brünhilds Stärke und Kraft übernatürlich zu sein. Selbst Siegfried, der mit seiner Stärke und Tapferkeit schon Drachen besiegt hat, braucht einen Tarnumhang, der ihm die Kraft von 12 zusätzlichen Männern verleiht, um Brünhild zu besiegen, wie nachfolgend deutlich wird.

Alsô der starke Sîvrit di tarnkappen truoc,
sô het er dar inne krefte genouc:
wol zwelf manne sterke zuo sîn selbes lîp.
Er warp mit grôzen listen daz vil hêrliche wîp. 3

Die andere Welt, die McConnell beschreibt, scheint sich in ihrer Ordnung grundlegend von der Ordnung des Burgundenlandes zu unterscheiden. Auf Isenstein regiert Brünhild mit ihrer übernatürlichen Macht. Hierzu führt Classen aus:

„[…]es handelt sich nicht bloß um eine komische Auseinandersetzung zwischen einem »Teufelsweib« und dem schwächlichen König Günther, sondern vielmehr um eine solche tiefschichtiger Art zwischen einer männlichen und einer weiblichen Kulturform, zwischen Matriarchat und Patriarchat […]“ 4

Beziehen wir diese Beschreibungen der Brünhild nun auf die eingangs herangezogene Definition des Monströsen von Foucault, lässt sich durchaus argumentieren, dass Brünhild als Monster oder übernatürliches Wesen verstanden werden kann. Aus der Perspektive der Burgunden bricht sie durch die Tatsache, dass sie als Frau unabhängig von einem Ehemann ein Land regiert und Befehle an Gefolgsleute erteilt, mit den Gesetzen der Gesellschaft und der Natur. Das Verständnis der höfischen, gesellschaftlichen Ordnung der Burgunden wird durch die Existenz Brünhilds auf den Kopf gestellt.

Darüber hinaus besitzt Brünhild Kräfte, die weit über das Menschliche hinausgehen. Sie wirft Steine weiter, als jeder andere, springt diesen mühelos hinterher und händelt Schwert und Schild, die ihr nur durch die gebündelte Kraft zahlreicher Gefolgsleute angereicht werden können, mühelos. 5 Ihr Umgang mit erfolglosen Eheanwärtern nimmt laut McConnell dämonische Ausmaße an und macht sie zu einer Figur einer anderen Welt. 6

Funktion der übermenschlichen Kräfte im Nibelungenlied

Im Folgenden soll untersucht werden, welche Funktion Brünhild mit ihrer übermenschlichen Kraft und ihren dämonischen Zügen für den Verlauf des Nibelungenlieds hat. Wie bereits beschrieben, beginnt die Geschichte mit dem Aufbruch Siegfrieds in das Burgundenland. Brünhild scheint für die Geschichte eine ebenso zentrale Rolle zu spielen und leitet durch ihre Monstrosität immer wieder neue Wendungen ein.

Zuerst ist der Sieg über Brünhild für das Glück Siegfrieds und Kriemhilds zentral. Der Erfolg der Brautwerbung Gunthers um Brünhild, ist die Voraussetzung der Hochzeit zwischen Siegfried und Kriemhild. So fordert Siegfried von Gunther:

(D)es antwurte Sîvrit, der Sigmundes sun:
„gîstu mir dîne swester, sô will ich ez tuon,
di schoenen Kriemhilde, ein kuneginne hêr.
sô ger ich deheines lônes nâch mînen arbeiten mêr.“

„Daz lob ich“, sprach dô Gunther, „Sîvrit, an dîne hant.
und kumt diu schoene Brünhilt her in ditze lant,
sô will ich dir ze wîbe mîne swester geben.
sô mahtu mit der schoenen immer vroeliche leben.“ 7

Das Bezwingen der übermenschlichen Kräfte Brünhilds, ist für Siegfried der Schlüssel zum Glück, also zu seiner Hochzeit mit Kriemhild. Wie bereits beschrieben, muss er sich dazu jedoch seines Tarnumhangs und damit einer List bedienen. Schon an diesem Punkt sagt der Erzähler der Sage großes Unglück voraus. 8  Selbst nachdem Siegfried Brünhild im Kampf besiegt und sie sich anschließend dazu bereit erklärt Gunther und seinen Gefolgsleuten in das Burgundenland zu folgen, sind ihre Kräfte weiterhin übermenschlich und sie reiht sich keinesfalls in die gesellschaftliche Ordnung des Burgundenlandes ein. Sie erscheint an diesem Punkt weiterhin willensstark und ungezähmt. Brünhild wittert bereits den Betrug, der an ihr begangen wurde. Dieser Verdacht verstärkt sich, als sie die Vermählung zwischen Siegfried und Kriemhild beobachtet:

Der kunic was gesezzen unt Brünhilt diu meit.
dô sach si Kriemhilde, dône wart (ir) nie sô leit,
bî Sîfride sitzen. weinen si began.
ir vielen heize trehene uber liehtiu wange dan.

Dô sprach der wirt des landes: „vil liebiu vrouwe mîn,
war umbe lât ir trüeben vil liehter ougen schîn?
ir muget iuch vreun balde. Iu ist undertân
mîn lant unt mîne burge unt manic waetlicher man.“

„Ich mac wol balde weinen“, sprach diu schoeniu meit.
„umb dîne swester ist mir von herzen leit.
di sihe ich nâhen sitzen dem eigenholden dîn.
daz muoz ich imer weinen, sol si alsô verderbet sîn.“ 9

Als Gunther im Anschluss versucht seiner Ehefrau die Jungfräulichkeit zu nehmen und sie ihn zurückweist, zeigt sich abermals Brünhilds übernatürliche Kraft. Nach einer weiteren seiner körperlichen Annäherungen, hängt sie den König kopfüber an die Wand, um ihre Jungfräulichkeit zu schützen. Nur solange Brünhild unberührt bleibt, bleibt ihre übermenschliche Stärke bewahrt. Solange sie ihren eben bereits erwähnten Verdacht nicht aus der Welt geschafft hat, möchte sie daher jungfräulich bleiben. 10

Gunther benötigt abermals Siegfrieds versteckte Hilfe, um seine Frau zu bändigen. Nur mit Hilfe des Tarnmantels (vorher noch Tarnumhang) gelingt es den beiden Männern Brünhild zu überwältigen und zu bezwingen. Es wird also wiederum deutlich, dass sich die monströsen Kräfte Brünhilds nur durch ein magisches Hilfsmittel bezwingen lassen. 11

Dies ist eine Stelle des Nibelungenliedes, an der die Monstrosität der Brünhild eine zentrale Rolle spielt, denn nur durch eine List ist ihre übermenschliche Kraft zu besiegen. Damit leitet der zweite Betrug an Brünhild eine Wendung in der Handlung ein. Lienert schreibt dazu: „Die Katastrophe des Nibelungenliedes wurzelt nicht in strukturellen Mißverhältnissen, sondern im Werbungs- und Brautnachtbetrug an Brünhild.“12 Damit macht sie deutlich, wie zentral diese beiden Stellen für den Verlauf des Werkes sind. Die Monstrosität der Brünhild, die bezwungen werden muss, ist in diesem Zusammenhang elementar.

Brünhild erfährt einige Aventiuren später von Kriemhild von dem Betrug um das Abhandenkommen ihrer Jungfräulichkeit und es entsteht eine verbitterte Feindschaft zwischen den beiden Frauen. Von dieser List und der Feindschaft der Königinnen, berichtet Brünhild anschließend Hagen von Tronje. Betrogen und ihrer monströsen Kraft auf unrechtsame Weise beraubt, entschließt sie sich gemeinsam mit Hagen an Siegfried zu rächen.

Er vrâgete, waz ir waere. weinende er si vant.
dô sate si im diu maere. er lobt ir sâ zehant,
daz ez erarnen müese der Kriemhilde man,
oder er wolde nimmer dar umbe vrôlich gestân.
Zuo der rede kom dô Ortwîn unt Gêrnôt,
dâ di helde rieten den Sîfrides tôt.[…] 13

Es sind die inzwischen abhandengekommenen magischen Kräfte und der entdeckte Betrug, die zu dem Entschluss führen Siegfried zu töten. Die nun nicht mehr vorhandenen monströsen Kräfte der Brünhild führen also dazu, dass das Nibelungenlied seinen entsprechenden Verlauf nimmt.

Interessant ist, dass Brünhild nach diesem zentralen Wendepunkt bis auf einige kleinere Erwähnungen im Verlaufe des Nibelungenliedes nicht mehr vorkommt. Es scheint, als hätte sie mit dem Abhandenkommen ihrer Monstrosität auch keinerlei Funktion für den Verlauf des Epos mehr.

Fazit

Es lässt sich also zusammenfassen, dass die Monstrosität Brünhilds vor allem in ihrer übermenschlichen Kraft und (Willens-)stärke begründet liegt. Auf Isenstein lässt die mächtige Königin mit übermenschlichen Kräften jeden, der um ihre Hand anhalten will, sie im Wettkampf allerdings nicht besiegen kann, hinrichten. Diesen Akt beschreibt McConnell als „inherently demonic in its nature“. 14

Die übermenschliche Stärke und Kraft der Brünhild sind dabei für den Verlauf des Nibelungenliedes immer wieder von zentraler Bedeutung. So kann die Königin zweimal nur unter Zuhilfenahme eines magischen Tarnumhangs besiegt werden. Dabei ist der erste Sieg über Brünhild Voraussetzung für die Vermählung der beiden Hauptfiguren Siegfried und Kriemhild und damit zentral für die anschließende Handlung.

Ebenso zentral ist der zweite Betrug an Brünhild, wobei ihr wiederum unter Zuhilfenahme des magischen Tarnumhangs ihre Jungfräulichkeit und damit ihre übernatürliche Kraft genommen wird. Diese Aufhebung des Übermenschlichen und der damit verbundene Betrug, führen zu dem Entschluss Hagens, Siegfried zu töten. Der Tod Siegfrieds leitet damit inhaltlich einen neuen Teil des Nibelungenliedes ein, in dem Kriemhild beschließt sich zu rächen und ihre höfischen Umgangsformen und die gesellschaftlichen Erwartungen an sie darüber vergisst. Hier ist also die inzwischen abhanden gekommene Übermenschlichkeit Brünhilds der Ausgangspunkt für eine inhaltliche Wendung.

Es ist also deutlich geworden, dass die übermenschlichen Fähigkeiten Brünhilds für die Handlung des Nibelungenliedes von zentraler Bedeutung sind.

Ikonografische Differenzen der Basilisken-Darstellung in J.K. Rowlings Harry Potter-Universum und der Ebstorfer Weltkarte

Die Darstellung des Basilisken als Schlangenwesen in J.K. Rowlings Harry Potter-Universum und ihre intertextuellen Bezüge

Wie bereits im ersten Artikel zum Basilisken erläutert, stellt der Basilisk in J.K. Rowlings Harry Potter-Universum ein übergroßes, monströses Schlangenwesen dar. In Harry Potter and the Chamber of Secrets (1998) wird er als „snake, which may reach gigantic size“14 beschrieben und in Fantastic Beasts and Where to find them (2001) als „brilliant green serpent that may reach up to fifty feet in length”.15 In der Ausgabe von Fantastic Beasts and Where to Find Them von 2017 ist der Eintrag zum Basilisken zudem mit einer antikisierenden Illustration versehen, die den Basilisken ebenfalls als übergroße Schlange darstellt.16 Der Topos des Basilisken als Schlange geht, wie im ersten Artikel zum Basilisken bereits herausgestellt wurde, bis auf die Antike zurück und findet auch im Mittelalter seine Kontinuitäten. Er findet sich u.a. in Schriften von Plinius dem Älteren, sowie bei Solinus, des Weiteren in den mittelalterlichen Etymologiae von Isidor von Sevilla und in erzählenden mittelalterlichen Literaturen. Während der Basilisk bei eben jenen noch eindeutig als Schlangenart identifiziert wird, finden sich auf karolingischen Elfenbeinbuchdeckeln aus dem 9. Jahrhundert Darstellungen des Basilisken als Mischwesen aus Hahn und Schlange.  17Diese alternative Ikonografie des Basilisken als Mischwesen findet sich ebenfalls auf der Ebstorfer Weltkarte wieder. Doch wie kam es zu diesen ikonografischen Differenzen? Im Folgenden soll anhand von mehreren Beispielen aus der mittelalterlichen Literatur die Bedeutungsgeschichte des Basilisken als Mischwesen skizziert und Ansätze zur Erklärung der alternativen Ikonografie aufgezeigt werden.

Abb. 1: Detail des Elfenbeineinbandes eines Codex aus der Abtei St. Faro bei Meaux, um 800. Oxford, Bodleian Library (nach Goldschmidt, Adolph: Die Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen und sächsischen Kaiser. 8–11. Jahrhundert, Berlin 1914)

Der Basilisk auf der Ebstorfer Weltkarte

Die Ebstorfer Weltkarte wird um das 13. Jahrhundert datiert. 18 Auf der Karte ist ein schwarzes Wesen zu sehen, das primär einem Hahn ähnelt und dessen Rumpf in einen schlangenartigen Schwanz übergeht.19 Daneben befinden sich Darstellungen einer Natter und eines Drachen, sowie ein Flussbild, welches den Unterlauf des Nils darstellt.20 Die Abbildungen sind mit lateinischen Inschriften versehen, die übersetzt lauten:

AZANICUS oceanus, j. Golf von Aden.
Drache.
Natter.
Basilisk.

In dieser Gegend kommt der Basilisk vor, ein auf Erden einzigartiges Untier. Es ist eine Schlange von einem halben Fuß Länge und hat etwas wie eine weiße Binde um den Kopf. Er bewegt sich mit der Körpermitte vorwärts, der übrige Körper bleibt starr aufgerichtet.21

Die Inschrift verhält sich hier also fast schon konträr zur bildlichen Darstellung. Es werden zudem intertextuelle Bezüge zu Plinius deutlich, der den Basilisken ebenfalls als Schlange, zwar nicht mit einer weißen Binde, jedoch mit einem „weißen Fleck“, beschreibt, „der ihn wie ein Diadem schmückt“.22 Darüber hinaus bewegt sich der Basilisk bei Plinius ebenfalls aufrecht fort.23 Kugler führt zudem Isidors Etymologiae als eine der Hauptquellen für die Ebstorfer Weltkarte an, die auf der Karte explizit zitiert werden.24 Für Kugler kommen auch literarische Quellen, wie der Alexanderroman, für die Karte in Frage. 25 Jedoch erklären diese Quellen nicht die Darstellung des Basilisken als Mischwesen aus Hahn und Schlange.

Abb. 2: Detail der Ebstorfer Weltkarte mit Basiliskendarstellung

Der Basilisk als Mischwesen und seine alternative Ikonografie

Der Hahn und der Basilisk treten bereits in den antiken Schriften De natura animalium von Claudius Aelianus (ca. 170-222)26 gemeinsam auf. Dort wird der Hahn allerdings als Schutz vor dem Basilisken beschrieben – der Basilisk fürchte den Hahn und sterbe durch sein Krähen:

Der Löwe fürchtet sich vor dem Hahn. Auch der Basilisk, heißt es, schaudert vor ihm, zittert bei seinem Anblick, und bei seinem Krähen verfällt er in Krämpfe und stirbt. Die Kaufleute, die durch Libyen reisen, wo besagter Basilisk lebt, den sie fürchten, nehmen als hilfreichen Reisebegleiter einen Hahn mit. Der hält ihnen diese Gefahr fern.27

Hier findet sich wiederum eine Parallele zum Harry Potter-Universum, da Ginny Weasley unter dem Bann von Tom Riddle, dem Erbe Slytherins und Herrscher über den Basilisken, Hähne tötet, die dem Basilisken gefährlich werden könnten. 28 Darüber hinaus findet sich auf der zusammengeknüllten Buchseite, die Ron und Harry in Hermines versteinerter Faust finden, die Information „the Basilisk flees only from the crowing of the rooster, which is fatal to it“.29

Der Kirchenschriftsteller Johannes Cassianus aus dem 4. Jahrhundert stellte in seiner Schrift De incarnatione Christi contra Nestorium heraus, dass es Geburten gäbe, die innerhalb der Natur, aber außerhalb ihrer Gesetze stattfänden.30 In diesem Zusammenhang versieht er die Geburt einer Schlange, namentlich die des Basilisken, aus einem Ibisei mit dem Prädikat „unbezweifelbar“: „ex ouis uolucrum, quas in Aegypto hibes uocant, basiliscos serpentes gigni indubitabile est.“ 31 („aus den Eiern der Vögel, die in Ägypten Ibisse heißen, entstehen ohne Zweifel Basiliskenschlangen“32). Die Theorie von der Geburt des Basilisken aus einem nur in Ägypten anzutreffenden Ibisei wurde bald durch die Theorie von der Geburt des Basilisken aus dem Ei eines sieben-, neun- oder 14-jährigen Hahnes ersetzt, was zur Folge hatte, dass das Vorkommen des Basilisken sich nun nicht mehr nur auf Afrika beschränkte.33

Die Theorie von der Geburt des Basilisken aus einem Hahnenei hatte jedoch nicht nur Befürworter. Bereits Albertus Magnus versuchte vergeblich in seinem Sammelwerk De animalibus, was er vermutlich 1258-1263 schrieb, 34 diese Theorie aus der Welt zu schaffen:

Some say as well that there is a particular genus of basiliscus that flies, but I have not read about this in the books of the wise philosophers. Some also say that it is born from the egg of a cock, but this is most surely false and impossible. When Hermes teaches that the basiliscus generates in a glass container, he does not mean the true basiliscus but rather a certain elixir used in alchemy by means of which metals are changed.35

Besonders interessant ist hier, dass Albertus Magnus einen fliegenden Basilisken erwähnt, dessen Existenz er jedoch nicht durch die weisen Gelehrten bestätigt sieht. Dies könnte ein Hinweis auf die Vorstellung vom hahnenähnlichen Basilisken sein.

Hildegard von Bingen hingegen beleuchtete im 8. Buch ihrer Physica, welche wohl 1151-1158 entstand, 36 die Geburt des Basilisken aus der Sicht der Kröte und festigte damit die Theorie von der widernatürlichen Geburt des Basilisken, egal ob aus einem Hühner-, Hahnen- oder Schlangenei:

Der Basilisk entsteht aus gewissen Würmern, die etwas von teuflischen Künsten in sich haben, nämlich wie die Kröte. Denn wenn die Kröte manchmal trächtig ist, und wenn sie befruchtet ist, so daß sie ihre Jungen erzeugt, wenn sie dann das Ei einer Schlange oder eines Huhns sieht, dann liebt sie es und breitet sich darüber aus und brütet, bis sie ihre Jungen, die sie auf natürliche Weise empfangen hat, gebiert. Nachdem sie dieselben geboren hat, sterben sie sogleich, und wenn sie dieselben tot sieht, legt sie sich wieder auf das Ei und bebrütet es, bis die Jungen in dem Ei zu leben beginnen. Und alsbald berührt sie von der teuflischen Kunst der alten Schlange eine Kraft, die auch im Antichristen ruht, so daß, wie jener allem Himmlischen Widerstand leistet, auch dieses Tier allen Sterblichen widerstreitet, indem es sie tötet. Aber nachdem die Kröte gemerkt hat, daß es im Ei lebt, staunt sie sogleich über (ihre) unrechte Gewohnheit und flieht. Und dieses (Tier) zerbricht die Schale seines Eies und kriecht heraus, und in seiner Natur stößt es einen sehr starken Hauch aus, der in sich ein sehr herbes und starkes Feuer hat, das auch ohne Höllenqualen sein kann, ähnlich dem Blitz und dem Donner. Nachdem aber (der Basilisk) aus seinem Ei ausgeschlüpft ist, spaltet er alsbald durch die Stärke seines Hauches die Erde beinahe bis zur Tiefe von fünf Ellen, und dort liegt er in feuchter Erde, bis er zu seiner Reife herangewachsen ist. Dann steigt er hinauf zur Erde und tötet mit seinem Hauch alles, was er lebend findet, denn er will und kann nichts Lebendiges dulden.37

Da man in kritischen Kreisen die Genese des Basilisken „aus dem Ei von Federvieh verworfen hatte, konnte sich auch die Stiefmutterschaft der Kröte nicht durchsetzen“. 38 Trotzdem behielt die Vorstellung vom Basilisken als monströses Mischwesen aus Hahn und Kröte ihren Reiz und führte zu einer alternativen Ikonografie des Basilisken. 39  In diese konnten traditionell antike Elemente, sofern sie nicht den Phänotyp des Basilisken betrafen, eingebunden werden. 40 Gleichzeitig findet sich bei Hildegard von Bingen auch womöglich die Inspiration für J.K. Rowlings Basilisk, „[which] is born from a chicken’s egg [and] hatched beneath a toad“.41 Welche Entwicklungen explizit für die alternative Ikonografie ausschlaggebend waren, müsste noch genauer untersucht werden. Jedoch wird deutlich, dass die bildliche Darstellung des Basiliken als Mischwesen aus Schlange und Hahn sich auch in der mittelalterlich naturgeschichtlichen Literatur in Ansätzen widerspiegelt.

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Abb. 1: Schulze-Dörrlamm, Mechthild: Das Steinerne Monument des Hrabanus Maurus auf dem Reliquiengrab des hl. Bonifatius († 754) in Mainz, unter: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/jahrb-rgzm/article/viewFile/21076/14846, S. 314 [gesehen am 20.08.2018].

Abb. 2: http://www.uni-lueneburg.de/hyperimage/EbsKart/start.html, [gesehen am 20.08.2018]. Weitere Darstellungen unter http://bestiary.ca/beasts/beastgallery265.htm#.

Die Bedeutung von Tierkämpfen in der mittelalterlichen Literatur im Vergleich mit Harry Potter

Am Ende des zweiten Buches der Harry-Potter-Reihe mit dem Titel Harry Potter and the Chamber of Secrets  kommt es zu einem entscheidenden Kampf zwischen dem Phönix Fawkes, dem Haustier des Schulleiters Albus Dumbledore, und dem Lord Voldemort gehorchenden Basilisken. Hierbei tragen die Tierwesen ihr Kräftemessen nicht nur stellvertretend für ihre Besitzer aus, vielmehr geht es dabei um den Kampf zwischen Gut und Böse. Dieses Phänomen besteht nicht erst seit der Veröffentlichung der britischen Fantasy-Reihe, sondern bedient sich vermutlich der zahlreichen abendländischen Vorlagen, in denen „gute“ oder „edle“ Wesen gegen „böse“ oder „niedere“ kämpfen und dabei als Metaphern auf den Antagonismus zwischen Gott und Teufel, Himmel und Hölle hinweisen.
So auch im klassischen höfischen Artusroman „Iwein“ des mittelhochdeutschen Dichters Hartmann von Aue, anhand dessen im nachfolgenden Blogeintrag in Hinblick auf den Kampf zwischen dem Löwen und dem Drachen ein Vergleich zu Joanne K. Rowlings Version in der Kammer des Schreckens gezogen wird.

Vogel gegen Schlange

Nachdem bereits im Blogeintrag zum Phönix dessen äußerliche Merkmale und wesensbeschreibenden Eigenschaften behandelt wurden, ist bekannt, dass Phönixe in der von Joanne K. Rowling geschaffenen Zaubererwelt als treue Haustiere fungieren können.
So entschloss auch Fawkes sich offenbar, bei Albus Dumbledore zu bleiben und wohnt seither im Büro des Schulleiters. Am Ende des Buches Harry Potter and the Chamber of Secrets stellt der Vogel dann seine Treue zu seinem Besitzer unter Beweis. Er erscheint in der Kammer des Schreckens, in dem Moment, als Harry Tom Riddle, der jugendlichen Version des später gefürchteten Zauberers Lord Voldemort, verbal die Stirn bietet, indem er verkündet, dass Albus Dumbledore der größte Zauberer aller Zeiten sei.[1] Damit beweist er ebenfalls seine unerschütterliche Treue zu seinem Mentor. Fawkes bringt ihm daraufhin den Sprechenden Hut (Sorting Hat)[2], in dem im weiteren Verlauf des vorletzten Kapitels des Buches ein Schwert erscheint, mit dem Harry sich verteidigen kann. Als Tom Riddle nach dem Auftauchen des Phönix‘ dann das in der Kammer wohnende Monster, den Basilisken, herbeiruft und ihm befielt, Harry zu töten[3], interveniert der Phönix und verletzt die Augen der Riesenschlange so sehr, dass sie erblindet und somit ihr tödlicher Blick Harry nichts mehr anhaben kann:

„Fawkes was soaring around its head, and the Basilisk was snapping furiously at him with fangs long and thin as sabres. Fawkes dived. His long golden beak sank out of sight and a sudden shower of dark blood spattered the floor. […] Harry looked straight into [the basilisks] face, and saw that its eyes […] had been punctured by the phoenix […].“[4]

Tom Riddle versucht daraufhin, die Aufmerksamkeit des Basilisken wieder auf die Beseitigung Harrys zu lenken und den Vogel zu ignorieren: „Leave the bird! Leave the bird! The boy ist behind you! You can still smell him! Kill him!“[5] Der Basilisk missachtet den Befehl und versucht, seines Augenlichts beraubt und verwirrt, sich gegen die andauernden Attacken des Vogels zu wehren, welcher unablässig seinen Kopf umkreist, und nun auch mit seinem Schnabel auf das Riechorgan des Kontrahenten einsticht. Bei genauerer Betrachtung dieser Szene fällt auf, dass nur Tom Riddle seinem ihm untergebenen Tierwesen Anweisungen gibt und es somit bewusst in seinem Namen kämpfen lässt. Harry hingegen wird von dem Phönix lediglich beschützt, gibt ihm seinerseits aber keine Befehle. Dies hängt, neben Harrys Überforderung in der Situation, vermutlich auch damit zusammen, dass der Vogel nicht ihm direkt untersteht. Er verteidigt Harry lediglich aufgrund seiner Treue zu Dumbledore.

Der Kampf in der Kammer des Schreckens, Jennie Huggins Illustration: https://www.deviantart.com/jenhuggybear/art/The-Chamber-of-Secrets-567376737 (zuletzt aufgerufen 10.09.2018)

Als Harry nun das besagte Schwert entdeckt, übernimmt er selbst den aktiv kämpfenden Part und Fawkes findet erst wieder Erwähnung, nachdem Harry den Basilisken getötet hat und an seiner im Kampf entstandenen Wunde durch einen Zahn der Schlange, zu sterben droht.
Der Phönix heilt die Verletzung durch seine Tränen: „[…] and there was Fawkes, still resting his head on Harry’s arm. A pearly patch of tears was shining all around the wound – except that there was no wound.“[6]

Bei dem Kampf zwischen dem Phönix und dem Basilisken handelt es sich, wie nun ersichtlich geworden ist, um einen stellvertretenden Kampf, den die Tierwesen im Namen ihrer Besitzer austragen. Hierbei nimmt der Basilisk, welcher direkte Anweisungen seines Gebieters erhält, die angreifende, der Phönix hingegen die verteidigende Rolle ein. Übergeordnet handelt es sich darüber hinaus um ein Kräftemessen zwischen der guten und der bösen Seite der Zaubererschaft. Fawkes steht für die Zaubererwelt, welche sich als nach ethischen und moralischen Grundsätzen handelnd versteht. Die Gestalt des Phönix steht, wie bereits aus dem vorangegangen Artikel über den Phönix bekannt, in der mittelalterlichen und antiken Anschauung überdies auch für die Erlösung und die Auferstehung Christi.[7] Sie stellt also ein Symbol des Guten und der Hoffnung dar. Der Basilisk kämpft im Namen Tom Riddles, also der dunklen Seite. In der christlichen Tradition gilt der Basilisk als eine Verkörperung des Bösen und als Sinnbild für Ungerechtigkeit, Lüge und Bosheit,[8] was auch seine Funktion in J.K. Rowlings Geschichte unterstreicht. Sie beabsichtigt zudem beim Leser durch die Beschreibungen der Kreatur klare Antipathien zu wecken.[9] Dies wird zum Beispiel dadurch deutlich, dass der Basilisk keinen Namen bekommt, wie der Phönix Fawkes, sondern bei seiner bloßen Bezeichnung genannt wird. Hierdurch wird klar, dass Riddle kein emotionales Verhältnis zu der Riesenschlange hat, sondern sie lediglich für seine Zwecke nutzen möchte. Im Gegensatz dazu, hat Dumbledore seinem Vogel einen Namen gegeben, weil er in ihm einen Weggefährten, und kein ihm unterstelltes Machtinstrument sieht.

Löwe gegen Drachen

Im Iwein stößt der gleichnamige Hauptprotagonist zu einem Kampf zwischen einem Löwen und einem Drachen hinzu. Zuvor hatte der Artusritter das Angebot ausgeschlagen, Herr des Landes der Dame von Narison zu werden. Iwein sucht Zuflucht in einem nahegelegenen Wald und hört schmerzerfüllte und zornige Laute in der Nähe. Er vermutet dahinter bereits einen Drachen oder ein wildes Tier und folgt den Geräuschen bis auf eine Waldlichtung. Iweins Verdacht bewahrheitet sich, als er Zeuge eines Kampfes zwischen einem Löwen und besagtem Drachen wird. Zunächst ist er unentschlossen, wem er helfen soll, entscheidet sich dann aber für das „edlere“ Tier.[10] Trotzdem zögert er, einzuschreiten, da er fürchtet, der Löwe könnte ihn nach Besiegen des Drachen dennoch angreifen:

wan alsô ist ez gewant,
als ez ouch under den liuten stât:
sô man aller beste gedient hât
dem ungewissen manne,
sô heute sich danne
daz er in iht beswîche.[11]

Französische Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert, Künstler unbekannt. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Yvain-dragon.jpg (zuletzt abgerufen 13.08.2018)

Schließlich überwindet sich Iwein und erschlägt den Drachen, woraufhin der Löwe sich zu seinen Füßen niederwirft. Damit vollzieht er die höfischen Gesten der Dankbarkeit:

„er antwuorte sich in sîne pflege,
wander in sît alle wege
mit sînem dienst êrte
und volget im swar er chêrte.“[12]

Der Kampf zwischen dem Löwen und dem Drachen und Iweins Einschreiten werden in nur 40 Versen abgehandelt. Trotz der Kürze dieses Textbeispiels lassen sich einige Auffälligkeiten und Parallelen zum Kampf in Harry Potter herausarbeiten. Zunächst einmal handelt es sich ebenfalls um zwei Tiere, welche in der mittelalterlichen Auffassung klar als positiv und negativ konnotiert werden. Der Drache gilt laut Isidor von Sevilla als größtes Lebewesen auf der Erde und wird eng mit dem Feuer in Verbindung gebracht.[13] Im christlichen Mittelalter besteht eine starke Verbindung zwischen dem Drachen und dem Teufel.[14] Dem Löwen hingegen wird stets eine edle und ehrenvolle Rolle zugewiesen.[15] So wird auch im Millstätter Physiologus der Löwe[16]  als erstes Tier gewählt und nicht nur als „König aller Könige“ (chunich aller chunige[17]) sondern als Gott selbst bezeichnet.[18] Dies ist auch der Grund, warum Iwein sich für die Seite dieses Tiers entscheidet und der Löwe sich ihm anschließt.[19] Eine weitere Parallele zu Harry Potter besteht außerdem dahingehend, als dass die Gestalt des Drachen im frühmittelalterlichen Verständnis oftmals einer riesigen Schlange glich, wodurch sich auch die mittelhochdeutsche Bezeichnung wuorm erklärt. Neben der Parallele zum Basilisken als Riesenschlange sei außerdem das Haus Slytherin erwähnt, aus dem Tom Riddle stammt und welches das Symbol einer Schlange trägt.[20]
Der Phönix Fawkes bringt Harry außerdem das Schwert Godric Gryffindors, dem Gründer des Hauses Gryffindor, welches durch einen Löwen verkörpert wird.[21] Im weitesten Sinne handelt es sich also beim Kampf in der Kammer des Schreckens auch um einen zwischen Schlange und Löwe. Somit sind diese Symbolik und ihre Bedeutung mit der aus von Hartmanns Iwein nahezu gleichzusetzen.

Miniaturzeichnung aus dem 13. Jahrhundert. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Yvainlion.JPG (zuletzt abgerufen 13.08.2018)

Fazit

Sowohl in der mittelalterlichen Epik als auch in modernen Fantasyromanen verfolgen Kämpfe zwischen zwei Tieren oder Fabelwesen mehrere und häufig ähnliche Ziele.
Zum einen dienen diese natürlich immer als spannungsgebende Szene in der Erzählung und lassen den Leser beim Kampf zwischen den meist offensichtlich erkennbaren Parteien mitfiebern. Zum anderen können dadurch aber auch unterschwellig weitere Bedeutungen transportiert werden, wie die Symbolik der kämpfenden Tierarten. Diese kann mitunter in Hinblick auf den vorangegangenen oder nachfolgenden Erzählstrang oder aber auch auf einen übergeordneten (zum Beispiel christlichen) Kontext von großer Relevanz sein. In jedem Fall lohnt es sich, unabhängig vom Erscheinungszeitraum der Werke, einen genaueren Blick auf Tierkämpfe in der vorliegenden Literatur zu werfen. Oftmals halten Metaphorik und Symbolik hier noch mehr interessante Informationen bereit, als es oberflächlich scheint.

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[1] Vgl. Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, London, 1998, S. 232.

[2] Details zum Sprechenden Hut siehe: Rowling, Joanne K.: The Sorting Hat, unter: https://www.pottermore.com/explore-the-story/the-sorting-hat [zuletzt abgerufen  27.07.2018].

[3] „Then he heard Riddle’s hissing voice: ‚Kill him.‘ The Basilisk was moving towards Harry […].“,
Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, S. 234.

[4] Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, S. 235.

[5] Ebd.

[6] Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Chamber of Secrets, S. 236f.

[7] Vgl. Obermaier, Sabine: Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, Berlin, 2009, S. 181.

[8] Liess, Kathrin: Basilisk, unter: http://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/basilisk/ch/9e5f445d919214cd6a0116619af7b233/ [zuletzt abgerufen 27.07.2018].

[9] Vgl. Rowling, Joanne K.: Harry Potter an the Chamber of Secrets, S. 234-236.

[10] „dem hern Îwein tet der zwîfel wê | wederm er helfen solde, | doch gedâhter daz er wolde | helfen dem edeln tiere“, Hartmann von Aue: Iwein, Übers. Krohn, Rüdiger, Stuttgart, 2012, V. 3846-3849.

[11] Hartmann von Aue: Iwein,  V. 3854-1859.

[12] Hartmann von Aue: Iwein,  V. 3877-3880.

[13] Möller, Lenelotte (Übers.): Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, Wiesbaden, 2008, S. 463.

[14] Hünemorder, Ch.: Dragons – Late ancient and medieval tradition, aus: Lexikon des Mittelalters, unter: http://apps.brepolis.net.00578dpl0d80.emedien3.sub.uni-hamburg.de/lexiema/test/Default2.aspx [zuletzt abgerufen 29.07.2018] und Graf von Nayhauss-Cormons-Holub, Hans-Christoph: Die Bedeutung und Funktion der Kampfszenen für den Abenteuerweg der Helden im „Erec“ und „Iwein“ Hartmanns von Aue, Freiburg, 1967, S. 178.

[15] Vgl. Wolf, Jürgen: Einführung in das Werk Hartmanns von Aue, Darmstadt, 2007, S. 87.

[16] Zur Symbolik des Löwens im Früh- und Hochmittelalter siehe auch: Jäckel, Dirk: Der Herrscher als Löwe, Köln, 2006, S. 144.

[17] Schröder, Christian: Der Millstätter Physiologus. Text, Übersetzung, Kommentar, Würzburg, 2005, S. 64, 6.

[18] Vgl. Schröder, Christian: Der Millstätter Physiologus, S. 64, 7.

[19] Vgl. hierzu auch Sieverding, Norbert: Der ritterliche Kampf bei Hartmann und Wolfram, Heidelberg, 1985, S. 147-150.

[20] Vgl. Rowling, Joanne K.: Hogwarts houses: Slytherin, unter: https://www.pottermore.com/collection/all-about-slytherin, [zuletzt abgerufen 29.07.2018].

[21] Vgl. Rowling, Joanne K.: Hogwarts houses: Gryffindor, unter: https://www.pottermore.com/collection/all-about-gryffindor, [zuletzt abgerufen 29.07.2018].

Der monströse Teufel in der mittelalterlichen Hagiographie

„In jedem Monster steckt der Teufel, und umgekehrt kann der Teufel selbst jedes Monster sein.“[1] Monster, gerade die menschlichen Missgebildeten, wurden in Antike und Mittelalter ontologisch oft in den Einflussbereich des Teufels bzw. einer bösen widergöttlichen Macht gestellt.[2] Die Hässlichkeit von Monstern wurde vor allem als Ausdruck ihrer Widernatürlichkeit und Sündhaftigkeit sowie als sichtbares Zeichen ihrer Distanz zu Gott interpretiert.[3] Doch umgekehrt trägt auch der Teufel in seiner Darstellung in Kunst und Literatur oft monströse Züge oder tritt in Gestalt eines Monsters auf. Seine Monstrosität ist dabei vielschichtig begründet und besteht vor allem in seiner Wandelbarkeit und Differenzlosigkeit.[4] Zudem liegt sein monströser Schrecken darin, dass er jederzeit in die Alltagswelt des Individuums einbrechen kann und als dauerhaft schlummernde Gefahr gilt.[5] Dieser Artikel thematisiert den monströsen Teufel und seinen Darstellungsmodus in der mittelhochdeutschen Literatur. Dabei werden zunächst der Teufel und seine Monstrosität in der mittelalterlichen Gesellschaft sowie in der mittelhochdeutschen Hagiographie allgemein eingeordnet. Denn es sind vor allem hagiographische Texte, in denen der Teufel einen festen Platz beansprucht und in denen Monstrosität als dessen Darstellungsmodus fungiert.[6] Im Mittelpunkt steht darauffolgend die Analyse und Interpretation der Darstellungsmodi des Teufels in der Margaretenlegende des Passionals, einer Heiligenlegendensammlung aus dem 13. Jahrhundert. Interessant ist hier vor allem die Doppelrolle des Teufels, der zunächst in Gestalt eines Drachen und ein zweites Mal in der menschlichen Gestalt eines ansehnlichen Jünglings auftritt.

Der Teufel in der mittelalterlichen Gesellschaft und Literatur

Im christlich geprägten europäischen Mittelalter galt die ständige Omnipräsenz des Teufels analog zu der Allgegenwart Gottes als selbstverständlich.[7] Die communis opinio sowohl der meisten Gelehrten als auch des Gros der Bevölkerung bestand dabei in einer Art „Pandämonismus“: Der Teufel ist potenziell überall und auf jeden Fall in allem Schlechten, für das er grundsätzlich ursächlich verantwortlich ist.[8] Damit unterscheidet sich der Platz des Teufels im mittelalterlichen Weltbild deutlich von dem der meisten „normalen“ Monster des Mittelalters: Diese sind meist in Grenzgebieten, in der Wildnis abseits der Zivilisation oder an den Rändern der Welt verortet. Sie zeichnen sich durch Grenzerfahrung und Besonderheit aus und sind der Gegenentwurf zu alltäglich, normal, gewöhnlich.[9] Der Teufel jedoch hat seinen Platz in der Lebenswelt und im Alltag der Menschen, wenn er auch dort meistens verdrängt wird. Einer der Hauptaspekte seiner Monstrosität besteht darin, dass er jederzeit plötzlich und unvermutet in die persönliche Lebenswelt jedes Individuums einbrechen kann.[10] Die Rolle Satans im christlich-mittelalterlichen Weltbild ist dabei an einigen Punkten unklar und paradox. Zum einen kann er nicht als einfache Antwort auf die Theodizee-Frage fungieren, da er nicht als ebenbürtiger Gegner Gottes aufgefasst werden darf. Zum anderen ist er einerseits Diener und andererseits eben doch Widersacher Gottes, wenn diesem auch letztlich immer unterlegen.[11] In der Literatur hat der Teufel wenig überraschend in der Hagiographie, also den geistlichen Heiligenlegenden, seinen festen Platz. Seine Hauptfunktion besteht dabei in der narrativen Inszenierung der Standfestigkeit und Gottestreue der Heiligen, da diese ihre Tugenden am deutlichsten im Umgang mit dem Teufel unter Beweis stellen können.[12] Die mittelalterliche geistliche Literatur folgt bei der Darstellung des Teufels weitestgehend bekannten Stereotypen der kirchlich ikonografischen Tradition, in der die Monstrosität des Teufels die gesamte Spannbreite der sinnlichen Wahrnehmung umfasst.[13] Die Darstellungsweise des Teufels bildet dabei ein auffallendes Komplementär zu den klassischen Darstellungsattributen der Göttlichkeit. Während diese sich u.a. durch hellstrahlende unveränderliche Schönheit und Wohlgeruch auszeichnet, ist der Teufel durch Dunkelheit, Hässlichkeit und Gestank gekennzeichnet.[14] Konstitutiv für den Teufel und Hauptmerkmal seines monströsen Schreckens ist zudem „seine amorphe Gestalt, die ihn zu immer weiteren Metamorphosen befähigt“.[15] Er kann sowohl die Gestalt von gewöhnlichen oder besonders schönen Menschen oder sogar von göttlichen Wesen als auch die von Monstren und Ungeheuern annehmen. Seine unberechenbare Wandelbarkeit macht einen großen Teil seines Bedrohungscharakters aus und ist ein distinktives Kennzeichen gegenüber unwandelbar schönem Göttlichen und Heiligen.[16] Monströs ist dabei vor allem, dass das antike Ideal der Kalokagathia nicht mehr aufgeht, nach dem Inneres und Äußeres einander entsprechend und ein schönes Äußeres auf ein gutes Inneres verweist.[17]

Die Doppelrolle des Teufels in der Margaretenlegende des Passionals

Die monströse Wandelbarkeit des Teufels zeigt sich besonders deutlich in der Margaretenlegende des Passionals, einer Legendensammlung des 13. Jahrhunderts. Die fromme Jungfrau Margarete wird im Alter von 15 Jahren von dem heidnischen Edelmann Olybrius entführt, der sie bei einem Ritt durch die Felder entdeckt hat und zur Frau nehmen will. Dafür soll Margarete jedoch dem Christentum abschwören und sich von Gott abwenden. Als die fromme Jungfrau sich weigert, wird sie mit der Aussicht auf Hinrichtung in den Kerker geworfen.[18] Eines Tages betet Margarete dann zu Gott und bittet ihn, ihr ihren wahren Feind zu offenbaren:

do bat die iuncvrowe gut
uz ires herzen demut
den guten got, den wisen
daz er ir wolde wisen
den vient, der uf sie vechte 
(P, S. 330, V. 17-21).

Gott erhört ihr Gebet und sogleich erscheint ein riesiger, furchterregender Drache in Margaretes Verlies, der sie mit einem Mal vollständig verschlingt. Margarete erkennt in diesem dämonisch semantisierten Monster sofort den Teufel, bekreuzigt sich und das Ungeheuer bricht entzwei. Der Teufel ist nun voller „schande un unere“ (P, S. 330, V. 60) und macht einen zweiten Versuch die standhafte Jungfrau für sich zu gewinnen. Diesmal kommt er in Gestalt eines ansehnlichen Jünglings und umgarnt das Mädchen mit wohlklingenden Worten. Diese aber ringt ihn ohne zu zögern mit beiden Händen zu Boden, da sie an dem Inhalt seiner Rede erneut den Satan erkennt. Daraufhin stellt sie den Teufel zur Rede, warum er der Christenheit so viel Böses antut und dieser erklärt ihr ironischerweise die für ihn demütigenden Verhältnisse seit dem Luzifersturz und der Verbannung in die Hölle. Nachdem Margarete ihre Antwort erhalten hat, lässt sie den Teufel wieder ziehen. (vgl. P, S. 326-332)

Die Legende weist zunächst einmal die typische „holzschnittartige Schematik“ frühmittelalterlicher Heiligenlegenden auf: Die Heilige steht standhaft und unerschütterlich allen Listen, Verführungen und gewaltvollen Angriffen des Teufels zum Trotz auf der Seite Gottes.[19] Dabei geht es nicht um den vielleicht schwankenden und ambivalenten innerseelischen Prozess, der eine Wendung zum Guten oder Bösen hervorbringt, sondern um die punktuelle Entscheidung für Gott oder den Teufel.[20] Interessant sind hierbei nun vor allem die Darstellungsmodi des Teufels. Dieser tritt ausdrücklich in zwei komplementären Gestalten mit differierenden Implikationen auf, die beide ihre ganz eigene teuflische Monstrosität offenbaren: Er versucht Margarete in Gestalt eines riesigen Drachens zu bezwingen und in menschlicher Gestalt eines schönen Jünglings zu verführen. Dies macht allein schon zwei Hauptaspekte des teuflischen Schreckens und der teuflischen Monstrosität aus: die amorphe Gestalt des Teufels, seine unberechenbare Wandelbarkeit.[21] Der zweite Hauptaspekt besteht darin, dass durch seine gestaltliche Wandelbarkeit und seine Fähigkeit äußerlich gewöhnliche oder gar schöne Formen anzunehmen, das antike Ideal der Kalokagathia nicht aufgeht.[22] In der Margaretenlegende wird dies beim zweiten Auftritt des Teufels deutlich: er „liez sich alda schowen/ als ein iungelinc gestalt,/ wand sin kunst ist manicvalt“ (P, S. 330, V. 66-68). Bemerkenswert ist auch, dass der Teufel als erstes nicht in Gestalt irgendeines Monsters in Erscheinung tritt, sondern als das Monster unter den Monstern: als Drache. Der Drache ist in der literarischen und kulturellen Tradition des Abendlandes von Beginn an in Analogie zu Hölle und Satan persönlich gesetzt.[23] Der Drache steht in der mittelalterlichen Hagiographie für eine „unpersönliche Präsenz des Bösen“.[24] Damit steht er im Gegensatz zu einer figuralen, personalen Imagination und Konfiguration des Teufels, hier dem Jüngling. Der Kampf mit dem Monster wird in der mittelalterlichen Hagiographie als Kampf mit dem Bösen, mit der Hölle, dem Teufel, verstanden.[25] Auffallend ist dabei die unterschiedliche Abwehr des Teufels je nach Erscheinungsform. Der Drache verschlingt Margarete sofort vollständig, körperlich hat sie also keine Chance. Gegen diese archaische Form des Bösen hilft dann nur noch die Bekreuzigung, die waffenlos exorzistisch wirkt. Das Zeichen des Kreuzes steht dabei pars pro toto für die Erlösungstat Christi.[26] Die menschliche Gestalt hingegen wird mit direkter körperlicher Gewalt überwunden und muss nach der Niederlage noch Rede und Antwort stehen. Teufel und Heilige stehen hierbei also in engem Kontakt: zunächst auf einer körperlichen dann geistigen Ebene. Ironisch ist nun hierbei, dass der Teufel das theologische Konzept der Engelschorlehre aufgreift – ausgerechnet er, der gefallene Engel, der den Aufstand gegen Gott verloren hat und mitsamt Gefolge in die Hölle verbannt wurde.[27] Damit bestätigt er den Status der Heiligen und manifestiert seine eigene Demütigung.

Fazit

Die teuflische Monstrosität besteht also zusammenfassend zum einen darin, dass dieser in der Kunst und Literatur des Mittelalters oft mit monströsen Attributen dargestellt wird oder vollständig in der Gestalt eines Monsters auftritt. Seine wahre Monstrosität, sein ultimativer Schrecken besteht jedoch in zwei Eigenschaften, die ihn von gewöhnlichen Monstern des Mittelalters eher abgrenzen. Zunächst einmal existiert der Teufel im mittelalterlichen Weltbild nicht (nur) in den Schwellenräumen, in den Randgebieten der bekannten Welt oder im Exil, sondern gerade und vor allem mitten in der Alltagswelt aller Menschen. Er kann jederzeit in das Bekannte und Alltägliche des Individuums einbrechen und ist gerade deswegen so bedrohlich. Keiner ist jemals sicher vor dem Teufel, außer er ist frommer Christ und steht stets an der Seite Gottes. Die zweite Eigenschaft, die die Monstrosität des Teufels konstituiert, besteht darin, dass er das antike Kalokagathia-Ideal ad absurdum führt, indem er jede denkbare Gestalt annehmen kann. Seine amorphe Gestalt birgt die Gefahr, dass in jedem und allem der Teufel stecken kann, sogar in dem schönsten, edelsten Körper. Dies zeigt sich auch in der Margaretenlegende des Passionals. Zunächst erscheint der Teufel in Gestalt eines Monsters und dann in Gestalt eines schönen Jünglings, womit er seine amorphe Gestalt bestätigt und das Kalokagathia-Ideal negiert.


[1]Hammer, Andreas: Ordnung durch Un-Ordnung. Der Zusammenschluss von Teufel und Monster in der mittelalterlichen Literatur. In: Geisenhanslüke, Achim/ Mein, Georg (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 221.

[2]Vgl. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2013, S. 68-70.

[3]Vgl. Haug, Walter: Der Teufel und das Böse. In: Ders. (Hg.): Strukturen als Schlüssel zur Welt: Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen: Niemeyer, 1989, S. 70.

[4]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220f.

[5]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 210f.

[6]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 209, 218.

[7]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 210f.

[8]Vgl. Dinzelbacher, Peter: Die Realität des Teufels im Mittelalter. In: Segl, Peter (Hg.): Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus maleficarium von 1487. Köln: Böhlau 1988, S. 153.

[9]Vgl. Schmitz-Emans, Monica: Monster: Eine Einführung. In: ApuZ 52 (2013). S. 11-17.

[10]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 210f.

[11]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 211-213.

[12]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 209f.

[13]Vgl. Brenk, Beate: Teufel. In: Kirschbaum, Engelbert (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Sp. 295-300.

[14]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 219 f.

[15]Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220.

[16]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220.

[17]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 225 f.

[18]Vgl. Das Passional. Eine Legendensammlung aus dem Dreizehnten Jahrhundert, hg. und mit e. Glossar versehen v. Friedrich Karl Köpke. Quedlingburg/ Leipzig: Basse 1852, S. 327; Im Folgenden zitiert unter P, alle Seiten- und Versangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

[19]Vgl. Haug: Der Teufel und das Böse, S. 70 f.

[20]Vgl. Haug: Der Teufel und das Böse, S. 71.

[21]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220.

[22]Zum antiken Ideal der Kalokagathia vgl. Pappas, Katherine: Die hässliche Grasbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer Schurken Magier. St. Gallen 2001. S. 157-172

[23]Vgl. Joyce Tally Lionarons: The Medieval Dragon. The Nature of the Beast in Germanic Literature, Middlesex 1998, S. 17-21.

[24]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 230.

[25]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 231.

[26]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 230.

[27]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 229.

Monströse Genealogie in der Melusine bei Thüring von Ringoltingen

Die Erzählung über die Schlangenfrau Melusine wurde aus einer französischen Vorlage adaptiert. Die bekannteste deutsche Fassung stammt von Thüring von Ringoltingen.1 Sie berichtet sowohl von Melusines Kindern, als auch von ihren Eltern. Dieser Blogbeitrag untersucht alle drei Generationen auf die Vererbung von Monstrosität hin. Zur Handschrift und Geschichte, der Figur der Melusine und zu weiteren grundlegenden Informationen s. den Blogartikel „Das christliche Monster: Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller.

Melusines Herkunft

Melusine ist ein Halbwesen aus Mensch und Wasserschlange. Diese Verfassung hat sie ihrer Mutter zu verdanken. In einer Höhle in einem Berg steht das Grabmal ihrer Eltern neben einer beschrifteten Steintafel.

Es war auch auff dem erhabenen koͤstbarlichen und schoͤnen Grab gehawen […] ein Koͤnig gewapnet und gekroͤnet also ligende und war darbey zu desselbigen Koͤniges Fuͤssen ein gehauwen Frauwenbild das hatte ein Taͤfelin in den Haͤnden darinnen stund geschrieben. Dieses ist der Durchleuchtig und großmaͤchtige Koͤnig Helmas mein allerliebster Gemahel der allhie begraben ligt.2

Melusines Eltern sind eine sogenannte Mahrtenehe3 eingegangen. Die Verbindung einer übernatürlichen Mahrte (mhd. mâra, vgl. engl. „nightmare“) mit einem Menschen steht meist unter einem Versprechen (z.B. ein Sichtverbot), an das der Mensch sich halten muss. Melusines Vater Helmas versprach Melusines Mutter Persine aus Awelon, sie nicht direkt nach der Geburt ihres Kindes aufzusuchen:

[Er] hatte mir geschworn […] das er sein lebtag die zeit und weil so ich in dem Kindtbett lege mich nimmer besuchen besehen […] in der zeit kein wissen haben noch durch niemandt anders erfahren wolte.4

Der Grund für die eheliche Verbindung mit einem Menschen ist meist der Wunsch nach einer eigenen Seele, die Mahrten von Natur aus nicht haben.5 Die Hoffnung auf die Seele liegt ganz beim menschlichen Gefährten. Durch einen Bruch des gegebenen Versprechens verdammt der Mensch seine Mahrte dazu, auf ewig unbeseelt zu bleiben. Der Bruch des Tabus ist auch ein bekannter Aspekt der Mahrtenehen.6 König Helmas hält sein Versprechen nicht. Es kommt zum Tabubruch, und Persine muss mit ihren drei Töchtern fliehen. 15 Jahre später rächen sich die Töchter, indem sie ihren Vater in den Berg einschließen. Dies wiederum rächt Persine durch die Auferlegung dreier Tabus. So wird das Tabu von einer zur anderen Generation weitergegeben.

Ich gabe ihn diese Gab darumb daß sie sich an ihrem Vatter von seiner Thorheit wegen die er dazumal an mir begienge so schwerlich recheten unnd ihn beschlossen in einen Berg unnd biß an sein end darinnen gefangen hielten denn wiewol er sich an mir ubergriffen hett dennoch war ich im von Hertzen sehr guͤnstig daß ich die Rach die mein Toͤchter vorgenennet von meinetwegen an ihm begiengen nit wolt noch mochte ungerochen lassen.7

Die älteste Tochter Meliora ist fortan dazu verurteilt, über ein Schloss zu wachen, und nur, wer ihren Sperber drei Tage und Nächte lang ununterbrochen im Auge behält, erobert die Jungfrau. Die zweite Schwester Palentina hütet den Familienschatz, bis einer sie aus dem Berg befreit und damit nicht weniger als „das gelobte Land“ und Jerusalem gewinnt. Die jüngste Tochter Melusine muss einen Mann finden, der sie an keinem Samstag aufsucht.

Doch so, wie Helmas das Tabu von Persine bricht, bricht Reymund später Melusines. Die Männer versagen, und die Frauen werden nicht erlöst. Susanne Knaeble führt das auf eine männliche „Unfähigkeit zum Kontrollverlust“ zurück.8 Die Männer der Familie halten die rationale Ungewissheit, derer es bedarf, um den Bitten der Frauen um Freiheit nachzukommen, nicht aus. Während der Phase im Kindbett bei Persine und während des Samstages bei Melusine9 müssen die Männer der Familie alleine zurechtkommen und dürfen vor allem ihre Frauen und deren Freiheit nicht infrage stellen. Dies bedeutet den Kontrollverlust, den die Männer in Mahrtenehen, die an eine Bedingung geknüpft sind, in den meisten Fällen nicht bewältigen können. So wie sich die monströse Genealogie in den Frauen weitervererbt, scheint sich in den Männern die Schwäche des Kontrollverlustes weiterzuvererben. Tatsächlich ist die Genealogie auf Persines Tafel festgehalten:

[…] Ich ließ im dieses Grab also machen und darauff seine gestallt hauwen darum das die so diese Tafel ansehen oder lesen sein eyngedenck werden denn dereyn da hat kein Mensch moͤgen kommen es were denn auch desselbigen geschlechts von mir oder von meinen Toͤchtern herkommen.10

Die Auflösung des Tabus kann somit nur aus der eigenen Familie kommen, doch diese versagt stets aufs Neue. Knaeble sieht in dem „wiederholte[n] Scheitern der männlichen Protagonisten und [der] Erlösungsbedürftigkeit der weiblichen Nachfolger der Linie11 eine „Art magischen Wiederholungszwang.“12

Dadurch, dass die Erlösung an das eigene Geschlecht gebunden ist, dieses jedoch zur selben Zeit sowohl die Aufgabe als auch das Scheitern an dieser weitervererbt, ist ein Durchbrechen des familiären Zyklus beinahe unmöglich.13 Auch Beate Kellner stellt in ihren Studien zum genealogischen Wissen zur Melusine fest:

„Schuld und Gewalt prägen die Familiengeschichte […] über Generationen hinweg. Gewalt wird mit Gewalt beantwortet […], der Schuldzusammenhang vererbt sich gewissermaßen in die nächste Generation.“14

Melusines Kinder

Melusine und Reymund haben zehn Söhne, die zunächst sehr anständig leben und „ihr Glück wie Märchenfiguren“15 machen. Sie alle entwickeln sich gut. Nur in ihrem Aussehen weichen sie von der Norm ab.

Da gebar sie einen Sohn den nennet sie Uriens der darnach zu großen Ehren kam […] Doch was sein Angesicht nicht schoͤn sondern einer seltzamen form unnd gestalt denn er war gar kurtz und breyt und flach unter den Augen und was im das ein Aug roth und das ander gruͤn. Er hett auch einen grossen weyten Mund und lang hangend Ohren. Aber von Leib und Beinen von Arm und Fuͤssen und aller Geschoͤpff was er gar gerad unnd wolgeschickt und Adelich gestalt.16

In dieser Verbindung von „nicht schön“ und doch „von adeliger Gestalt“ findet sich Melusines Wesen wieder, das sich auch zwischen Monstrosität und Religiosität bewegt. Alle Söhne weisen Abnormitäten auf. Gedes hat ein unheimlich-leuchtendes Gesicht, Gyot grotesk schiefe Augen, Anthoni wurde mit einem Muttermahl in Form einer Löwenpranke geboren und hat dazu Krallen und ein raues Fell, Reinhart trägt nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn, Goffroy hat einen Eberzahn, Freymund eine haarige Nase und Horibel drei böse Augen.17 Die beiden jüngsten Söhne Dieterich und Reymund liegen noch in der Wiege und werden nicht spezifischer beschrieben. Da die Kinder jedoch zu guten Menschen heranwachsen, scheint sich das Monströse in ihnen lediglich im Äußeren vererbt zu haben. Jedoch nur, solange der Vater sein Versprechen hält.

Mit dem Tabubruch, den Reymund an Melusine begeht, in dem er ihr doch an einem Samstag nachstellt und schließlich ihre Schlangengestalt im Bad erblickt, verliert Melusine ihre weibliche Gestalt und alle Hoffnung auf Erlösung aus ihrer Schlangenform. Der Tabubruch wirkt sich auch auf die Söhne aus, denn sie schlagen auf einmal in die Monstrosität um und begehen große Sünden. Als Vorahnung der monströsen Eigenschaften, die die Söhne geerbt haben, diente ihr merkwürdiges Aussehen, in dem sich die monströse Genealogie schon widerspiegelte. Bis zum Tabubruch ihres Vaters war die Prädestination unterdrückt gewesen, mit dem Tabubruch bricht jedoch auch die Monstrosität aus und die Kinder begehen Schandtaten, obwohl sie zuvor gut waren.

Die guten Taten

Zu Beginn sind Melusines und Reymunds Söhne auf dem besten Weg, ehrbare Ritter zu werden. Der älteste Sohn Uriens will ausfahren, um „hohe Ehre mit Kriegen18 zu erlangen. Das gefällt den Eltern sehr. Der Sohn Gyot hat dasselbe Ziel und hilft dabei, eine von heidnischen Feinden umlagerte Stadt zu befreien. Das Unternehmen gelingt und Uriens wird König von Cypern, Gyot König von Armenien. Beide heiraten standesgemäß und das ungewöhnliche Aussehen wird in der Fremde sogar bewundert. Sie bringen viel Ehre für die Familie ein.

Da ward Uriens von dem Cyprischen Volk gar sehr angesehen von der frembde wegen seines Angesichts […]19

Ein Sohn nach dem anderen macht sein Glück, und die Brüder verteilen sich äußerst erfolgreich nach Britannien, Luxemburg, dem Elsaß und in den heimischen Gefilden. Einer der Brüder, Freymund, hat keinen größeren Wunsch, als den, einem Kloster beizutreten und Mönch zu sein. Auch das wird nach einer kleinen Eingewöhnungsphase des Vaters (der die Ritterschaft vorgezogen hätte) in der streng gläubigen, christlichen Familie gerne gesehen.

Die bösen Taten

Reymund lädt mit seinem Tabubruch viel Schuld auf sich. Er bricht das Gelübde, das er seiner Frau geschworen hat, und verdammt Melusine dazu, für immer ein Schlangenwesen zu bleiben. Er hat ihr damit die Möglichkeit genommen, der Monstrosität zu entgehen. Das wirkt sich auch auf die nächste Generation aus. Goffroys „frembder wunderbarlicher unnd wilder Sinn“ ließ ihn den Kampf gegen den Riesen gewinnen:

Goffroy […] war auß dermassen ein starcker Mann unnd wolmuͤgendt seines Leibs unnd frembder wunderbarlicher unnd wilder Sinn hette er viel unnd noch viel mehr denn keiner seiner Bruͤder hette gehabt […]20

Doch nach dem Tabubruch schlägt dieser Charakterzug in die Todsünde Zorn (ira)21 um und treibt ihn dazu, das Kloster, in dem sein Bruder Freymund Mönch geworden ist, samt Bruder und 100 anderen Mönchen bis auf die Grundmauern niederzubrennen:

Goffroy was voll grimmiges Zorns unnd halff gegen ihn kein redt noch gut […] Also verdarbe sein leiblicher Bruder mit den andern Muͤnchen von Feuwers noth […]22

Der Brudermord geht auf die Bibel mit Kain und Abel zurück. Seine Ausübung ist eine große christliche Sünde. Des Weiteren rächt Goffroy den Verrat seines Vaters an seinem Onkel, ohne dessen Zweifel Reymund seiner Frau wahrscheinlich nie nachgestellt hätte (erst durch den brüderlichen Vorwurf der buͤberey sah Reymund sich dazu veranlasst, Melusine zu kontrollieren).23 In diesen Morden Goffroys spiegelt sich der Vatermord beider Eltern wider. Melusine schließt ihren Vater als Rache in den Berg ein, und Reymund ersticht seinen Ziehvater unbeabsichtigt bei der Jagd.24 Kellner stellt fest: „Im Ablauf der Generationen droht sich […] der Konnex von Schuld und Gewalt zu potenzieren.“25 Die Söhne wiederholen die Schuldtaten der Eltern in noch größerem Umfang.

So muss ein weiterer Sohn, Horibel, wegen drohenden Unheils sogar getötet werden. Melusine selbst sagt seinen Mitmenschen eine sonst grauenvolle Zukunft voraus.

Die Herren unnd die Diener alle […] wolten fuͤrkommen das groß ubel so von Horibel ihrem Sohn aufferstehen solte unnd sie namen den Knaben […] unnd erstickten ihn in eim Keller zu todt.26

Der von Melusine im Falle eines Tabubruchs prophezeite Untergang des Geschlechts hat begonnen. Selbst die tiefe religiöse Verbundenheit, für die Melusine so umsichtig gesorgt hat, kann die genealogische Prädestination der Familie nicht mehr aufhalten.27

Conclusio

Die detaillierte genealogische Thematik der Melusinenerzählung zeigt die Wichtigkeit von Herkunft und Stand im Mittelalter. Melusines Familiengeschichte ist durchzogen von Gewalt, Schuld und Schandtaten. Dennoch wird sie als kein herkömmliches, gemeines Monster dargestellt, sondern weist viele christliche Tugenden und einen tief religiösen Glauben auf, zu dem sie sich trotz ihrer Herkunft bewusst entschieden hat (es kann eine gewisse Wertung des Stoffes angenommen werden, denn die Figur diente einem Adelsgeschlecht als Ahnherrin). Ihre Söhne treffen jedoch eigene Entscheidungen. Die Vererbung von den Großeltern über die Eltern zu den Kindern der Familie beinhaltet Schuld, Abhängigkeit und Schwäche. Durch diese verheerende Mischung wird die Thematik permanent wiederholt. Die Monstrosität ist fest mit der Familie verwoben und hat sich dadurch ihr Bestehen gesichert. Die Kinder erben die familiäre Schwäche, jedoch gleichzeitig auch die Stärke, die es ihnen erlaubt, wichtige Positionen erfolgreich zu bestreiten. Allerdings gelingt es keinem Familienmitglied, sich gänzlich aus den vererbten Strukturen zu befreien. Eine Loslösung von der Monstrosität findet nicht statt.


1 Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe [1587]. Stuttgart: Reclam-Verlag 2014.

2 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 105.

3 Röhrig, Lutz: Mahrtenehe. In: Enzyklopädie des Märchens, Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin: de Gruyter 1977–2015, Sp. 44–53.

4 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 105.

5 Röhrig, Lutz: Mahrtenehe, Sp. 45 und 51.

6 Ebd.

Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 107.

8 Knaeble, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“ in der Melusine des Thüring von Ringoltingen. In: Aventiure und Eskapade. Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne, hg. Von Jutta Eming und Ralf Schlechtweg-Jahn. Göttingen: V&R unipress Verlag 2017, S. 63–82, hier S. 67.

9 Reymund verspricht seiner Frau Melusine, sie an keinem Samstag anzuschauen, bricht sein Versprechen jedoch. Mehr dazu im Blogartikel „Das christliche Monster. Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller.

10 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 106.

11 Knaeble, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“, S. 67.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 72.

14 Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München: Wilhelm Fink Verlag 2004, hier S. 451.

15 Ruh, Kurt: Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltinen. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1985 (Heft 5), hier S. 7.

16 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 31.

17 Ebd., S. 31–32.

18 Ebd., S. 33.

19S. ebd., S. 37.

20 Ebd., S. 32–33.

21 Auch zu den Todsünden gibt es einen Abschnitt im bereits benannten Blogartikel.

22 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 82.

23 Ebd., S. 70.

24 „Die Verbrechen am Ursprung […] sind die schrecklichsten Gewalttaten, die sich in einer Gesellschaft denken lassen“, aus Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität, S. 451.

25 Ebd, S. 452.

26 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 94.

27 Knable, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“, S. 68.

Unbesiegbar schön – Die Neuinterpretation der Mutter Grendels und das Motiv der Mahrtenehe im Film Beowulf (2007)

Der Held Beowulf muss sich im gleichnamigen altenglischen Epos gegen drei Gegenspieler behaupten: das Monster Grendel, dessen Mutter und einen Drachen. Die unter der Regie von Robert Zemeckis entstandene Filmadaption Beowulf (2007) des über 1000 Jahre alten Stoffes unterscheidet sich in der Darstellung dieser drei Monster und der mit ihnen zusammenhängenden Figurenkonstellation stellenweise deutlich von der literarischen Vorlage. Besonders interessant ist dabei die Rolle der Mutter Grendels, deren äußeres Erscheinungsbild im Original nicht beschrieben und die im Film von der US-Schauspielerin Angelina Jolie verkörpert wird. Sowohl auf visueller als auch inhaltlicher Ebene deutet der Film an, dass Grendels Mutter eine Mahrte ist, die ihre Opfer verführt und mit ihnen eine Mahrtenehe eingeht, also eine „Verbindung eines Menschen mit einem übernatürlich-jenseitigen Wesen“20. Im Folgenden soll diese These überprüft und die Funktion der Neuinterpretation und Aufwertung der Figur untersucht werden.

Aspekte einer Mahrtenehe im Beowulf (2007)

Grendels Mutter wird in der literarischen Vorlage als „Das Schreckensweib […] / Welche die Wasserwüsten bewohnen mußte“40 beschrieben. Außer der Erwähnung von „scheußlichen Krallen“42 finden sich keinerlei Aussagen bezüglich ihres Phänotyps. Eine solch lückenhafte Beschreibung der Figur bietet den Filmemachern großen Spielraum und dient als Anlass, Grendels Mutter in dem Film eine stärkere Bedeutung für den Handlungsverlauf zukommen zu lassen als in der literarischen Vorlage vorgesehen. Zunächst ist das Ungeheuer nur in Spiegelungen und niemals in ganzer Gestalt zu sehen. So wirkt es auf die RezipientInnen erst so, als handle es sich um ein außergewöhnliches Wasserwesen mit einem fischartigen Kopf, beweglichen Tentakeln und langen Fingern mit Schwimmhäuten.

Abbildung 1
Abb. 1.: Grendel und ein ihn streichelnder Tentakel seiner Mutter in ‚Beowulf‘ (2007, Robert Zemeckis). Screenshot (0:13:13).
Abbildung 2
Abb. 2.: Wasserspiegelung von Grendels Mutter in ‚Beowulf‘ (2007, Robert Zemeckis). Screenshot (0:53:12).

Später erscheint sie außerhalb des Wassers jedoch als Frau in attraktiver Gestalt mit goldfarbener, schimmernder Haut und einem Schwanz, der aus ihrem Unterleib wächst und noch als einziger Hinweis darauf dient, dass es sich bei Grendels Mutter um ein unmenschliches Wesen handelt.

Abbildung 3
Abb. 3.: Angelina Jolie verkörpert Grendels Mutter in ‚Beowulf‘ (2007, Robert Zemeckis). Screenshot (0:55:59).

Diese Verwandlung und die vielen menschlichen Attribute sind Hinweise darauf, dass es sich bei der Figur um eine besondere Form eines Mischwesens, eine sogenannte Mahrte, handelt. Der damit verknüpfte Begriff Mahrtenehe wird im weiteren Sinn „zur Umschreibung jeglicher erotischen oder sexuellen Verbindung eines Menschen mit einem übernatürlich-jenseitigen Wesen“43 verwendet. Die Darstellung der Mutter Grendels weckt dabei Assoziationen zu weiblichen Wassermonstern wie zum Beispiel den Sirenen, die einen Fischschwanz besitzen und „meist mit entblößten Brüsten dargestellt werden“44. „[D]as Motiv der Mahrtenehe mit der zur Meerjungfrau mutierten Sirene ist ein liter[arischer] und kinematographischer Dauerbrenner.“45 Es ist also nicht erstaunlich, dass eines dieser „erotisch-monströsen Mischwesen“46 im Film in einer Erinnerung Beowulfs auftaucht, was ein weiterer Hinweis auf das Motiv der Mahrtenehe sein könnte. In der entsprechenden Szene wird angedeutet, dass Beowulf sich von dem mysteriösen Wesen hat verführen lassen und eventuell eine Mahrtenehe mit ihm eingegangen ist. Im Manuskript des Films wird dieses Wesen beschrieben als „a beautiful golden woman […] not a mermaid, but there is something inhuman about her“47.

Diese und die folgende weitere Beobachtung stärkt die These, dass Grendels Mutter eine Mahrte ist, die sowohl Eigenschaften eines Menschen als auch eines Wassermonsters in sich vereint und so ein neues, besonders mächtiges Monstergeschlecht darstellt. Im engeren Sinn wird mit dem Begriff der Mahrtenehe vor allem eine ehe-ähnliche oder erotische Verbindung mit einem Mahr (auch: Nachtmahr, Mart oder weiblich Mahrte) bezeichnet, also einem sogenannten Druckgeist, der nachts „durch das Schlüsselloch, ein Astloch oder durch irgendeine kleine Öffnung in der Tür“48 eindringt und seinem schlafenden Opfer das Gefühl gibt, es würde von einem Wesen auf seiner Brust erstickt.49 Anspielungen auf dieses Motiv finden sich im Film in der Szene, in der Grendels Mutter nach der Ermordung ihres Sohnes durch Beowulf diesen offenbar nachts im Schlaf heimsucht und zahlreiche Dänen auf brutale Weise kampflos tötet. Die Kameraführung stellt diese Szene aus der Sicht von Grendels Mutter dar, die soeben ihren toten Sohn in den Händen hielt, nun nach Rache sinnt und durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Holzpfeilern in die dänische Königshalle eindringt. In dieser Nacht hat Beowulf einen vermeintlichen Traum, in dem ihm die dänische Königin Wealtheow erscheint und wie ein Geist über seiner Brust schwebt. Unter dem Aspekt der eben beschriebenen schnittlosen Kameraführung wird klar, dass es sich dabei um eine Täuschung der Mutter Grendels handelt, die offenbar wie ein Mahr „vielfältige Verwandlungsgestalten“50 annehmen kann, und die hier eventuell bereits versucht, Beowulf zu verführen, was ihr später gelingen wird.

Funktionen der Neuinterpretation

Ein großer, für die Handlung folgenschwerer Unterschied zum Epos besteht darin, dass Beowulf Grendels Mutter nicht besiegt, sondern sich mit ihr vereint. In der betreffenden stark sexuell aufgeladenen Szene, in der Grendels Mutter erstmals ganz zu sehen ist und ihre menschenähnliche Gestalt annimmt, verführt sie den Helden dazu, ihr dafür, dass er Grendel getötet hat, einen neuen Sohn zu schenken. Zu späterem Zeitpunkt wird sich herausstellen, dass das aus dieser Mahrtenehe stammende Wesen der Drache ist, den Beowulf am Filmende besiegt, allerdings nur zum Preis seines eigenen Lebens. Ebenso wird im Verlauf des Filmes deutlich, dass es sich bei Grendel um den Sohn Hrothgars, des dänischen Königs, handelt, der also ebenso von Grendels Mutter verführt worden ist.

Both powerful men, Hrothgar and Beowulf, decline morally and physically and place their folk in danger after their sexual dalliance: they create more powerful, more monstrous, and less scrupulous versions of themselves.51

Grendels Mutter erscheint dadurch als ein skrupelloses, weibliches Mischwesen aus Wassermonster und Mensch, dessen Stärke unkontrolliertes Begehren der Männer darstellt. Beide vermeintlichen Helden verfallen ihr und verlieren dabei ihre Heldenhaftigkeit, „both begat upon a stunning, seductive, powerful, and perhaps immortal female of uncertain origins“52 und diese „uncertain origins“ lassen sich durch das Motiv der Mahrtenehe, das im Film wie erläutert in unterschiedlicher Form auftritt, erschließen. Es entsteht das für eine Mahrtenehe typische „exakte Gegenbild einer Happy-End-Verbindung“53, indem beide Männer gegen Grendels Mutter machtlos sind, was zum Scheitern ihrer Beziehungen und letzten Endes für beide zum Tod führt.

In essence, what we have in Beowulf(2007) is an interpretive reading of Beowulf, with material added to smooth over aspects that the writers saw as impediments to storytelling. Their most effective and dramatic intervention is to have Grendel’s mother seduce Hrothgar to create Grendel and then Beowulf to create the dragon. This device creates a structural unity that the poem lacks and allows them to explore their theme of unchecked male desire engendering a cycle of suffering and betrayal for the promise of power leading to an impotence that rots all.54

Zusammenfassend dient die Neuinterpretation und Aufwertung der Figur durch die Filmemacher dazu, Grendels Mutter als ein neues, unbesiegbar schönes Monster einzuführen, welches durch seine geheimnisvolle Herkunft und Verwandlungsfähigkeit Faszination weckt und das Heldenepos in eine tragische und neu verstrickte Erzählung mit genealogischer Thematik umzukehren. Gerade die letzte Szene, in der Grendels Mutter in Beowulfs treuen Gefährten Wiglaf ein neues Opfer anstrebt, unterstreicht erneut die Dominanz der Figur. Nachdem Wiglaf sich von seinem sterbenden Freund Beowulf verabschieden musste, blickt er auf das Meer hinaus, aus dem Grendels Mutter auf einmal hervorkommt. Wiglaf scheint sich von ihrem Blick und ihrer schönen Gestalt in den Bann ziehen und anlocken zu lassen; nur die RezipientInnen wissen um die monströse Anziehungskraft der Mutter Grendels und um sowohl Beowulfs als auch Hrothgars folgenschwere Verbindung mit ihr. So endet der Film mit der fatalen Vorahnung, dass sich die tragischen Ereignisse wiederholen werden.

Das Motiv des Drachen in der Legende des Heiligen Georg

Mit dem Passional liegt bis heute eines der umfangreichsten deutschsprachigen Werke des Mittelalters vor. Seine Entstehungszeit wird in das 13. Jahrhundert datiert, was es darüber hinaus zu einem der ältesten Legendare macht.[1] Als hauptsächliches Vorbild für das Passional, dessen Autor bislang unbekannt ist, gilt die auf Latein verfasste Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, eines der erfolgreichsten Legendare des Mittelalters.[2] Das Passional kann somit als erste systematische Bearbeitung der Legenda Aurea gelten.[3] Insbesondere sei es vermutlich, so der aktuelle Forschungsstand, durch Mitglieder des Deutschen Ordens rezipiert und verbreitet worden; der Entstehungskontext ist jedoch noch unklar.[4] Das Passional ist in drei Büchern überliefert. Das Erste erzählt von dem Leben Marias, der Geburt Jesu und der Passionsgeschichte, das zweite beschäftigt sich dann mit Legenden der Apostel und der Erzengel. Das dritte Buch, mit dem in diesem Beitrag gearbeitet wird, führt in kalendarischer Reihenfolge 75 Heiligenlegenden an.[5] Im Passional sei, so Seidl, die Tendenz erkennbar, das „Geschehen narrativ auszuschmücken.“[6] Auch in der Legende, die hier zur Untersuchung herangezogen wird, kommt durch diese Tendenz einem speziellen Motiv mehr Aufmerksamkeit zu als in anderen Überlieferungen der gleichen Legende: dem Drachen.

Der Drache, dessen etymologischer Ursprung vermutlich nah bei dem griechischen drakon liegt, was sich als „der scharf/furchtbar Blickende“ übersetzen lässt, wird in der mittelalterlichen Literatur oft als Ungeheuer, Untier, Bestie oder ähnliches bezeichnet.[7] Verschiedene Drachenvorstellungen haben sich einander seit dem Mittelalter angenähert.[8] In der mittelalterlichen Literatur hält der Drache insbesondere als monströser Gegner mutiger Helden Einzug, so erscheint er häufig in der mittelhochdeutschen Heldenepik.[9] Auch im Kontext der Heiligenlegende taucht der Drache teilweise auf, so ist es hier ein Heiliger, bzw. eine Heilige, der/die den Drachen bekämpft.[10] Die bei weitem berühmteste Heiligenlegende, in der ein Drache und der damit verbundene Drachenkampf eine Rolle spielen, ist die Legende des Heiligen Georg.[11]

Wie wird eben dieses Drachenmotiv in der Georgslegende aus dem Passional zum Ausdruck gebracht? Um diese Frage zu beantworten, wird zunächst das Drachenbild herausgearbeitet, das die Dichtung entwirft. Anschließend soll erörtert werden, was für eine Funktion dem Drachen in dieser Heiligenlegende zukommt. Zwar gibt es noch weitere Drachenkampfdarstellungen in Heiligenlegenden, doch für diese Arbeit bleibt die Antwort begrenzt auf das Passional und seine wohl bekannteste Drachendarstellung, die in der Forschung bereits zu unterschiedlichen Interpretationen geführt hat.[12]

Der Drache in der Georgslegende

Die Legende des Heiligen Georg ist ursprünglich vermutlich um das 4. Jahrhundert in Kleinasien entstanden und berichtete zunächst ausschließlich von dem vorbildhaften Märtyrer Georg.[13] Erst sekundär soll das Drachenmotiv mit in die Legendentradition eingefügt worden sein, so ist es im Westen literarisch erst ab dem 12. Jahrhundert fassbar.[14] Insbesondere durch die Legenda Aurea soll dieser Teil der Legende Verbreitung erhalten haben. In diesen Zusammenhang wird aktuell auch die Ausgestaltung des Heiligen Georg zum Ritter eingeordnet.[15] Im Passional lässt sich die Legende in zwei Episoden aufteilen, so wird dem Märtyrerbericht die Drachenkampfpassage, welche für diesen Artikel bedeutend ist, vorangestellt.[16] Zunächst soll nun ein Blick auf die Darstellung des Drachen in dieser Passage geworfen werden.

Berichtet wird von der Hauptstadt Libyens[17], die sich in einer bedrohlichen Lage befindet: „dar quam ein wurm, ein trache / ungevuge unde starc. / von naturen was er arc / und dem lande ein schure“ (III 253, 23–27).[18] Die Rede ist von einem Drachen, bzw. einem „wurm“[19], der böser Natur ist und das Land bedroht. Dieser Drache klettert immer wieder an der Stadtmauer hoch und versetzt die Bewohner mit seinem bösartigen Blick in Angst und Schrecken (III 253, 30f.). Außerdem stößt er stinkenden, giftigen Atem aus (III 253, 33–35). Er wohnt in einem Teich, der nah der Stadt gelegen ist und schadet mit seiner Anwesenheit den Bewohnern und ihrem Vieh. Immer wenn er Hunger hat, kommt er zu der Stadt und bedroht sie mit seinem tödlichen Atem, damit sie ihm zu speisen geben (III 253, 37–51). Um größeren Schaden zu umgehen, werden dem Drachen zwei Tiere pro Tag gegeben, doch die Bewohner sind der Bedrohung seiner „vientliche[n] nature“ erneut ausgesetzt, als von dem Vieh schließlich nichts mehr übrig ist (III 254, 20–37, zit. nach 34). So wird entschieden, jeden Tag per Losverfahren einen Menschen aus der Stadt zu wählen, der dem Drachen geopfert wird (III 254, 45–55). Als das Los eines Tages auf die einzige Tochter des Königs der Stadt fällt, kommt es zu einer Reihe von Schilderungen, die für die Analyse des folgenden Abschnitts von Bedeutung sind.

Zunächst bleibt jedoch festzuhalten: Dargestellt wird der Drache in der Legende des Heiligen Georg als ein lebensbedrohlicher „wurm“, der die Menschen durch seine Bosheit in Angst versetzt. Nicht nur sein Atem ist tödlich, er bedroht die Stadt insbesondere durch seinen Hunger. Die nun herausgearbeiteten Attribute, die dem Drachen in dieser Legende zugeschrieben werden, entsprechen gängigen mittelalterlichen Mustern. Vor allem der giftige Atem, die bösen Augen und der Wohnraum am Wasser sind Elemente, die vielfach in der mittelhochdeutschen Heldenepik sowie auch teilweise in Heiligenlegenden auftauchen.[20] Im nächsten Schritt soll die Funktion des nun als durchaus typisch klassifizierten Drachen erörtert werden.

Die Funktion des Drachenmotives

Die Tatsache, dass die Tochter des Königs die einzige Thronnachfolgerin der Stadt ist, hindert die Bewohner nicht daran, sie ihrem durch das Los bestimmte Schicksal zu überlassen. So wird sie schließlich doch zu dem bösen Wesen geschickt (III 254, 63–255, 60). In diesem Moment jedoch „ein ritter quam geriten / […] / den unser herre sante“ (III 255, 67; 71). Es ist der heilige Ritter Georg, der von Gott gesandt wurde, um das durch den Drachen verursachte Leid der Bewohner zu beseitigen. Schließlich taucht der Kopf des „bosen wurmes“ aus dem Wasser hervor und Georg sieht jenen Drachen aus der Flut wandern (III 256, 71–85, zit. nach 71). Er bekreuzigt sich[21] und reitet dann in hohem Tempo auf den Drachen zu, um ihn niederzuschlagen. „Nach ritterlicher saze“ schlägt er ihn nieder und durchstößt mit voller Kraft seine Mitte (III 256, 89–97, zit. nach 95). Als der Drache dann stark verletzt zu Boden fällt, trägt Georg der Prinzessin auf, ihn mit ihrem Gürtel zu fesseln, denn er habe noch Großes mit ihm vor. Der Drache folgt ihnen „in demutiger sache, / als ein wolbedenc hunt, / deme alle erge ist unkunt“ (III 257, 24–26). In der Stadt verkündet Georg den Einwohnern dann, dass er von Gott gesandt worden sei, um das Land von dem Drachen zu befreien. Er stellt sie vor die Wahl: Er werde den Drachen töten, wenn die Einwohner sich von den „bosen abgoten“ abkehrten und sich taufen ließen (III 257, 61–63, zit. nach 63). Als die Menschen bekennen, dass sie Gottes Gebot halten und sich taufen lassen wollen, schlägt Georg den verletzten Drachen vor den Augen aller tot (III 257, 75–84).

Durch die hier dargestellte Handlung wird die Funktion des Drachenmotives in der Heiligenlegende deutlich. Das Befreiungsschema, das in dieser Legende durch die Rettung der Prinzessin Ausdruck findet, ist ein bekanntes Drachenkampfmotiv der mittelhochdeutschen Heldenepik. In dieser Legende dient es jedoch, im Gegensatz zur Heldenepik, nicht zwingend nur zur Ruhmerlangung des Ritters, sondern beinhaltet der Gattung entsprechend eine christliche Motivation.[22] Der von Gott gesandte Ritter befreit zunächst die heidnische Prinzessin, darüber hinaus aber auch die gesamte Stadt aus den Fängen des Drachen. Indem er dies tut, befreit er die Stadt von dem Bösen, welches der Drache hier allgemein unverkennbar verkörpert. Warum diese Stadt überhaupt durch einen Drachen in Not gerät, wird im Passional deutlich beantwortet:

Diz swerliche klagende we
dulten si von rechter schult,
wand die stat was gevult
mit abgoten vil genuc,
den man dienstlich opfer truc
und unsers herren vergaz;
hier von sie wol diz leit befaz. (III 254, 6–12)

Diese Verse werfen ein interessantes Licht auf das Drachenmotiv. Der Drache wird als Folge des heidnischen Glaubens und der falschen Opfer der Einwohner bezeichnet. Er wird deshalb auch durch die Opfer an ihn weder zufriedengestellt, noch besiegt. Das geschieht erst als Georg, der Gesandte Gottes, herbeigeritten kommt, um das Volk zu befreien. Der Drache wird also erst überwältigt, als das Volk sich dem christlichen Glauben zuwendet. Georg besiegt ihn, um das Volk vom heidnischen zum christlichen Glauben zu bekehren. Der Drache kann in dieser Legende folglich nicht nur als Verkörperung des Bösen oder der Strafe Gottes, sondern darüber hinaus als Allegorie für den heidnischen Unglauben der Bewohner interpretiert werden.[23]

Fazit

Der Drache wird in der Legende des Heiligen Georg als ein Wesen dargestellt, dem monströse Attribute zugeschrieben werden, die im Kontext der mittelalterlichen Literatur allgemein verbreitet waren. Während der Drache in der Heldenepik überwiegend als Gegner auftritt, der in einer Art Mutprobe besiegt werden muss, um die Prinzessin, Reichtum oder Ruhm zu erlangen[24], kommt ihm in dieser Heiligenlegende eine allegorische Funktion zu. Er fungiert zunächst als Verkörperung des Bösen, doch kommt hier eine christlich motivierte Spezifizierung des Bösen hinzu: Mit dem Bösen, Monströsen, ist in dieser Legende der falsche, teuflische Unglaube der Heiden gemeint, den es durch den christlichen Helden Georg zu besiegen und aus der Welt zu schaffen gilt. Der Drache wird also aktiv in den hagiografischen Kontext der Legende und des Passionals eingebunden.


[1]    Unter einem Legendar ist eine Sammlung von Heiligenlegenden zu verstehen. Vgl. Seidl, Stephanie: Blendendes Erzählen: narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters. Berlin [u.a.]: de Gruyter 2012, S. 41.

[2]    Hammer, Andreas: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 35.

[3]    Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 36.

[4]    Vgl. Seidl: Blendendes Erzählen, S. 46.

[5]    Ebd., S. 41.

[6]    Ebd., S. 42.

[7]     Vgl. Röhrich, Lutz: Drache, Drachenkampf, Drachentöter. In: EM 3. Berlin/New York: de Gruyter 1981, Sp. 787–820 (hier Sp. 789). Zur Etymologie dieses Wortes gibt es jedoch Meinungsverschiedenheiten, vgl. Seidl: Blendendes Erzählen, S. 51.

[8]    Ebd., Sp. 790.

[9]    Ebd., Sp. 797.

[10]   Ebd., Sp. 795.

[11]   Ebd.

[12]   Vgl. für einen Überblick der Forschung zu diesem Thema: Schwarz, Monika: Der Heilige Georg – Miles Christi und Drachentöter. Wandlungen seines literarischen Bildes in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Köln-Sülz: Kleikamp 1972, S. 86–88.

[13]   Haubrichs, Wolfgang: Georg, Heiliger. In: TRE 12. Berlin [u.a.]: de Gruyter 1984, S. 380–385 (hier S. 380).

[14]   Haubrichs: Georg, Heiliger, S. 381; Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 370.

[15]   Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 370.

[16]   Ebd., S. 371.

[17]   Die Stadt wird im Passional, im Gegensatz zu der Legenda Aurea, nicht mit einem Namen versehen.

[18]   Es wird im Folgenden ausschließlich verwendet und zitiert nach: Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des 13. Jahrhunderts. Zum ersten Mal herausgegeben und mit einem Glossar versehen von Friedrich Karl Köpke. Quedlinburg/Leipzig: Gottfr. Basse 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen Nationalliteratur 32). Abgekürzt wird mit der Sigle „III“, es folgen Seiten- und Versangaben. Das originale „ſ“ wird in direkten Zitaten kontinuierlich durch ein „S“ ersetzt.

[19]   Vermehrt werden Drachen in der mittelhochdeutschen Literatur als wurm bezeichnet, etymologisch könnte dies noch aus dem Germanischen abgeleitet werden, wo das Wort wurm ein Sammelbegriff für Reptilien jeglicher Art war, vgl. hierfür: Röhrich: Drache, Sp. 789.

[20]   Vgl. Röhrich: Drache, Sp. 790.

[21]   Die Bekreuzigung führt in anderen Heiligenlegenden, wie bspw. in der Margaretenlegende, bereits zum Sieg über den Drachen, in der Legende des Heiligen Georg ist dafür jedoch der Kampf entscheidender. Vgl. für die Legende der Heiligen Margarete: Das Passional: Eine Legendensammlung des 13. Jahrhunderts, S. 326–332.

[22]   Seidl: Blendendes Erzählen, S. 53.

[23]   Vgl. für die Möglichkeit dieser Interpretation, sowie für weitere vertretene Ansätze: Schwarz: Der Heilige Georg, S. 86.

[24]   Vgl. Röhrich: Drache, Sp. 792–797.

Grendel und Gollum – Ein Vergleich zweier Monster

J.R.R. Tolkien war Philologe und hat sich im Zuge dessen viel mit altenglischer Literatur beschäftigt. Dass ihn einige der Werke beim Schreiben seiner eigenen Bücher und der Erschaffung seiner eigenen Welt, Mittelerde, stark beeinflusst haben und ihm teils als Quelle für Ideen dienten, ist also nicht sonderlich verwunderlich. Da Tolkien sich im Besonderen mit dem altenglischen Epos Beowulf auseinandergesetzt hat, wurde in der Forschung wiederholt die These aufgestellt, dass ganze Handlungsstränge von Tolkiens Hobbit oder der Herr der Ringe-Trilogie von Beowulf beeinflusst sind. Auf diese umfassenderen Vergleiche wird dieser Artikel nicht näher eingehen. Stattdessen sollen die Ähnlichkeiten eines bestimmten Aspekts genauer beleuchtet werden. Tolkiens Welt Mittelerde ist reich an unterschiedlichsten Fabelwesen. Darunter findet man auch Monster. Monster gibt es wiederum auch im Beowulf einige und die spielen keine kleine – laut Tolkien sogar die größte – Rolle in den Handlungssträngen dieser Geschichte.[1] Zwischen den Monstern in Tolkiens Werken und denen im Beowulf gibt es einige Überschneidungen, darunter teilweise sogar sehr große Ähnlichkeiten, wie beispielsweise zwischen dem namenlosen Drachen aus Beowulf und dem Drachen Smaug im Hobbit.  In diesem Artikel sollen die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen zwei dieser Monster untersucht werden: Zum einen Grendel aus Beowulf, welcher den ersten großen Gegner für den namensgebenden Helden des Werkes darstellt und somit die Handlung des ersten Drittels des Buches maßgeblich beeinflusst. Zum anderen Gollum, aus Tolkiens Mittelerde, der für viele Leser zu den faszinierendsten Figuren dieser Welt zählt und der ebenfalls einen großen Teil zur Geschichte des Hobbits und der Herr der Ringe Bücher beiträgt.

Gemeinsamkeit Lebensraum

Gollums ersten Auftritt findet man im Hobbit, als Bilbo allein durch die Dunkelheit eines Höhlensystems in den Bergen irrt.[2] Das erste Auftreten der Figur wird also stark von der Umgebung, von Gollums Wohnort, mitgezeichnet. Er lebt auf einer „slimy island of rock“[3], die in der Mitte eines kleinen Sees liegt. Dieser See befindet sich sehr tief innerhalb des Berges, was dadurch klar wird, dass Bilbo von seinem ohnehin schon orientierungslosen Standort durch einen langen abschüssigen Gang immer tiefer in den Berg hinein wandert, bevor er an dem See ankommt.[4] Der ganze Ort ist vollkommen dunkel, sodass Bilbo zunächst absolut nichts sieht. Gollum dagegen, der hier zuhause ist, hat große, helle Augen, die als „lamp-like“[5] beschrieben werden, also in schwachem Licht strahlen. Scheinbar kann er mit ihnen auch sehr gut sehen, da er in der Dunkelheit von seiner kleinen Insel aus problemlos erkennt, dass Bilbo, der am Ufer des Sees steht, kein Ork ist.[6]

In dieser Beschreibung findet man die erste starke Ähnlichkeit zu Grendel. Auch Grendels erste Erwähnung beinhaltet seinen Wohnort. Gleich im ersten Grendel beschreibenden Satz heißt es: „[…] der gräßliche Unhold, der in der Finsternis hauste […]“[7]. Spezifischer wird beschrieben, dass Grendel in einem angrenzenden Moor lebt.[8] Im zweiten Teil der Geschichte, in dem Beowulf Grendels Mutter nach ihrem Rachezug zu ihrem Heim zurückverfolgt, wird die Behausung der beiden Monster näher beschrieben. Die Heldenschar kommt im Moor an ein Gewässer, das sie als Heimat des Monsters erkennen. Beowulf springt ins Wasser und wird von Grendels Mutter in Halle geführt, die sich unter Wasser befindet, in die aber kein Wasser eindringt.[9]  Sowohl Gollum, als auch Grendel, leben also in einer Art unterirdischen Höhle und werden mit Dunkelheit in Verbindung gebracht. Sie scheinen ebenfalls beide lichtscheu zu sein. Grendel greift in der ganzen Geschichte nur nachts an[10] und in Gollums Werdegang, den Gandalf in Die Gefährten Frodo beschreibt, gibt es einen Moment, in dem die Wärme und das Licht der Sonne anfangen, Gollum Schmerz zuzufügen und er sich bewusst in die Dunkelheit der Berge zurückzieht.[11] Auch der Bezug zu Wasser ist bei beiden Monstern gegeben. Grendel lebt im Moor in einem See und Gollum auf der schlammigen Insel in der Mitte des Bergsees. Gollums Bezug zum Wasser wird durch sein früheres Leben als Mitglied eines Hobbitvolkes, der seinerseits ein sehr wasserverbundenes Leben führte, noch verstärkt.[12] Auch die in der Dunkelheit leuchtenden Augen Gollums finden sich bei Grendel wieder. Im Beowulf heißt es: „Aus seinen Augen flammte, der Lohe gleich, ein gräßliches Licht.“[13]. Anders als bei Gollum lässt sich in Grendels Fall jedoch nicht sagen, ob dieses Licht zur Verbesserung seines Sehvermögens beiträgt.

Gemeinsamkeit Kain

Neben diesen charakteristischen Ähnlichkeiten gibt es eine weitere sehr deutliche Verbindung, auf die in der Forschung eingegangen wird, wenn es um die Gemeinsamkeiten zwischen Beowulf und Tolkiens Werken geht.[14] Sie besteht im Bezug zu der biblischen Geschichte von Kain. Im Fall von Grendel wird dieser Bezug direkt im Werk hergestellt. Grendel ist, wie andere Monster auch, ein Nachfahre Kains.[15] Er hat das Böse vererbt bekommen und lebt, wie sein Vorfahre, außerhalb der menschlichen Zivilisation im Exil. Gollum wird dagegen in kein Verwandtschaftsverhältnis zu Kain gesellt, sondern begeht den Sündenfall selbst. Sméagol, wie Gollum heißt, bevor er seine Wandlung zum Monster durchgemacht hat, angelt zusammen mit seinem Freund Déagol. Als Déagol dabei ins Wasser fällt, findet er den Ring. Sméagol möchte den Ring selbst gerne haben und tötet Déagol, als dieser ihm den Ring nicht freiwillig übergibt.[16] In der Erzählung ist zwar nicht die Rede von einer brüderlichen Verwandtschaft zwischen den beiden, aber aufgrund der Ähnlichkeit der Namen kann man zumindest vermuten, dass die beiden in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander stehen.[17] Sméagol, der daraufhin zu seiner Familie zurückkehrt, erfährt durch den Einfluss des Ringes eine stetige Wesensveränderung, die dazu führt, dass er ins Exil verbannt wird.[18] Sméagols beziehungsweise Gollums Geschichte erinnert sehr stark an die biblische Erzählung Kains.

Obwohl Grendel das Böse nur durch Kain geerbt hat und Gollum die böse Tat selbst verübt hat, sind die Parallelen durch den Bezug auf dieselbe biblische Geschichte doch deutlich.

Unterschiede

Trotz dieser deutlichen Parallelen zwischen den beiden Monstern gibt es auch grundlegende Unterschiede. Diese betreffen zum einen das Aussehen: Von den leuchtenden Augen abgesehen bestehen keine nennenswerten Ähnlichkeiten. Gollum wird als „a small slimy creature“[19] beschrieben. Grendel dagegen wird als „Riese“[20] bezeichnet. Die Größe wird durch das spätere tragen seines Kopfes, was nur von vier Männern zusammen möglich ist, besonders deutlich veranschaulicht.[21] Dazu hat Grendel Klauen,[22] die in Gollums Erscheinungsbild ebenfalls nicht auftauchen.

Ein anderer Unterschied liegt darin, dass Grendel wie erwähnt als Monster geboren wurde und durch sein Erbe vollständig böse zu sein scheint. Gollum war dagegen früher mal ein Wesen, das einem Hobbit ähnlich ist.[23] Ob man Hobbits als Monster bezeichnen kann oder nicht, ist eine Frage auf die auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Aber sie sind in Tolkiens Welt zumindest recht eindeutig keine bösen Wesen. Sméagol wird erst ab dem Zeitpunkt, an dem der Ring in seinem Leben auftaucht und er Déagol tötet, böse. Und selbst nach all den Jahren in der Dunkelheit, in denen sein ehemaliges Wesen immer mehr verschwunden ist, scheint der gute Teil im Kontakt mit Frodo und Sam teils wieder ein wenig hervorzukommen.[24] Gollum scheint, im Gegensatz zu Grendel, also nicht von Natur aus böse zu sein.

Vielleicht ist es auch diese Wesensverschiebung, die dafür sorgt, dass die beiden Monster eine unterschiedliche Rolle in der Geschichte einnehmen. Während Grendel einen klaren Gegner des Helden darstellt, wechselt Gollums Rolle zwischen Gegner und Konkurrent um den Besitz des Ringes und Verbündetem der Helden, der ihnen hilft ihre Aufgabe zu erfüllen ­– wenn auch teils eher widerwilli­g –, hin und her.

Fazit

Gollum kann aufgrund der beschriebenen Parallelen und trotz, beziehungsweise vielleicht auch wegen der Unterschiede, als moderne Interpretation von Grendel gesehen werden. Von beiden entsteht zunächst der Eindruck eines Ungeheuers, welches  in einiger Entfernung zur menschlichen Zivilisation, und in der Dunkelheit lebt und eine starke Verbindung zum Wasser hat. Die Ähnlichkeit wird durch den Sündenfall des Bruder- beziehungsweise Verwandtschaftsmordes aus Eifersucht und die anschließende Verbannung ins Exil noch vertieft. Diese Tat wird in Tolkiens Werken nicht von einem Vorfahren verübt, sodass Gollum nicht als geborenes Böses dasteht. Stattdessen kann man ihn als eine Figur betrachten, deren seelischer Verfall nachvollziehbar ist und die den Zugang zu ihrer guten Seite vielleicht nicht vollständig verloren hat. Damit kann man Gollum als eine im Äußeren etwas umgestaltete Neuinterpretation von Grendel sehen, die einem einen tieferen Einblick in das Innenleben des Monsters gewährt.
Die These, dass Tolkien bei der Erschaffung der Figur Gollums tatsächlich so stark von Grendel beeinflusst wurde wie eben dargestellt, lässt sich nicht mit endgültiger Sicherheit beweisen, da Tolkien selbst dazu keine ausführliche Auskunft gegeben hat.[25] Aber die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Monstern und die Tatsache, dass Tolkien sich selbst stark mit Beowulf auseinandergesetzt hat, lässt zumindest die Vermutung auf einen gewissen Einfluss von der Figur Grendel auf die Entstehung von Gollum nicht unplausibel erscheinen.


[1]    Vgl. Tolkien, John R. R.: The Monsters and the Critics. In: The Monsters and the Critics and other Essays. Hg. v. Christopher Tolkien. London: HarperCollins, S. 5-48.

[2]    Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Hobbit, London 2006, S. 81ff.

[3]    Ebd. S. 85.

[4]    Ebd. S. 83f.

[5]    Ebd. S. 85.

[6]    Ebd. S. 85.

[7]    Beowulf: Ein altenglisches Heldenepos. Übersetzt und herausgegeben von Martin Lehnert. Reclam, Stuttgart 2004 S. 32, Vers 86f.

[8]    Vgl. ebd. S. 33, Vers 103f.

[9]    Vgl. ebd. S. 94ff., Vers 1398ff.

[10]  Vgl. ebd.

[11]  Vgl.Tolkien, John R.R.: The Lord of the Rings. The Fellowship of the Ring, London 1999, S. 71.

[12]  Ebd. S. 69.

[13]  Beowulf,  S. 60, Vers 726f.

[14]  Siehe zum Beispiel Nelson, Brent: Cain-Leviathan Typology in Gollum and Grendel. In: Extrapolation: A Journal of Science Fiction and Fantasy 49/3 (2008)

[15]  Beowulf, S. 33, Vers 106ff.

[16]  Tolkien: The Fellowship of the Ring, S. 70.

[17]  Vgl. Brent: Cain-Leviathan Typology in Gollum and Grendel, S. 467.

[18]  Tolkien: The Fellowship of the Ring, S. 70f.

[19]  Tolkien,: The Hobbit, S. 84.

[20]  Beowulf, S. 61, Vers 761.

[21]  Ebd., S. 104, Vers 1635ff.

[22]  Ebd., S. 60, Vers 738.

[23] Tolkien: The Fellowship of the Ring, S. 69.

[24]  Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Lord of the Rings. The Two Towers, London 2007.

[25]  Vgl. Brent: Cain-Leviathan Typology in Gollum and Grendel., S. 466.

Kleider machen Leute – Die Symbolik der Kleidung Cundrîes in Wolframs von Eschenbach Parzival

Die Beschreibung der Kleidung, die sogenannte Gewanddescriptio, einzelner Figuren spielt in der Literatur des Mittelalters eine zentrale Rolle. Der Parzival Wolframs von Eschenbach nimmt die Stellung eines der kompliziertesten, facettenreichsten und vielschichtigsten Werke der höfischen Klassik ein und weist komplexe und symbolträchtige Gewanddarstellungen auf.[1]

Cundrîe, die Gralsbotin und Vermittlerin zwischen der Grals- und Artuswelt, ist eine für die Handlung entscheidende Figur, da sie Parzival zunächst verflucht (bei Pappas Verfluchungsepisode genannt[2]) und ihn schließlich zum Gralskönig macht (bei Pappas Berufungsepisode genann[3]). Cundrîe ist rätselhaft, widersprüchlich und grotesk. Ihr monströs-hässlicher Körper und ihr anmaßendes und aggressives Verhalten in der Verfluchungsepisode stehen in starkem Kontrast zu ihrer Bildung und ihrer vornehmen, wertvollen Kleidung.

Da Kleidung im Mittelalter nicht nur zur Bedeckung des Körpers diente, also zum Schutz vor Witterung und unziemlichen Blicken, und nicht nur ästhetischen bzw. modischen Charakter hatte, sondern vielmehr etwas über den gesellschaftlichen Stand und die Gesinnung des Trägers aussagte, war es tabu, gegen die Kleiderordnung zu verstoßen. Das Gewand verfügte dementsprechend über eine soziale Dimension, die stärker ins Gewicht fiel als seine reine praktische Zweckmäßigkeit.[4] Wolfram gibt der Beschreibung von Cundrîes Kleidung viel Raum, was womöglich auf einen großen Symbolgehalt schließen lässt und im Folgenden näher betrachtet wird.

Cundrîes erster Auftritt – Verfluchnung

Cundrîe taucht im VI. Buch völlig überraschend mit ihrem Maultier auf, grüßt niemanden, beschimpft und verflucht Parzival und die anderen Angehörigen des Artushofes und reitet, ohne sich zu verabschieden, fort. Parzival sei aufgrund seines Verhaltens nicht würdig, Mitglied der Tafelrunde des König Artus zu sein. Doch vor ihrem Verschwinden zeigt sie ihre Traurigkeit und Verzweiflung:

„Cundrîe was selbe sorgens pfant.
al weinde si die hende want,
daz manec zaher den andern sluoc:
grȏz jâmer se ûz ir ougen truoc.
die maget lêrt ir triuwe
wol klagen ir herzen riuwe.
wider für den wirt si kêrte,
ir mær si dâ gemêrte.“[5]

Und weiter heißt es: „Cundrîe la surziere, diu unsüeze un doch diu fiere.“[6] Trotz ihres unangenehmen Verhaltens und ihrer körperlichen Hässlichkeit verfügt Cundrîe über Adel und triuwe. Triuwe ist in der Literatur des Mittelalters – insbesondere im Kontext höfischer Romane bzw. Ritterromane – der Sammelbegriff für gute Eigenschaften: Treue, Zuverlässigkeit, Liebe und Ehrgefühl.[7] Es ist nicht klar, warum Cundrîe sich anmaßt, Parzival zu verfluchen. Der Erzähler sagt nicht, dass der Gralskönig sie schickt. Sie handelt wahrscheinlich eigeninitiativ.[8] In Bezug auf ihren Körper wird sie beschrieben als Mädchen, das anders aussieht als andere schöne und feine Damen: Ihr langer Zopf ist schwarz und borstig wie die Rückenborsten einer Sau, die Augenbrauen sind zu Zöpfen geflochten und stehen ab, ihr Gesicht ist stark behaart. Cundrîes Gesicht, Zähne, Ohren, Haut und Hände ähneln denen wilder Tiere.[9] Durch ihre äußerliche Andersartigkeit bzw. ihre Mischung aus menschlichen und tierischen Attributen ist sie nach mittelalterlicher Weltanschauung den monströsen Lebewesen zuzuordnen.[10]

Cundrîe kommt als überaus gebildete Person daher. Sie spricht mehrere Sprachen und ist bewandert in Dialektik, Geometrie und Astronomie. Zudem bezeichnet Wolfram sie mehrfach als „Cundrîe la surziere“[11], was mit Zauberin übersetzt werden kann. Der Name Cundrîe bedeutet allerdings auch „Kundige“, „Wissende“ und „Künderin.“[12] Die Kleidung der Gralsbotin ist ausgesprochen edel, kostbar und bemerkenswert. Sie trägt einen blauen Umhang mit französischem Schnitt, darunter Seide und einen Pfauenhut mit Borte aus London, der mit golddurchwirkter Seide gefüttert ist:

„ein brûtlachen von Gent,
noch plâwer denne ein lâsûr,
het an geleit der freuden schûr:
daz was ein kappe wol gesniten
al nâch der Franzoyser siten:
drunde an ir lîb was pfelle guot.
von Lunders ein pfæwin huot,
gefurriert mit einem blîalt
(der huot was niwe, diu snuor niht alt),
der hieng ir an dem rücke.“[13]

Diese Art der Kleidung ist im Mittelalter Adligen vorbehalten.[14]

Cundrîes zweiter Auftritt – Berufung

In der Berufungsepisode im XV. Buch gibt sich Cundrîe versöhnlich und demütig. Sie wirft sich Parzival zu Füßen, bittet um Entschuldigung[15] und verkündet, dass er Herr des Grals werden soll.[16] Bezüglich ihres Äußeren, teilt Wolfram dem Leser mit, ist sie unverändert:

„si fuorte och noch den selben lîp,
den sô manc man unde wîp
sach zuo dem Plimziœle komm.
ir antlütze ir habt vernomn:
ir ougen stuonden dennoch sus,
gel als ein thopazîus,
ir zene lanc: ir munt gap schîn
als ein vîol weitîn.“[17]

Die Bildung Cundrîes wird in dieser Szene dadurch thematisiert, dass sie Französisch spricht[18] und ihr astronomisches Wissen durch die Erläuterung der Planeten kundtut.[19] Die Kleidung ist genauso herausragend schön wie in der Verfluchungsepisode. Ihr Umhang ist aus schwarzem Samt, „noch swerzer denn ein gênît.“[20] In den Umhang sind mit arabischem Gold viele Turteltauben eingewebt. Ihr Kopfputz ist hoch, strahlend weiß und mit Schleiern besetzt, die ihr Gesicht zunächst verhüllen.[21] Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass sich das Verhalten und das Gewand Cundrîes verändert haben, das Gewand insbesondere in Bezug auf die Farben und Bilder.

Farbsymbolik

Wie bereits einleitend erläutert, hat das Gewand in der Tradition des Mittelalters eine Signalwirkung bezüglich des Standes und der inneren Haltung des Trägers. Nach Raudszus illustriert die Gewandbeschreibung den Charakter einzelner Personen und deren epischen Stellenwert in der Handlung.[22] Ausschlaggebende Kriterien zur Beurteilung der Kleidung sind das Material, der Schnitt, die Bilder und die Farben. Cundrîe trägt bei ihrem ersten Auftritt einen blauen „brûtlachen“[23] aus Gent nach französischem Schnitt, was einem kostbaren Wollstoff aus der belgischen Stadt entspricht. Gent war im Mittelalter berühmt für seine Webereien.[24] Der französische Schnitt steht für modische Raffinesse, denn der französische Hof hatte im Mittelalter eine starke Vorbildfunktion.[25] Die Farbe Blau verkörpert in der Überlieferung des Mittelalters das Himmlische. Sie ist das Symbol für Treue, Dauer und Festigkeit und ist als Farbattribut in ikonographischen Darstellungen Maria, der Mutter Gottes, zuzuordnen.[26] Bei ihrem zweiten Auftritt trägt Cundrîe einen schwarzen Umhang. Schwarz hatte im Mittelalter eine polyvalente Symbolik. Schon Isidor von Sevilla widmete sich in seinen Etymologien dem Thema Kleidung und schreibt schwarzer Kleidung den Ausdruck von Trauer zu.[27] Ferner kann die Farbe auch für Wut, Beleidigung, Kränkung oder allgemein für problematische Umstände stehen[28] sowie für soziales und topographisches Außenseitertum.[29] Schwarz war als dunkelste aller Farben relativ aufwändig herzustellen und markiert in jedem Fall das Besondere. Die Kopfbedeckung Cundrîes ist hoch und weiß. Die Farbe Weiß steht für Keuschheit, für Offenbarung und das Zugeständnis von Liebe, die erste Zuneigung und deren Erwiderung.[30]

Bildsymbolik

Cundrîe trägt in der Verfluchungsszene einen Pfauenhut. Im Medieval Bestiary wird der Pfau folgendermaßen beschrieben:

„The hard flesh of the peacock represents the minds of teachers, who remain unaffected by the flames of lust. The fearful voice of the peacock is like the voice of the preacher who warns sinners of their end in hell. The ‘eyes’ on the peacock’s tail are to signify the ability of the teachers to foresee the danger we all face in the end. The raising of the peacock’s tail when it is praised should remind us to not let pride from praise affect us, so we do not expose our ugly vanity.”[31]

Demzufolge werden dem Pfau, neben Keuschheit, die Fähigkeit zur Warnung vor Gefahren und vor den Folgen begangener Sünden zugeschrieben.

Im Buch der Natur von Conrad von Megenberg, der ersten mittelalterlichen Enzyklopädie in deutscher Sprache, heißt es weiter, der Pfau sei von sich eingenommen. Zudem ist das Tier Sinnbild frommer Prälaten, die sich durch geistliche Würde und fromme Werke auszeichnen. Ergänzend zur Bildsymbolik wird auf die Farbsymbolik eingegangen: „Die Pfauen haben saphirblaue Brüste und Hälse, das Sinnbild festen Glaubens und der Beständigkeit, da sie eine rechte Himmelsfarbe ist.“[32]

Bei ihrem zweiten Auftritt sind Turteltauben, das Wahrzeichen des Grals, in Cundrîes prächtigen Umhang eingewebt. Die Turteltaube wird in der Enzyklopädie Isidors beschrieben als scheuer Vogel, der den Menschen aus dem Weg geht.[33] Conrad von Megenberg bezeichnet die Turteltaube als keusch und schamhaft. Sie ist treu und geduldig, rein und bieder. Durch das Blut des rechten Flügels der Turteltaube können kranke Augen geheilt werden, denn die Kranken erkennen mittels des eingeriebenen Blutes ihre Sünde und ihr unsittliches Wesen.[34]

Fazit

Die Gewänder Cundrîes verleihen ihr einen besonderen Status, da sie sich durch Auffälligkeit, Kostbarkeit und einen hohen Symbolgehalt auszeichnen. Das Blau ihres Capes und ihres Pfauenhutes ist Sinnbild ihrer absoluten Treue gegenüber der Gralsgesellschaft. Durch den Vergleich mit der Farbe Marias wird die Keuschheit und Reinheit der Gralsbotin deutlich, der trotz ihres schlechten Benehmens in der Verfluchungsepisode Jungfräulichkeit[35] und triuwe[36] zugeschrieben werden. Der Pfau steht für ein weises, vorausschauendes Wesen, was Cundrîes Vorwürfe gegenüber Parzival und der Artusgesellschaft erklärt. Der Pfauenhut hat jedoch auch eine negative Konnotation, denn der Pfau ist von sich eingenommen. Dieses Attribut spiegelt Cundrîes superbiaHochmut in der Verfluchungsepisode wider, da sie nicht auf Anweisung des Gralskönigs, sondern wie es scheint, eigenmächtig handelt.[37] Der schwarze Umhang in der Berufungsepisode steht für die Reue und die Demut Cundrîes. Nachdem sich Parzival nun grundlegend gewandelt und für die Rolle des Gralskönigs qualifiziert hat, entschuldigt sie sich für ihr schlechtes Benehmen bei ihrer ersten Begegnung, was durch die Farbsemantik verstärkt wird. Ihr weißer Kopfputz unterstreicht abermals ihre jungfräuliche Keuschheit und ihre Liebe zur Gralsgesellschaft. Das Bild der Turteltauben auf ihrem Umhang ist einerseits Ausdruck für die isolierte Stellung der Gralsgesellschaft, andererseits für die unbedingte Integrität Cundrîes. Das Blut der Turteltaube, das Kranke und Verblendete heilt, steht für die vorausschauende Kompetenz der Botin. Durch ihren Gesinnungswandel in der Berufungsepisode wird klar, das Cundrîe zwar äußerlich, d. h. körperlich, hässlich, aber innerlich schön ist. Das widerspricht der höfischen, mittelalterlichen Auffassung, dass äußere Hässlichkeit mit innerer Hässlichkeit einhergeht.[38] Die Gewänder der Gralsbotin verstärken ihr schönes Inneres. Sie symbolisieren jederzeit den hohen Stand der Cundrîe als Mitglied der Gralsgesellschaft und ihre Gesinnung als kompromisslos treue Person voller triuwe.


[1] Vgl. Raudszus, Gabriele: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. Hildesheim: Georg Olms 1985, S. 100.

[2] Vgl. Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 158.

[3] Vgl. ebd., S. 167.

[4] Vgl. Keupp, Jan: Mode im Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, S. 11.

[5] Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2003: 318, 5-12.

[6] PZ: 319, 1-2.

[7] Hennnig, Beate: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 324-325.

[8] Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler 2004, S. 76.

[9] Vgl. PZ 313, 13-30; 314, 1-10.

[10] Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 17-18.

[11] PZ: 312, 26; 319, 1, 19.

[12] Vgl. Bräuer, Rolf: Die arthurische Dämonologie. Umdeutung eines archaischen Mythos zu einem mythischen Teilsystem ritterlich-höfischer Utopie. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. Mittelaltermythen Band 2. St. Gallen: UVK 1999, S. 85.

[13] PZ 313 4-13.

[14] Vgl. Oster, Carolin: Die Farben höfischer Körper. Farbattribuierung und höfische Identität in mittelhochdeutschen Artus- und Tristanromanen. Berlin: De Gruyter 2014, S. 63.

[15] Vgl. PZ: 779, 22-26.

[16] Vgl. PZ: 781, 16.

[17] PZ: 780, 15-22.

[18] PZ 779, 11.

[19] PZ: 786, 1-21.

[20] PZ: 778, 20.

[21] PZ: 778, 21-30.

[22] Vgl. Raudszus, S. 138.

[23] PZ: 313, 4.

[24] Vgl. Martin, Ernst (Hg.): Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Zweiter Teil: Kommentar. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 266.

[25] Vgl. Raudszus, S. 127.

[26] Vgl. Raudszus, S. 128.

[27] Vgl. Müller, Mechthild / Babin, Malte-Ludolf / Riecke, Jörg (Hg.): Das Thema Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Summarium Heinrici 1. Berlin: De Gruyter 2013, S. 356.

[28] Vgl. Oster, S. 67.

[29] Vgl. ebd., S. 245.

[30] Vgl. ebd., S. 67.

[31] The Medieval Bestiary. Animals in the Middle Ages. Stichwort: peacock. Unter: http://bestiary.ca/beasts/beastalphashort.htm [gesehen am 01.07.2018].

[32] Conrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Greifswald: Julius Abel 1897, S. 177.

[33] Isidor von Sevilla: Etymologiae. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008, S. 485.

[34] Vgl. Conrad von Megenberg, S. 187-188.

[35] PZ: 312, 6.

[36] PZ: 318, 9.

[37] Vgl. Pappas, S. 169.

[38] Vgl. Bumke, S. 76-77.

Kriemhild als Sittenmonster?

In der Literatur des Mittelalters tauchen immer wieder Monster aller Art auf: von Drachen im Beowulf 48 über Einhörner im Millstätter Physiologus50 bis hin zu dem Mischwesen Kundrie im Parzival.55 All diese Monster teilen die Eigenschaft der körperlichen Anomalie und werden in anderen Artikeln auf diesem Blog genauer untersucht und in ihrer Monstrosität beleuchtet. Dieser Artikel beschäftigt sich hingegen mit einer anderen Form des Monströsen, die von dem französischen Diskurstheoretiker Michel Foucault definiert wurde: dem Sittenmonster.

Nachdem die schöne Kriemhild im Nibelungenlied56 ihren Gatten Siegfried verliert, ist sie von Schmerz und Kummer so geplagt, dass sie tagelang nicht aufhört zu weinen. Auch viele Jahre später trägt sie diesen Kummer mit sich und ersinnt einen Racheplan: Sie lädt die Mörder ihres Mannes in ihr neues Reich, sodass sie dort den Tod finden sollen. Sie setzt ihren Racheplan mit Hilfe treuer Gefolgsleute in die Tat um. Durch dieses Vorhaben begeht sie einen gesellschaftlichen Tabubruch und im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern sie deswegen als ein sogenanntes Sittenmonster klassifiziert werden kann.

Das Sittenmonster nach Michel Foucault

Bevor der gesellschaftliche Bruch genauer betrachtet wird, den Kriemhild durch ihre Rache begeht, muss definiert werden, was ein Sittenmonster nach Michel Foucault ist. In seinen Vorlesungen über das Anormale, die er im Jahre 1975 unter dem Originaltitel Les Anormaux vor Studierenden des Collège de France hielt, beschreibt der Diskurstheoretiker das Monströse, wie folgt:

[…] das Monster ist durch die Tatsache definiert, daß es qua Existenz und Form nicht nur eine Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze darstellt, sondern auch eine Verletzung der Gesetze der Natur. In einem doppelten Register stellt es durch seine bloße Existenz einen Gesetzesbruch dar. […] Es ist die Grenze, es ist das Moment der Umkehrung des Gesetzes, es ist zugleich die Ausnahme, die nur in Extremfällen auftritt. Sagen wir, das Monster ist das, was das Unmögliche und Verbotene kombiniert.57 

Anhand dieser Definition wird bereits deutlich, dass Foucault das Monströse vor allem als Umkehrung des Normalen versteht. Durch sein bloßes Sein verletzt das Monster die Regeln und Gesetze der Natur und der gesellschaftlich akzeptieren Umgangsformen. Normal ist dabei, was in der Mehrheit der Gesellschaft und Natur vorzufinden ist. Bevor Foucault zu einem späteren Zeitpunkt beschreibt, was er mit dem Begriff des Sittenmonsters genau meint, gibt er zuerst konkretere Beispiele für auftretende Anomalien. Diese werden für die spätere Einordnung des Verhaltens von Kriemhild wichtig und daher sollen sie an dieser Stelle genannt werden:

Es [das Monster] ist ein Mischgebilde aus zwei Arten, ein Mixtum zweier Arten: das Schwein mit dem Schafskopf ist ein Monster. Es ist eine Mischung aus zwei Individuen: Wer zwei Köpfe hat und einen Leib, zwei Leiber und einen Kopf, ist ein Monster. Es ist die Mischung aus zwei Geschlechtern: Wer zugleich Mann und Weib ist, ist ein Monster.58 

In diesen vorangegangenen Beispielen beschränkt sich Michel Foucault vor allem auf die körperlichen Anomalien, die ein Wesen in seinen Augen zu einem Monster machen. Hierbei geht es noch nicht um das Sittenmonster, das später genauer betrachtet wird, sondern in einem ersten Schritt erst einmal noch um die Abweichung von einer körperlichen Norm. Die Mischung aus zwei Geschlechtern sticht hier allerdings schon heraus.

Selbstverständlich kann auch sie noch als eine körperliche Mischung aus Mann und Frau verstanden werden. Man kann allerdings auch annehmen, dass damit ein biologisch weibliches Wesen gemeint ist, das kontinuierlich männlich-stereotype Verhaltensweisen an den Tag legt. Es ist in diesem Zusammenhang zu unterstreichen, dass die Definition klassisch männlicher bzw. weiblicher Verhaltensweisen immer auch abhängig von gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen ist und einem historischen Wandel unterliegt. Die Annahme von männlichen und weiblichen Stereotypen muss demnach immer im Kontext der jeweiligen Zeit verstanden werden.59 

Foucault erweitert seine oben genannte Definition des Monsterbegriffes im Anschluss um den Begriff des Sittenmonsters. Dazu stellt er folgende Definition auf:

[Es] läßt sich dagegen beobachten, daß sich die Beziehung umkehrt und das hervortritt, was man den systematischen Verdacht einer aller Kriminalität zugrundliegenden Monstrosität nennen könnte. Jeder Kriminelle könnte demnach ein Monster sein, wie seinerzeit das Monster eine Chance hatte, ein Krimineller zu sein.60 

Dieser von Foucault beschriebenen Grundannahme, dass in jedem Kriminellen ein Monster steckt, liegt die Idee zugrunde, dass „der Kriminelle einer [ist], der den von ihm unterzeichneten Pakt [mit der Gesellschaft] bricht und sein persönliches Interesse über jenes der Gesetze stellt, welche die Gesellschaft, der er angehört, regieren.“61 

Ein Monster kann nach Foucault also auch ein Mensch sein, der kriminelle Verhaltensweisen an den Tag legt und damit den Gesellschaftsvertrag bricht, den ein jedes Individuum durch sein Leben in einer Gruppe mit anderen Menschen eingeht. Das Monströse liegt in diesem Fall vor allem darin begründet, dass durch diese Abweichungen von der Norm die von der Natur gegebene Ordnung in Frage gestellt und durcheinander gebracht wird. Hier handelt der Kriminelle also gegen die Natur und ist den körperlich anormalen Monstern in dieser Hinsicht ähnlich.

Kriemhild als Sittenmonster

Im nächsten Schritt sollen die Verhaltensweisen der Kriemhild aus dem Nibelungenlied genauer betrachtet und unter Bezugnahme auf die Monsterdefinition nach Michel Foucault eingeordnet werden.

In der fünften Aventiure des Nibelungenliedes62 trifft Kriemhild zum ersten Mal auf ihren späteren Ehemann Siegfried. Es ist zu erwähnen, dass ihr Treffen in einem höfischen Kontext stattfindet und damit bestimmten Regeln folgen muss. Kriemhild ist als Schwester ihren drei Brüdern untergeordnet, die entscheiden, wann und wen ihre Schwester treffen darf. Erst nachdem Siegfried für die drei Brüder in den Kampf gezogen ist und gesiegt hat, darf er Kriemhild sehen. Der von Foucault beschriebene Gesellschaftsvertrag und die von ihm vorgegebenen höfischen Umgangsformen werden zu diesem Zeitpunkt strikt eingehalten. Kriemhild ist sich ihrer Rolle als höfische, unverheiratete Dame bewusst und handelt der Norm entsprechend.63

Um die Wichtigkeit der höfischen Umgangsformen zu unterstreichen, sollen folgende Verse von Kriemhilds Bruder Gernot zitiert werden:

Ir heizet Sîvride zuo mîner swester kumen.
daz in diu maget grüeze, des hab wir immer frumen.
diu nie gegrüezte recken, diu sol in grüezen pflegen.
dâ mit wir haben gewunnen den vil zierlichen degen.“

Dô giengens wirtes mâge, dâ man den helt vant.
si sprâchen zuo dem recken ûzer Niderlant:
„iu hât der kunec erloubet, ir sult zu hove gân.
sîn swester sol iuch grüezen, daz ist zen êren iu getân.64 

Anhand dieses Textbeleges wird deutlich, welche Rolle Kriemhild am Hof der Könige aus dem Burgundenland spielt. Sie wird einem erfolgreichen und wohlhabenden Ritter versprochen, um die höfischen und damit gesellschaftlichen Regeln einzuhalten und zwei Häuser miteinander zu verbinden. Das ist ihre gesellschaftlich festgelegte Rolle, gegen die sie sich nicht auflehnt. Sie folgt zu diesem Zeitpunkt noch dem Gesellschaftsvertrag und zeigt keinerlei Anzeichen von Monstrosität. Ganz im Gegenteil wird sie als besonders schön und begehrenswert beschrieben:

Nu gie diu minnecliche, alsô der morgenrôt
tuot ûz den trüeben wolken. dâ schiet von maneger nôt,
der si dâ truog in herzen und lange het getân.
er sach di minneclichen nu vil hêrlichen stan.

Jâ lûhte ir von ir waete vil manec edel stein.
ir rôsenrôtiu varwe vil minneclichen schein.
ob iemen wunschen solde, der kunde niht gejehen,
daz er zu dirre werelde het iht schoeners gesehen.65 

Für den Beginn des Nibelungenliedes lässt sich festhalten, dass Kriemhild im Rahmen der üblichen höfischen Verhaltensweisen und Umgangsformen handelt und nicht aus den gesellschaftlichen Erwartungen herausbricht. Dieses ändert sich jedoch viele Aventiuren später, nachdem Siegfried von Hagen ermordet wurde und seine Witwe, die inzwischen neu mit dem König Etzel verheiratet ist, beschließt, ihn zu rächen.  Kriemhild beschließt jeden zu morden, der für den Mörder ihres verstorbenen Mannes Siegfried kämpft. Folgende Verse unterstreichen dabei die Erbarmungslosigkeit der Königin.

Dô sprach diu kuneginne: „ir helde vil gemeit,
nu gêt der stiege nâher unde rechet mîniu leit.
daz will ich immer dienen, als ich von rehte sol.
der Hagenen übermüete, der gelôn ich im wol.

Lât einen ût dem hûse niht komen überal.“
si hiez viern enden zünden an den sal.
„sô werdent wol errochen elliu mîniu leit.“
di Etzeln degene wurden schiere bereit.

Di nâhe hi ûze stuonden, di tribens in den sal
mit slegen unde mit schüzzen. des wart vil grôz der schal.
doch wolden nie gescheiden di fürsten und ir man.
sine konden vor ir triuwen einander niht verlân.

Den sal, den hiez dô zünden daz Etzeln wîp.
dô quelte man den recken mit fiuwer dâ den lîp.
daz hûs von einem winde vil balde allez bran.
ich waene, daz volc enheinez grôzer angest nie gewan.66 

Kriemhild bricht an dieser Stelle mit den höfischen Gesetzen, in dem sie ihre Rolle als Königin in den Hintergrund stellt und ihre Macht über die Recken ihres Mannes für ihre Rache nutzt. Traditionell ist sie als Königin nicht diejenige, die Befehle erteilt und hinter dem Rücken ihres Mannes, der nichts von dem von ihr geplanten Hinterhalt und Racheplänen weiß, handelt. Sie schrickt in diesem Moment auch nicht davor zurück, ihre eigenen Brüder zu ermorden, was ebenfalls ein gesellschaftlicher Tabubruch ist.67 

Die von Kriemhild begangene Rache an den Mördern Siegfrieds, der einen Tabubruch darstellt, wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert und führt zu ihrem Tod. Nachdem Kriemhild neben ihrem Bruder Gunther auch Hagen von Tronje umbringt, rächt Hildebrant diesen.

Dô sprach der alte Hildebrant: jâ geniuzet si des niht,
daz si in slahen torste. Swaz mir dâ von geschiht,
swi er mich selbe braehte in angestliche nôt,
iedoch sô will ich rechen des küenen Tronegaeres tôt.

Hildebrant mit zorne zuo Kriemhilde spranc.
er sluoc der küneginne einen swaeren swertswanc.
jâ tet ir diu sorge von hildebrande wê.
Waz mohte si gehelfen, daz si groezlichen schrê?

Dô was gelegen aller dâ der veigen lîp.
ze stucken was gehouwen dô daz edele wîp.
Dieterîch und Etzel weinen dô began.
si klagten innecliche beide mâge und man.68 

Fazit

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Kriemhild zu Beginn des Nibelungenliedes eindeutig im Rahmen der gesellschaftlichen Normen handelt und damit keinesfalls mit dem Gesellschaftsvertrag, den sie durch ihr Leben am Hof mit den Menschen um sich herum eingegangen ist, bricht. Die Trauer und der Schmerz um den Tod ihres Mannes Siegfried scheint in ihr allerdings einen Wandel ausgelöst zu haben. Sie legt ihre höfische Umgangsform ab und entschließt sich entgegen den von ihr erwarteten weiblich-stereotypen Verhaltensweisen zu handeln. Sie beordert die Recken ihres neuen Mannes dazu zu morden. Dabei nimmt sie die Rolle der Befehlshaberin ein und bricht in diesem Moment ein erstes Tabu, da sie dies alles hinter dem Rücken ihres Mannes plant, der der König und damit der eigentliche Befehlshaber über seine Truppen ist. Dass sie dabei unterstreicht, dass sie ihren Gegnern möglichst viel Schmerz und Qual zufügen möchte, macht noch einmal deutlich, wie wichtig ihr die Rache ist.

Es lässt sich also aufgrund der Definition des Sittenmonsters, die zu Beginn des Textes besprochen wurde, sagen, dass Kriemhild monströse Verhaltensweisen an den Tag legt. Als Dame in einem höfischen Kontext, zeigt sie in immer wieder für diese Zeit stereotypisch-männliche Verhaltensweisen und begeht damit einen gesellschaftlichen Tabubruch. Wie Foucault schrieb, ist ein Sittenmonster eine „Mischung aus zwei Geschlechtern: Wer zugleich Mann und Weib ist, ist ein Monster.“69  Ausgehend von dieser Definition kann Kriemhild aus oben beschriebenen Gründen durchaus als Sittenmonster verstanden werden.