Die Darstellung des Feindes im Rolandslied

Monströse Darstellung der ‚Heiden’ als Legitimation der Vernichtung?

Das Bild der Muslime aus Sicht des christlich-europäischen Menschen im Mittelalter ist äußerst negativ geprägt. Die Andersgläubigen werden in mittelalterlichen Texten oft als ‚Heiden’ stigmatisiert und mit dem Teufel im Verbund gesehen. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad trägt zu dieser Wahrnehmung besonders bei: Hier werden Muslime dämonisiert und als das Böse dargestellt, während Christen antithetisch als das Gute und Richtige herausgestellt werden. Die sog. Sarazenen bilden hier also das Feindbild der Christen. Jedoch findet diese Gegenüberstellung von Gut und Böse im Rolandslied im Kontext der Kreuzzüge statt: Das Reich Karls des Großen soll erweitert werden – durch die Bekämpfung der spanischen Mauren. Das religiöse Feindbild steht also in unmittelbarem Zusammenhang zu einem politischen Feindbild, daher soll sich in diesem Artikel der Frage gewidmet werden, ob im Rolandslied die monströse Darstellung des Feindes als Legitimation der Vernichtung zu verstehen ist.  Als Grundlage dieser These dienen die Annahmen von Cohen, welche später genauer erläutert werden sollen.

Zunächst wird der für diese Fragestellung nötige Kontext des Rolandsliedes geboten, d.h. eine Erläuterung der Entstehung und Gattungszugehörigkeit sowie der literaturhistorische Kontext (Kreuzzugsliteratur).  Daran anschließend soll betrachtet werden, wie Muslime und der islamische Glaube allgemein im christlich-europäischen Weltbild des Mittelalters empfunden und dargestellt sind, um darauf aufbauend die Darstellung im Rolandslied zu untersuchen.

Das Rolandslied – Kontext und Inhalt

Das Rolandslied des Pfaffen Konrad entstand um 1170 und stellt eine Adaption des altfranzösischen Chanson de Roland dar, wobei nicht genau bekannt ist, welche Quelle herangezogen wurde.1 Die mittelhochdeutsche Fassung wurde auf einen bestimmten Aspekt hin deutlich verändert bzw. angepasst: „Der Pfaffe Konrad hat, so der Forschungskonsens, seine altfranzösische Vorlage, […] mit seiner Tendenz zur ‚Vergeistlichung’ […] auf ihre religiöse Aussagekraft hin vereindeutigt.“2

Während der altfranzösische Text also der Gattung chanson de geste3zuzuordnen ist, lässt sich Das Rolandslied des Pfaffen Konrad zwischen Heldenepos und Kreuzzugsdichtung verorten.4 Wichtig ist dabei zu unterscheiden, dass der altfranzösische Text vordergründig das französische Nationalgefühl motivieren sollte,5 während die mittelhochdeutsche Adaption einen christlich-heilsgeschichtlichen Sinn verfolgt.6

Der Text handelt von den Kreuzzügen Karls des Großen gegen die spanischen Mauren. Roland kämpft an der Seite Karls für dessen Weltreich und damit für die Erfüllung des göttlichen Reiches. Er geht als Protagonist hervor, da er als Märtyrer „das treffendste Beispiel eines Miles christianius,jenes christlichen Kriegers, der das Kreuz nahm und gegen die Muslime zog“7 abgibt.

Die Wahrnehmung des Islams im Mittelalter aus europäisch-christlicher Perspektive

Das Rolandsliedillustriert die Mentalität und Motivation der Kreuzzüge sowie die Abneigung gegenüber den Muslimen im christlich-europäischen Denken des Mittelalters allgemein: „Der Islam machte Angst. Denn die Menschen dachten sich der christlichen Mappae-mundi-Tradition gemäß die größten Teile der Welt […] als von Muslimen besetzt.“8 Der europäische Mensch des Mittelalters verfügte nur über ein verzerrtes Bild des Islams.9 Der fremde Glaube wurde oft als ‚gewalttätige’ Religion bezeichnet und damit dem ‚friedlichen’ Christentum antithetisch gegenüber gestellt.10 Ihr Prophet Mohammed galt als Antichrist und Sohn Satans.11 Laut Frank Meier wurde „[d]er Prozeß der Abgrenzung […] aus dem Gefühl der Unterlegenheit in der Wissenschaft gespeist, das durch das Gefühl der Überlegenheit der eigenen Offenbarungsreligion kompensiert wurde.“12 Außerdem wurde der Islam aus christlicher Sicht „nicht als eigenständige Religion anerkannt, sondern als widergöttlicher Kult in die christliche Heilsgeschichte eingeordnet.“13

Die Mentalität der Kreuzzüge und deren Ausarbeitung im Rolandslied

Der Islam stellt folglich ein negatives Gegenbild zum Christentum dar, dementsprechend gelten die Kreuzzüge als heilige Kriege, welche Meier in einem Zug als Vernichtungskriege bezeichnet.14 Für die Mentalität der Kreuzzüge, sowie dessen Ausarbeitung im Rolandslied, gilt: „[…] Die Kreuzritter bewähren sich im Blutvergießen als Krieger wie als Christ, auch als tötende Heroen können sie, sollten sie im Kampf gegen die Feinde des Glaubens umkommen, sich ihres Platzes im Himmelreich sicher sein.“15

Dies zeigt sich zum Beispiel, nachdem die Fürsten nach Karls Ansprache zum Kriegszug beteuern, dass sie alle treu an seiner Seite kämpfen würden und Roland diese Treue kommentiert:

wie sælec der geborn wart,
der nû diese hervart
gevrumet williclîche!
Dem lônet got mit sînem rîche,
des mag er grôzen trôst hân. (R: V147ff.)16

Die Kriegszüge Karls des Großen stehen folglich im Ideal der militia Dei, dem Krieg im Dienste Gottes.  Christen und ‚Heiden’ stellen folglich die irdischen Stellvertreter von Gott und Teufel dar, zumindest aus der Sicht des christlich-europäischen Menschen des Mittelalters. Diese Antithetik – Christ und Muslim, Gott und Teufel, Gut und Böse – wird im Rolandsliedbesonders hervorgehoben:

So werden etwa […] die spanischen Mauren zu den heidnischen Gegnern Karls und als schwarz und hässlich, Kinder des Teufels, hinterhältig, verräterisch und feige charakterisiert, die christlichen Kämpfer dagegen gerne als ihr genaues Gegenteil: Als mutig, treu, schön, siegreich im Kampf oder, sollte letzteres ausnahmsweise nicht zutreffen, siegreich zumindest in der Gewissheit ihrer endgültigen Erlösung beim Jüngsten Gericht.17

Die Vernichtung des Feindes (also der ‚Heiden’) wird durch die Verbreitung des Christentums bzw. den Dienst an Gott legitimiert: „die haidenscaft zestœren/ die cristenhait gemêren.“ (R: V85f.) Denn der Krieg an sich steht nicht im Sinne Gottes, erst durch die Stigmatisierung der Muslime als Heiden und Verbündete des Teufels wird der Krieg erlaubt oder sogar als von Gott gewollt dargestellt.

Bedeutung der monströsen Darstellung der ‚Heiden’

Die Darstellung des Feindes als Monster verfolgt dabei den gleichen Sinn. Um dies genauer zu erläutern, hilft eine wichtige Annahme Cohens: „representing an anterior culture as monstrous justifies its displacement or extermination by rendering the act heroic.“18

Diese Aussage lässt sich auch auf das Rolandslied beziehen. Die gegnerische Kultur wird von den ‚Heiden’ repräsentiert. Ihre Vernichtung, durch die Streitmacht Karls wird als heldenhaft markiert, da im Sinne Gottes gehandelt wird: Die christlichen Krieger sind mutig, tugendhaft und handeln folglich richtig. Dies hängt vor allem auch mit der christlichen Bedeutung des Monsters zusammen, auf die im weiteren Verlauf noch Bezug genommen werden soll.

Jedoch muss dabei zunächst erwähnt werden, dass die ‚Heiden’ nicht durchgängig als ein monströses Volk dargestellt werden. Es liegt allerdings eine deutliche Tendenz vor, in der die Sarazenen oft mit Hunden verglichen oder kynokephal dargestellt werden:

„der künc von Funde -/ ir houbet scain sam der hunde.“ (R: V2655f.) Ein Teil der Streitmacht des Königs Marsilie bzw. die Männer des Königs von Funde werden von dem Dichter als hundsköpfige Gestalten beschrieben.19 Die Darstellung erinnert sehr an das Wundervolk der Kynokephalen, da im Besonderen nur der Kopf als hundeartig beschrieben wird und nicht der gesamte Körper. Die Armee des Königs von Funde wird folglich als monströs beschrieben. Dies hat vor allem den Hintergrund, dass das mittelalterliche Monster ein Zeichen der Sünde darstellt: „Ihre körperlichen und sozialen Unzulänglichkeiten […] erklärte man sich zumindest im theologischen Bereich mit der Ferne vom paradiesischen Urzustand, mit dem Sündenfall und dem Ungehorsam gegenüber Gottes Geboten.“20

Durch die monströse Darstellung des Feindes wird seine Gottlosigkeit untermauert und illustriert, ganz im Sinne des Kreuzzugsgedankens. Die kynokephale Gestalt bedeutet eine Entfernung des paradiesischen Urzustands, die Vernichtung einer solchen Gestalt erscheint folglich als besonders legitim, da hier kein Mensch, sondern ein Monster getötet wird. Jedoch stellt diese Textstelle eher eine Ausnahme einer derartig monströsen Gestaltung der ‚Heiden’ dar. Der Feind wird allerdings sehr oft mit Hunden verglichen:

An einer Stelle der Racheschlacht wird der Kampf gegen den Feind durch die Figuren Naimes und Ansgis folglich beschrieben: „si sluogen si an dem wal/ alsô die hunde ze tal.“ (R: V8309f.) In der Schlacht von Ronceval findet sich ein ähnlicher Verweis, in dem der Bischof Turpin gegen die Sarazenen kämpft und sie zu Boden schlägt: „[…] die haiden allenthalben sîn/ vielen in daz wal/ sam die hunde ze tal.“ (R: V5156 ff.) Ebenfalls in der Schlacht von Ronceval werden die zahlreich herumliegenden Leichen der ‚Heiden’ beschrieben als ‚räudige21 Hunde’: „diu ir scar alsô dicke/ gelâgen an dem gewicke/ sam die hunte unraine.“ (R: V4527)

An diesen Stellen (und vier weiteren)22 wird deutlich, dass die Bezeichnung hund oderhunt als Vergleich für den Feind eingesetzt wird, z.B. durch die Präpositionen alsô oder sam. In der Racheschlacht bezeichnet Karl, im Gespräch bzw. Gebet zu Gott, seine Feinde sogar direkt als Hunde: „erlœse uns von den hunden“ (R: V8420).

Sabel schreibt, dass die Bezeichnung „Hund […] schon im Mittelalter eines der häufigsten Schimpfworte [war], der Ausdruck konnte aber auch speziell Juden oder Heiden bezeichnen.“23

Interessanterweise spricht Paligan, der König der ‚Heiden’, in seiner Ansprache, in der er sein Heer gegen den Kaiser für die Racheschlacht aufstellt, von dreißigtausend Helden, die Borsten wie Schweine auf dem Rücken tragen: „an dem rücke tragent si borsten sam swîn.“ (R: V8046)

Diese Beschreibung wird als Zitat bzw. direkte Rede Paligans markiert. Da er davor davon spricht, wie tapfer die Helden seien (vgl. R: 8045), ist der monströs anmutende Vergleich mit einem Schwein positiv konnotiert. Die Schweineborsten stehen für eine Art schützende Überlegenheit im Kampf. Durch die direkte Rede Paligans gilt die positive Bedeutung jedoch nur für eine ‚heidnische’ Perspektive, für die christlich-europäische Perspektive bleibt eine derartige Darstellung monströs und steht damit im Zeichen des Bösen und Sündhaften.

Conclusio

Die negative Darstellung der ‚Heiden’ im Rolandsliedverfolgt einen christlich-heilsgeschichtlichen Sinn, deswegen liegt es nahe, dass auch die Ausgestaltung als Monster hier seinen Platz findet, um den Feind zu dämonisieren. Jedoch zeigt sich diese Darstellungsmethode nicht als stringent und taucht eher selten auf. Häufiger treten jedoch Beschreibungen auf, in denen der Feind direkt mit dem Teufel in Verbindung gesetzt wird. Die kynokephale Gestalt zeigt sich hier also eher metaphorisch, um das Böse und Sündhafte zu illustrieren. Außerdem wurde in diesem Artikel nicht auf die äußerliche und innere Beschreibung der Helden und dessen Feinde eingegangen. Dabei soll zuletzt noch erwähnt werden, dass dem Feind auch (jedoch eher selten) eine positive äußerliche Beschreibung zukommen kann. Diese wird jedoch den christlichen, inneren Werten diametral gegenüber gestellt24 und durch den falschen Glauben wieder relativiert.

Wichtig ist noch zu erwähnen, dass das Rolandslied einen deutlichen Anti-Islamismus propagiert und damit ein extrem verzerrtes Bild dieser Religion wiedergibt, allerdings sollte dabei gleichzeitig die Frage gestellt werden, inwiefern dies auch noch heute stattfindet. Das Medium der Darstellung mag sich verändert haben, jedoch ist Islamfeindlichkeit (auch als Antithetik) auch noch heute in der westlichen Gesellschaft präsent und wird oft durch ein einseitiges Bild dieser Kultur und Religion vermittelt.

Die Fremdheit des Monsters

Die Monster von heute und die des Mittelalters sind vor allem eines: anders als der ‚normale’ Mensch. Durch ihr Aussehen, ihr (Sozial-) Verhalten und andere Attribute wirken sie fremd, zumindest aus der Sicht des Menschen. Die Fremdheit des Monsters steht also im konkreten Bezug zum Menschen, die Entstehung von Monstern deutet damit bereits eine psychologische Notwendigkeit für den Menschen an.

Im Folgenden soll sich mit der Frage beschäftigt werden, inwiefern das Fremde sich im Monster widerspiegelt und ob sich in dieser Versinnbildlichung ein psychologischer Zweck findet. Im Zuge dessen wird hinterfragt, ob die monstra des Mittelalters als Prinzip der Fremdheit zu verstehen sind oder ob fremde Menschen (aus europäischer Sicht) zu Monstern gemacht werden. Zunächst soll dazu der zeitgenössische Fremdheitsbegriff und der des Mittelalters bestimmt werden, um im Weiteren auf den Fremdheitsaspekt des Monsters genauer eingehen zu können. Methodisch wird dazu verschiedene Sekundärliteratur zur Fremdheit allgemein und im Mittelalter und dem Fremdheitsaspekt des Monsters herangezogen. Es wird nicht auf einzelne Primärquellen eingegangen, um einen eher allgemeinen Blickwinkel zu ermöglichen.

 Zeitgenössischer Fremdheitsbegriff und des Mittelalter

 „Fremde werden gemacht, früher wie heute. Denn das Fremde ist keine Eigenschaft von Sachen oder Personen an sich, sondern steht in Relation zu ihnen.“1  Das Fremde bezieht sich also immer auf das Eigene, Gewohnte und Vertraute. Erst durch die offensichtliche Andersartigkeit entsteht das Fremde.

Das Fremde erscheint dabei durchweg als ein relationaler Begriff der Abgrenzung vom Eigenen nach unterschiedlichen Kategorien, wobei die Frage, welche Kriterien denn als „fremd“ (und nicht als „anders“) vom Eigenen abgrenzen, keineswegs einhellig zu klären ist, da „Fremdheit“ in erster Linie ein Resultat der subjektiven Empfindung und Mentalität ist.2

Fremdheit lässt sich also nicht als statischer Begriff definieren. Der Begriff hängt demnach von einer subjektiven Perspektive ab und ist folglich anhand unterschiedlicher Kategorien differenzierbar.

Insgesamt betrachtet, unterscheiden sich „Fremde“ danach vom „Eigenen“ (potentiell) durch Herkunft, Aussehen und Verhalten, Glauben, Sitten und Sprache sowie mangelnde Integration oder, allgemein, durch eine „kulturelle Unvertrautheit“ (Münkler), doch ist letztlich zwischen unterschiedlichen Fremdheitskategorien zu differenzieren (kulturell, regional, gesellschaftlich, religiös und ethno-politisch).3

Abseits von den verschiedenen Kategorien und Formen der Fremdheitsbestimmungen muss beachtet werden, dass der moderne Begriff nicht einfach auf den mittelalterlichen übertragen werden kann – auch wenn es dem mittelalterlichen Denken, bei der Konstituierung des Fremden, ebenfalls um eine Abgrenzung zum Eigenen ging.4

Goetz untersuchte dazu die verschiedenen mittelalterlichen Fremdheitsbegriffe: advena (der von außen hinzuziehende), alenius bzw. alenigenus (Entfernung von der Kategorie räumlicher Herkunft, Einschließung rechtlicher Aspekte), exter(n)us (Abgrenzung des Eigenen zur Außenwelt, ohne erkennbare Merkmale) und extraneus (Abgrenzung zum Eigenen in jeder erdenklichen Weise, z.B. Volk, Reich, Herrschaft, Religion etc.).5 Außerdem lässt sich Fremdheit nicht nur als objekt-bezogene Perspektive in mittelalterlichen Texten finden, sondern auch als eine Art des Sich-Fremd-Fühlens.6

Das Konzept von Andersartigkeit und Fremdheit war im Mittelalter durchaus bekannt und präsent, auch Unterschiede in ethnischer, politischer, geographischer, religiöser und kultureller Sicht, jedoch wurde danach nicht aktiv kategorisiert.7
Im Folgenden soll betrachtet werden, wie sich das mittelalterliche Konzept von Fremdheit in Bezug zum Monströsen verhält.

Die Fremdheit des Monsters

Laut Simek dient „das Monströse […] nicht der Darstellung von Bedrohlichkeit, sondern in erster Linie der Definition des Anderen, des Fremden, und zwar vorrangig des Fremden in großer Ferne.“8 Dabei wäre genauer zu untersuchen, um welche Art von Fremdheit es sich bei der Ausgestaltung des Monströsen handelt:  das Fremde im Monster als generelles Prinzip oder als Inspiration realer Begegnungen mit dem Fremden (aus europäischer Sicht), welche zur Ausgestaltung der Monster führen.

Zunächst sollte dazu der Begriff des Monsters genauer differenziert werden. (Siehe hier: Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs? )Volker Scior bezeichnet Monster generell als deformierte Körper und unterscheidet dabei zwischen Individuen und Völkerschaften.9 Die Differenzierung zwischen einheimischen Missbildungen (bzw. sog. Missgeburten) und fremden, weit entfernt wohnenden Völkern, tauchte erstmalig bei Plinius auf. Erstere seien in psychiatrischen oder medizinischen Gutachten zu finden, letztere verzeichnet in den mittelalterlichen mappae mundi und in Reiseberichten.10

Die mittelalterlichen monstra (Monster) oder homines monstruosi (monströse Menschen) stellen also eine Abweichung, meist körperlich, zum bekannten und idealtypischen Menschen dar. Von einzelnen deformierten Körperteilen bis zu Mischwesen, zwischen Tier und Mensch oder zwei Geschlechtern, lassen sich viele verschiedene Formen des Monströsen – und damit der Andersartigkeit – in mittelalterlichen Texten finden.11

Durch die Differenzierung von individuellen Monstern und Wundervölkern wurde bereits eine erste Unterscheidung von Fremdheit gemacht: Die individuellen Monster oder Missbildungen sind bekannt und erfahrbar, während die Völkerschaften weit entfernt wohnen und dadurch besonders fremd bzw. phantastisch wirken. Trotzdem stellen sich beide Arten durch ihre Andersartigkeit heraus. Diese Fremdheit besteht jedoch nicht als natürlicher Zustand – das Monster entsteht durch die Relation zum ‚normalen’ (subjektiv betrachtet) Menschen:

Die ‚Existenz’ von monstra ist vom Menschen abhängig. Sie wird medial vermittelt. Monster existieren lediglich als von Menschen so Bezeichnete und Gedachte. Das Monster dient als ein Konzept, um den Menschen zu denken, in Abgrenzung etwa zu dem, was als nicht mehr menschlich angesehen wird.12

Es wird also bereits eine Parallele bemerkbar: Wie das zuvor definierte Fremde, ist das Monster abhängig von einer subjektiven Perspektive (hier, der idealtypische Mensch) und tritt durch seine Andersartigkeit des Vertrauten, in Erscheinung. Auch Foucault behauptet, „daß das Monster das große Modell aller kleinen Abweichungen“13 sei. Simek erläutert, dass die Fremdheit des Monsters besonders durch seine Mängel hervorgehoben wird (z.B. keine verständliche Sprache, keine manierlichen Sitten, kein geordnetes Sozialwesen usw.).14 All diese Kategorien stellen ebenfalls eine Bewertung eines subjektiven Blickwinkels dar und stellen Andersartigkeit heraus. Es scheint, das monstrum fungiere als Grenzziehung zum Eigenen und Vertrauten – also als Grenzziehung zum Menschen.

Das Monster als Ausdrucksmittel der Alterität

Diese Beobachtung führt zur Frage der Alterität, also der (in Philosophie und Psychologie bezeichneten) „identitätsstiftende[n] Verschiedenheit zweier aufeinander bezogener Identitäten.“15 Zunächst soll also betrachtet werden, inwiefern das Fremde eine abgrenzende Wirkung zum Eigenen und damit einer anthropologischen Selbstfindung nützlich sein könnte. Albrecht Classen schreibt dazu: „Zugleich konstituiert das ‚Fremde’ in reflexiver Weise das ‚Eigene’ und bietet ihm durch die binäre Opposition den notwendigen Raum, um sich eine Identität zu schaffen.“16

Fremdheit herauszustellen dient also vor allem auch der Identitätsbildung, laut Meier gilt dies auch für das Mittelalter.17  Durch die Hervorhebung der Andersartigkeit zum Eigenen und Vertrauten, wird sich der Mensch dessen erst bzw. besonders bewusst. Wie zuvor festgestellt, unterscheidet sich das Monster nicht nur durch sein Äußeres, sondern auch durch sein Verhalten, zum ’normalen‘ Menschen. Folgt man also der These der Alterität, spiegelt sich im Monster das Gegenbild vom Idealtypus des (mittelalterlichen) Menschen wider und dient somit der Selbstfindung durch Abgrenzung: „Das Monster dient als ein Konzept, um den Menschen zu denken, in Abgrenzung etwa zu dem, was als nicht mehr menschlich angesehen wird.“18

Die Frage nach der prinzipiellen Fremdheit des Monsters ließe sich also damit bestätigen, dass sich seine Andersartigkeit als Grenzzug zum Menschen realisiert. Das Monster könnte also auch durch interkulturelle Begegnungen bzw. Begegnungen mit Fremden entstehen bzw. als überzeichnete Darstellung des Fremden.

Diese Frage müsste man vor allem auf die Wundervölker beziehen, da diese in den entlegenen Gebieten wohnen und nur aus Reiseberichten bekannt sind.

Das Monster als Gestaltung ethnographischer Fremdheit

Interessanterweise verschob „die zunehmende Kenntnis der Erde […] die Grenzen des Erfahrbaren und damit die möglichen Wohnorte der Wundervölker immer weiter an den Rand der bekannten Welt“.19 Dies bedeutet, dass das Monster eher als ein fantasievolles Konzept der Fremdheit gesehen werden muss bzw. als eine imaginäre Fremdheitsvorstellung.

Friedrich schreibt dazu: „Dort wo die Ethnographie in unbekannte Räume ausgreift, wird die Leere zur Projektionsfläche von Phantasmen.“20 Hier stellt sich die Frage, ob die Wundervölker im Mittelalter als reine Fiktion gesehen werden müssen oder ob sich zu ihnen auch ethnographische Inspirationen finden, welche möglicherweise durch Reisende, in Begegnung zu fremden Kulturen, geweckt worden sind.

Simek versuchte einen derartig ethnologischen Erklärungsansatz zu bieten und suchte nach möglichen Inspirationsquellen einzelner Monster: „Auf konkret ethnologische Erfahrungen zurückgehen dürften viele Wundervölker, die hypertrophe, aber nicht medizinisch-pathologisch zu erklärende Körperteile aufweisen.“21

So führt er beispielsweise die Amycterae (Großlippler), dessen Lippen, in mittelalterlichen Erzählungen, so groß sind, dass sie sich diese über den Kopf stülpen können und sich damit vor der Sonne schützen, an. Dieses Wundervolk könnte durch die Lippendehnungen der Ubangi in Afrika und verschiedene polynesische Stämme inspiriert worden sein.22

Zu den Panoti bzw. Großohren schreibt Simek:

Zwar ist die Darstellung von mehr als bodenlangen Ohren übertrieben, von Bewohnern der Salomoninseln wird jedoch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts berichtet, dass ihre von zahlreichen Öffnungen durchbrochenen Ohrläppchen in einer Weise gedehnt wurden, dass mache Eingeborene einen beträchtlichen Teil ihres Hab und Guts in diesen Öffnungen hängend mit sich tragen konnten.23

Die Acephalen, also Kopflose, gehen möglicherweise auf Menschen zurück, die bemalte Masken trugen, welche eine kopflose Illusion erzeugten, 24 während die Cynocephalen (Hundsköpfige mit Menschenkörper) auf die Sichtung von Menschenaffen zurückgehen könnten.25 Simek schreibt zu letzteren jedoch, dass die körperliche Deformation der Cynocephalen zweitrangig sei und eher akustische Attribute, also die fremdwirkende Sprache an ein Bellen erinnert haben könnte, welches möglicherweise zur Ausgestaltung des Hundekopfs führte.26

Es zeigt sich also, dass fremdwirkende bzw. exotische Attribute als eine Art Inspiration für die Ausgestaltung der Wundervölker dienen könnten, jedoch in einer eher hyperbolischen Weise. Es muss also beachtet werden, dass sich, laut Schmitz „i[I]n historischen Reiseberichten über exotische Völker und fremdartige Tiere […], Empirisches und Imaginäres aufs Engste [vermischen].“27 Es scheint also, dass interkulturelle Begegnungen eher eine Inspirationsquelle darstellen, als dass sie durch ihre Andersartigkeit zu Monstern gemacht werden.

Fazit

Die Ausgangsfrage, ob sich das Fremde in den Monstern des Mittelalters widerspiegelt, hat sich in vielfacher Hinsicht bestätigt. Das Monster lässt sich durchaus als Konzept der Fremdheit verstehen, vor allem in der psychologischen Funktion als Abgrenzung zum idealtypischen Menschen (aus europäischer Sicht). Es dient vor allem einem anthropologischen Zweck und damit der Menschwerdung.

Außerdem hat sich herausgestellt, dass die Begegnung mit fremden Kulturen als Inspiration der Monster dienen könnte. Fremde Menschen, aus Perspektive des europäischen Menschen, werden jedoch eher nicht zu Monstern gemacht. Schließlich sind die Gestaltungen auch eine Übertreibung von möglicherweise realen Begegnungen, das Fremde wird also gewissermaßen stärker verfremdet, um das Exotische und Verwunderliche zu illustrieren. Außerdem muss beachtet werden, dass die Entstehung der Monster nicht nur die Funktion des Fremdseins (und damit der Abgrenzung) begrenzt ist, sondern vor allem auch auf religiöse, mythologische und medizinische Erklärungen zurückzuführen ist. Trotzdem scheint der Fremdheitsaspekt des Monsters in diesem Korrelat eine wichtige Rolle zu spielen.

In dem Artikel wurde nicht berücksichtigt, wie der Mensch in mittelalterlichen Texten den fremden Wundervölkern begegnet, da sich dieses Gebiet als sehr unterschiedlich erweist. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass dem Fremden (und fremden Monstern) grundsätzlich feindlich oder abwertend gegenübergetreten wird. Die unterschiedlichen Haltungen gegenüber der Wundervölker, sind beispielsweise im Herzog Ernst zu finden. Nach welchen Kategorien und Situationen dabei unterschieden wird, zeigt dieser Artikel: Ein Blick ins wunderbare Fremde – Eine Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen Kultur und dem Monströsen im Herzog Ernst