Kriemhild als Sittenmonster?

In der Literatur des Mittelalters tauchen immer wieder Monster aller Art auf: von Drachen im Beowulf 1 über Einhörner im Millstätter Physiologus2 bis hin zu dem Mischwesen Kundrie im Parzival.3 All diese Monster teilen die Eigenschaft der körperlichen Anomalie und werden in anderen Artikeln auf diesem Blog genauer untersucht und in ihrer Monstrosität beleuchtet. Dieser Artikel beschäftigt sich hingegen mit einer anderen Form des Monströsen, die von dem französischen Diskurstheoretiker Michel Foucault definiert wurde: dem Sittenmonster.

Nachdem die schöne Kriemhild im Nibelungenlied4 ihren Gatten Siegfried verliert, ist sie von Schmerz und Kummer so geplagt, dass sie tagelang nicht aufhört zu weinen. Auch viele Jahre später trägt sie diesen Kummer mit sich und ersinnt einen Racheplan: Sie lädt die Mörder ihres Mannes in ihr neues Reich, sodass sie dort den Tod finden sollen. Sie setzt ihren Racheplan mit Hilfe treuer Gefolgsleute in die Tat um. Durch dieses Vorhaben begeht sie einen gesellschaftlichen Tabubruch und im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern sie deswegen als ein sogenanntes Sittenmonster klassifiziert werden kann.

Das Sittenmonster nach Michel Foucault

Bevor der gesellschaftliche Bruch genauer betrachtet wird, den Kriemhild durch ihre Rache begeht, muss definiert werden, was ein Sittenmonster nach Michel Foucault ist. In seinen Vorlesungen über das Anormale, die er im Jahre 1975 unter dem Originaltitel Les Anormaux vor Studierenden des Collège de France hielt, beschreibt der Diskurstheoretiker das Monströse, wie folgt:

[…] das Monster ist durch die Tatsache definiert, daß es qua Existenz und Form nicht nur eine Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze darstellt, sondern auch eine Verletzung der Gesetze der Natur. In einem doppelten Register stellt es durch seine bloße Existenz einen Gesetzesbruch dar. […] Es ist die Grenze, es ist das Moment der Umkehrung des Gesetzes, es ist zugleich die Ausnahme, die nur in Extremfällen auftritt. Sagen wir, das Monster ist das, was das Unmögliche und Verbotene kombiniert.5 

Anhand dieser Definition wird bereits deutlich, dass Foucault das Monströse vor allem als Umkehrung des Normalen versteht. Durch sein bloßes Sein verletzt das Monster die Regeln und Gesetze der Natur und der gesellschaftlich akzeptieren Umgangsformen. Normal ist dabei, was in der Mehrheit der Gesellschaft und Natur vorzufinden ist. Bevor Foucault zu einem späteren Zeitpunkt beschreibt, was er mit dem Begriff des Sittenmonsters genau meint, gibt er zuerst konkretere Beispiele für auftretende Anomalien. Diese werden für die spätere Einordnung des Verhaltens von Kriemhild wichtig und daher sollen sie an dieser Stelle genannt werden:

Es [das Monster] ist ein Mischgebilde aus zwei Arten, ein Mixtum zweier Arten: das Schwein mit dem Schafskopf ist ein Monster. Es ist eine Mischung aus zwei Individuen: Wer zwei Köpfe hat und einen Leib, zwei Leiber und einen Kopf, ist ein Monster. Es ist die Mischung aus zwei Geschlechtern: Wer zugleich Mann und Weib ist, ist ein Monster.6 

In diesen vorangegangenen Beispielen beschränkt sich Michel Foucault vor allem auf die körperlichen Anomalien, die ein Wesen in seinen Augen zu einem Monster machen. Hierbei geht es noch nicht um das Sittenmonster, das später genauer betrachtet wird, sondern in einem ersten Schritt erst einmal noch um die Abweichung von einer körperlichen Norm. Die Mischung aus zwei Geschlechtern sticht hier allerdings schon heraus.

Selbstverständlich kann auch sie noch als eine körperliche Mischung aus Mann und Frau verstanden werden. Man kann allerdings auch annehmen, dass damit ein biologisch weibliches Wesen gemeint ist, das kontinuierlich männlich-stereotype Verhaltensweisen an den Tag legt. Es ist in diesem Zusammenhang zu unterstreichen, dass die Definition klassisch männlicher bzw. weiblicher Verhaltensweisen immer auch abhängig von gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen ist und einem historischen Wandel unterliegt. Die Annahme von männlichen und weiblichen Stereotypen muss demnach immer im Kontext der jeweiligen Zeit verstanden werden.7 

Foucault erweitert seine oben genannte Definition des Monsterbegriffes im Anschluss um den Begriff des Sittenmonsters. Dazu stellt er folgende Definition auf:

[Es] läßt sich dagegen beobachten, daß sich die Beziehung umkehrt und das hervortritt, was man den systematischen Verdacht einer aller Kriminalität zugrundliegenden Monstrosität nennen könnte. Jeder Kriminelle könnte demnach ein Monster sein, wie seinerzeit das Monster eine Chance hatte, ein Krimineller zu sein.8 

Dieser von Foucault beschriebenen Grundannahme, dass in jedem Kriminellen ein Monster steckt, liegt die Idee zugrunde, dass „der Kriminelle einer [ist], der den von ihm unterzeichneten Pakt [mit der Gesellschaft] bricht und sein persönliches Interesse über jenes der Gesetze stellt, welche die Gesellschaft, der er angehört, regieren.“9 

Ein Monster kann nach Foucault also auch ein Mensch sein, der kriminelle Verhaltensweisen an den Tag legt und damit den Gesellschaftsvertrag bricht, den ein jedes Individuum durch sein Leben in einer Gruppe mit anderen Menschen eingeht. Das Monströse liegt in diesem Fall vor allem darin begründet, dass durch diese Abweichungen von der Norm die von der Natur gegebene Ordnung in Frage gestellt und durcheinander gebracht wird. Hier handelt der Kriminelle also gegen die Natur und ist den körperlich anormalen Monstern in dieser Hinsicht ähnlich.

Kriemhild als Sittenmonster

Im nächsten Schritt sollen die Verhaltensweisen der Kriemhild aus dem Nibelungenlied genauer betrachtet und unter Bezugnahme auf die Monsterdefinition nach Michel Foucault eingeordnet werden.

In der fünften Aventiure des Nibelungenliedes10 trifft Kriemhild zum ersten Mal auf ihren späteren Ehemann Siegfried. Es ist zu erwähnen, dass ihr Treffen in einem höfischen Kontext stattfindet und damit bestimmten Regeln folgen muss. Kriemhild ist als Schwester ihren drei Brüdern untergeordnet, die entscheiden, wann und wen ihre Schwester treffen darf. Erst nachdem Siegfried für die drei Brüder in den Kampf gezogen ist und gesiegt hat, darf er Kriemhild sehen. Der von Foucault beschriebene Gesellschaftsvertrag und die von ihm vorgegebenen höfischen Umgangsformen werden zu diesem Zeitpunkt strikt eingehalten. Kriemhild ist sich ihrer Rolle als höfische, unverheiratete Dame bewusst und handelt der Norm entsprechend.11

Um die Wichtigkeit der höfischen Umgangsformen zu unterstreichen, sollen folgende Verse von Kriemhilds Bruder Gernot zitiert werden:

Ir heizet Sîvride zuo mîner swester kumen.
daz in diu maget grüeze, des hab wir immer frumen.
diu nie gegrüezte recken, diu sol in grüezen pflegen.
dâ mit wir haben gewunnen den vil zierlichen degen.“

Dô giengens wirtes mâge, dâ man den helt vant.
si sprâchen zuo dem recken ûzer Niderlant:
„iu hât der kunec erloubet, ir sult zu hove gân.
sîn swester sol iuch grüezen, daz ist zen êren iu getân.12 

Anhand dieses Textbeleges wird deutlich, welche Rolle Kriemhild am Hof der Könige aus dem Burgundenland spielt. Sie wird einem erfolgreichen und wohlhabenden Ritter versprochen, um die höfischen und damit gesellschaftlichen Regeln einzuhalten und zwei Häuser miteinander zu verbinden. Das ist ihre gesellschaftlich festgelegte Rolle, gegen die sie sich nicht auflehnt. Sie folgt zu diesem Zeitpunkt noch dem Gesellschaftsvertrag und zeigt keinerlei Anzeichen von Monstrosität. Ganz im Gegenteil wird sie als besonders schön und begehrenswert beschrieben:

Nu gie diu minnecliche, alsô der morgenrôt
tuot ûz den trüeben wolken. dâ schiet von maneger nôt,
der si dâ truog in herzen und lange het getân.
er sach di minneclichen nu vil hêrlichen stan.

Jâ lûhte ir von ir waete vil manec edel stein.
ir rôsenrôtiu varwe vil minneclichen schein.
ob iemen wunschen solde, der kunde niht gejehen,
daz er zu dirre werelde het iht schoeners gesehen.13 

Für den Beginn des Nibelungenliedes lässt sich festhalten, dass Kriemhild im Rahmen der üblichen höfischen Verhaltensweisen und Umgangsformen handelt und nicht aus den gesellschaftlichen Erwartungen herausbricht. Dieses ändert sich jedoch viele Aventiuren später, nachdem Siegfried von Hagen ermordet wurde und seine Witwe, die inzwischen neu mit dem König Etzel verheiratet ist, beschließt, ihn zu rächen.  Kriemhild beschließt jeden zu morden, der für den Mörder ihres verstorbenen Mannes Siegfried kämpft. Folgende Verse unterstreichen dabei die Erbarmungslosigkeit der Königin.

Dô sprach diu kuneginne: „ir helde vil gemeit,
nu gêt der stiege nâher unde rechet mîniu leit.
daz will ich immer dienen, als ich von rehte sol.
der Hagenen übermüete, der gelôn ich im wol.

Lât einen ût dem hûse niht komen überal.“
si hiez viern enden zünden an den sal.
„sô werdent wol errochen elliu mîniu leit.“
di Etzeln degene wurden schiere bereit.

Di nâhe hi ûze stuonden, di tribens in den sal
mit slegen unde mit schüzzen. des wart vil grôz der schal.
doch wolden nie gescheiden di fürsten und ir man.
sine konden vor ir triuwen einander niht verlân.

Den sal, den hiez dô zünden daz Etzeln wîp.
dô quelte man den recken mit fiuwer dâ den lîp.
daz hûs von einem winde vil balde allez bran.
ich waene, daz volc enheinez grôzer angest nie gewan.14 

Kriemhild bricht an dieser Stelle mit den höfischen Gesetzen, in dem sie ihre Rolle als Königin in den Hintergrund stellt und ihre Macht über die Recken ihres Mannes für ihre Rache nutzt. Traditionell ist sie als Königin nicht diejenige, die Befehle erteilt und hinter dem Rücken ihres Mannes, der nichts von dem von ihr geplanten Hinterhalt und Racheplänen weiß, handelt. Sie schrickt in diesem Moment auch nicht davor zurück, ihre eigenen Brüder zu ermorden, was ebenfalls ein gesellschaftlicher Tabubruch ist.15 

Die von Kriemhild begangene Rache an den Mördern Siegfrieds, der einen Tabubruch darstellt, wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert und führt zu ihrem Tod. Nachdem Kriemhild neben ihrem Bruder Gunther auch Hagen von Tronje umbringt, rächt Hildebrant diesen.

Dô sprach der alte Hildebrant: jâ geniuzet si des niht,
daz si in slahen torste. Swaz mir dâ von geschiht,
swi er mich selbe braehte in angestliche nôt,
iedoch sô will ich rechen des küenen Tronegaeres tôt.

Hildebrant mit zorne zuo Kriemhilde spranc.
er sluoc der küneginne einen swaeren swertswanc.
jâ tet ir diu sorge von hildebrande wê.
Waz mohte si gehelfen, daz si groezlichen schrê?

Dô was gelegen aller dâ der veigen lîp.
ze stucken was gehouwen dô daz edele wîp.
Dieterîch und Etzel weinen dô began.
si klagten innecliche beide mâge und man.16 

Fazit

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Kriemhild zu Beginn des Nibelungenliedes eindeutig im Rahmen der gesellschaftlichen Normen handelt und damit keinesfalls mit dem Gesellschaftsvertrag, den sie durch ihr Leben am Hof mit den Menschen um sich herum eingegangen ist, bricht. Die Trauer und der Schmerz um den Tod ihres Mannes Siegfried scheint in ihr allerdings einen Wandel ausgelöst zu haben. Sie legt ihre höfische Umgangsform ab und entschließt sich entgegen den von ihr erwarteten weiblich-stereotypen Verhaltensweisen zu handeln. Sie beordert die Recken ihres neuen Mannes dazu zu morden. Dabei nimmt sie die Rolle der Befehlshaberin ein und bricht in diesem Moment ein erstes Tabu, da sie dies alles hinter dem Rücken ihres Mannes plant, der der König und damit der eigentliche Befehlshaber über seine Truppen ist. Dass sie dabei unterstreicht, dass sie ihren Gegnern möglichst viel Schmerz und Qual zufügen möchte, macht noch einmal deutlich, wie wichtig ihr die Rache ist.

Es lässt sich also aufgrund der Definition des Sittenmonsters, die zu Beginn des Textes besprochen wurde, sagen, dass Kriemhild monströse Verhaltensweisen an den Tag legt. Als Dame in einem höfischen Kontext, zeigt sie in immer wieder für diese Zeit stereotypisch-männliche Verhaltensweisen und begeht damit einen gesellschaftlichen Tabubruch. Wie Foucault schrieb, ist ein Sittenmonster eine „Mischung aus zwei Geschlechtern: Wer zugleich Mann und Weib ist, ist ein Monster.“17  Ausgehend von dieser Definition kann Kriemhild aus oben beschriebenen Gründen durchaus als Sittenmonster verstanden werden.


 

  1. Vgl. Hansen, Walter (Hg.): Beowulf. Das Heldenepos des Nordens. Rheinbach: Regionalia Verlag 2014.
  2. Vgl. Schröder, Christian (Hg.): Der Millstätter Physiologus. Königshausen & Neumann 2005.
  3. Vgl. von Eschenbach, Wolfram: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: de Gruyter 2003.
  4. Schulze, Ursula: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Reclam 2011.
  5. Foucault, Michel / Parr, Rolf: Die Anormalen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. bpb 2013. S. 3-10. (hier S. 3).
  6. Foucault/Parr, S. 4.
  7. Vgl. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London: Routledge 2006.
  8. Foucault/Parr, S.6.
  9. edba. S. 6.
  10. Das Nibelungenlied. V. 263-323.
  11. vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Dtv 1986.
  12. Das Nibelungenlied. V.287f.
  13. Das Nibelungenlied. S. 279f.
  14. Das Nibelungenlied. V. 2105- 2108.
  15. Vgl. Renz, Tilo: Um Leib und Leben. Das Wissen von Geschlecht, Körper und Recht im Nibelungenlied. De Gruyter, 2012.
  16. Das Nibelungenlied. V. 2372-2374.
  17. Foucault/Parr. S.4.

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