Die Kranichschnäbler im Herzog Ernst B: Hybridwesen zwischen Bewunderung und Bestialität

Auf ihrer Reise nach Jerusalem verschlägt ein Sturm den Herzog Ernst und seine Gefährten in die wundersame und prächtige Stadt Grippia. Die Episode in Grippia und die Begegnung des Herzogs Ernst mit den dort ansässigen Kranichmenschen nimmt im Herzog Ernst B beinahe ein Drittel des gesamten Versromans ein und ist daher von besonderer Bedeutung. Die Stadt Grippia befindet sich am Rand der bekannten Welt und bildet einen topographischen Übergangsraum zwischen dem rîche und dem Orient,[1] der Bekanntes und Fremdes, Vertrautes und Unvertrautes wie in einem Mosaik vereint. Ebenso verhält es sich mit den Bewohnern und Erbauern der Stadt, den Kranichschnäblern. Sie sind biform,[2] ihre Körper sind menschlich, ihre Hälse und Köpfe sind jedoch die von Kranichen. Ihre Lebensform ist höfisch und sie tragen prachtvolle Kleidung. Die Stadt Grippia, ausgestattet mit Bädern, Kunst und Reichtum, ist Zeugnis der zivilisatorischen Errungenschaften der Kranichmenschen, die im Verlauf der Geschichte mit maßloser Gewalt und sexualisierter Bestialität kontrastiert wird. Im Folgenden soll die ambige Hybridität der Kranichmenschen näher beleuchtet werden, deren Einordnung sich im Verlauf der Episode zusehends vom menschlichen Spektrum ins tierisch-monströse verschiebt. Diese Verschiebung wird besonders anhand ihres Umgangs mit der geraubten Menschenprinzessin aus India sichtbar. Die Behandlung der christlichen Prinzessin und ihre folgende ‘Erschnäbelung‘ löst eine Verschiebung in der Wahrnehmung der Kranichmenschen vom kultivierten Exoten ins Bestialische aus.

It’s a trap! Die Kranichmenschen und ihre fabelhafte Stadt

Die in Grippia beheimateten Kranichschnäbler sind das erste Wundervolk, denen Herzog Ernst auf seiner Orientreise begegnet. Der Herzog und seine Ritter werden nach einem heftigen Sturm ausgehungert im paradiesisch anmutenden Land Grippia angespült. Auf der Suche nach Nahrung betreten sie die schönste Stadt, die die Welt je gesehen hat: „Ez wart nie burc sô maere/ Geworht ûf dirre erden/ Noch nimmer kunde werden/ Erbûwen alsô schône“.[3] Sie entdecken gedeckte Tische, speisen erlesen und decken sich vor der Rückkehr auf ihr Schiff mit Lebensmitteln ein. Zurück an Bord, beschließt der Herzog gemeinsam mit dem Grafen Wetzel die Stadt noch ein weiteres Mal zu erkunden. Die folgende Beschreibung der Stadt erstreckt sich über weite Teile der Grippia-Episode und ist eine faszinierende „visuelle tour de force“,[4] die das Exotische mit dem Bekannten vereint:

“The topography of the city displays perfect order and suggests recognition, but reveals simultaneously an unknown component. The city appears beautiful and exotic.”[5]

Spiegelbildlich zur Stadt verhält es sich auch mit ihren Bewohnern, die gerade von einem Raubzug aus India zurückkehren und Wetzel und Ernst bei der Stadtsichtung überraschen. Sie verstecken sich daraufhin in der Stadt und beobachten die Kranichschnäbler fasziniert. Die unermesslichen Reichtümer und die Schönheit der Stadt passen zur Schönheit und Wohlgestalt ihrer Bewohner:

di wâren an îe lîben,
sie waeren junc oder alt,
schoene unde wol gestalt
an füezen und an henden
in allen enden schoene liute und herlich,
wan hals und houbet was gelîch
als den kranichen getân. [6]

Der einzige Makel an ihren sonst stattlichen Körpern, sind ihre langen Hälse und Köpfe.[7] Trotz der körperlichen Seltsamkeiten entdecken Wetzel und Ernst, dass die gesellschaftliche Organisation der Kranichschnäbler ihnen bekannten feudalen Mustern folgt. Sie haben einen König, edle Leute, pflegen einen höfischen Lebensstil und scheinen sich durchaus auch kriegerisch zu betätigen. Zwar wirken die Kranichmenschen insgesamt seltsam[8] und wunderlich, durch ihre hochentwickelte Urbanität werden sie jedoch eindeutig im menschlichen Spektrum als liute[9] verortet. Der zivilisatorische Entwicklungsgrad ist es auch, der die Kranichschnäbler von anderen monströsen Rassen abhebt. Diese halten sich für gewöhnlich eher in der Wildnis auf, statt sich in einem komplexen städtischen Umfeld zu bewegen,[10] in dem man sich wohlerzogen verhält und vor dem Essen sogar die Hände wäscht.[11]

Ein weiterer Indikator dafür, dass sie sich trotz ihrer Tierköpfe zunächst eher als menschlich denn als Tiere wahrgenommen werden, ist zum einen ihre kostbare Kleidung, die äußerst detailliert und im Ton der Bewunderung beschrieben wird. Weiterhin ist noch ihre Bewaffnung zu nennen: Sie tragen Pfeil und Bogen mit edler Verzierung und aus feinem Material. Aufgrund ihrer distinguierten Aufmachung, aber auch aufgrund ihrer zierlichen Hälse, werden sie von Ernst und seinen Rittern daher zunächst nicht als bedrohlich oder gar als wilde Monster wahrgenommen. Vielmehr sind sie ein Faszinosum: „Much like their city, they are fascinating to stare at, but potentially dangerous. They, too, may seem to be one thing, but are in fact another.”[12]

An der Charakterisierung der Grippianer fällt auf, dass sie zunächst keinem religiösen Kontexte zugeordnet werden. Vielmehr werden die Kranichschnäbler als draufgängerische Genussmenschen charakterisiert, ihr festlicher Lebensstil wird als „vîl vermezzen […] stolz und gemeit[13] beschrieben. Durch die im Herzog Ernst bekannte kompromisslose Kreuzzugsmentalität[14] „erhält auch die Faszination der Christen angesichts der orientalischen Pracht der Residenzstadt des fremden Landes ein deutlich negatives Vorzeichen“.[15]

Von fabelhaft zu schnabelhaft: Die Verschiebung der Einordnung ins Monströse

Als Ernst und Wetzel die Kranichmenschen zum ersten Mal in Augenschein nehmen, befinden sich diese in Vorfreude auf ein Festmahl. Der König der Kranichschnäbler möchte die aus Indien entführte Menschenprinzessin, die nur aufgrund ihrer einzigartigen Schönheit überleben durfte, zur Frau nehmen. Bemerkenswert ist auch die Beschreibung der indischen Prinzessin, die mit weißer Haut und blondem Haar[16] europäische Schönheitsideale bedient und damit für Ernst und Wetzel im eigenen, christlichen, Kosmos zu verorten ist. Die Ausgelassenheit und Freude der Kranichschnäbler steht in krassem Gegensatz zur Trauer der verängstigten Prinzessin, für die, wie auch für Ernst und Wetzel, die Sprache der Kranichschnäbler ein furchterregendes Krächzen bleibt.[17] Die nicht-menschliche Sprache der Kranichschnäbler ist der Menschenprinzessin ebenso fremd wie die Küsse des Königs von Grippia: „als dicke er sie kuste, sen snabel stiez er ir in den munt. / solh minne was ir ê unkunt.[18]

Der Schnabel, unfähig der menschlichen Sprache, lässt die Kranichschnäbler trotz ihrer Kultiviertheit zusehends als unmenschlich erscheinen. Beim Akt des Kusses gewinnt der Schnabel des Königs zudem eine phallische Komponente und der Kuss selbst die Qualität einer symbolischen Vergewaltigung.[19] Beim sexuellen Übergriff durch den Kranichkönig zieht Ernst eine eindeutige Grenze zu den Fremden. Die Beobachtung dieser Szene und das offensichtliche Unglück der Prinzessin führt in Ernst zu dem unheilvollen Entschluss, die Prinzessin gewaltsam und zur Rettung ihrer Ehre[20] aus der inkompatiblen Verbindung zu befreien. Die Küsse des Königs sind auch ein Wendepunkt in der Wahrnehmung der Kranichschnäbler. Waren diese zuvor seltsame Exoten, werden sie mit dem symbolischen sexuellen Übergriff auf die Prinzessin, eindeutig als Feinde wahrgenommen und zusehends entmenschlicht. Interessant ist hier, dass sich Ernst zur Rechtfertigung von Waffengewalt auf Gott beruft[21] und die Grippianer damit auch eindeutig als religiös anders einstuft. Wetzel geht sogar noch einen Schritt weiter:  Er fühlt sich den Kranichschnäblern nicht nur militärisch und moralisch überlegen, sondern klassifiziert sie auch als Tiere, die er plant zu schlachten wie Vieh: „wir slahens als das vihe nider. […] wir trenkens mit ir bluotes flôz.[22]

Es gelingt Ernst und Wetzel zwar, den König und einige Treuen noch vor dem eigentlichen Vollzug der Ehe in den Brautgemächern zu erschlagen, die Prinzessin indes können sie nicht retten, da ihr Plan entdeckt wird. Einige Kranichschnäbler, in der Vermutung dass Ernst und Wetzel ebenfalls aus India stammen, erstechen die Prinzessin daraufhin unerwartet brutal mit ihren Schnäbeln. Durch den Gewaltausbrauch des ‘Erschnäbelns‘, die Tötung der Prinzessin mit dem Schnabel und nicht etwa durch kultiviert erscheinenden Waffengebrauch, werden die Kranichschnäbler, anders als zuvor, stark im tierischen Spektrum verortet. Die Erschnäbelung der Prinzessin vollendet zudem die penetrierenden Küsse des Königs der Kranichschnäbler in einem rachelüsternen gang rape, was den Kranichschnäblern Eigenschaften wie Unbeherrschtheit, Bestialität und brutaler Rohheit zuweist.

Im darauffolgenden verlustreichen Kampf gegen die für Ernst „ungetoufte liute und ahtent nicht ûf got“,[23] gelingt es Ernst und seinen Gefährten unerwartet vielen Kranichschnäblern mit ihren Schwertern die Hälse zu durchtrennen. Das Abschneiden der Hälse steht hierbei nicht nur für die bloße Tötung im Kampf, sondern ist die Parade sexuell konnotierter Gewalt. Das Durchschneiden des langen schmalen Halses als der Verlängerung des Schnabels, der Phallus und Mordinstrument zugleich ist, gleicht einer symbolischen Kastration. Die Entmannung und Entwaffnung der monströsen Kranichschnäbler bleibt jedoch partiell.  Nur wenige von Ernsts Gefährten überleben den Kampf gegen die zahlenmäßig überlegenen Kranichschnäbler und müssen unter enormen Verlusten aus Grippia auf ihr Schiff fliehen.

Die Wahrnehmung der Kranichschnäbler erlebt während des Grippia-Aufenthalts von Herzog Ernst und seinen Rittern eine signifikante Verschiebung. Zu Beginn der Episode werden sie trotz ihrer Biformität als vortreffliche Baumeister und kultiviertes Volk bewundert. Sie sind nicht nur märchenhaft reich und in ihrer Hybridität faszinierend schön, in ihrer Urbanität und zivilisatorischen Entwicklung sind sie den Reisenden sogar um einiges überlegen. Hinter der Pracht und Kultur, tritt der animalische Teil der Kranichschnäbler daher in der Wahrnehmung zunächst stark zurück. Die Bewunderung und Faszination für die Kranichschnäbler schlägt jedoch in Verachtung und Vernichtungswillen um, als der König der Kranichschnäbler der christlichen Prinzessin den Mund mit seinem Schnabel penetriert. Beim folgenden Gewaltexzess, bei der die Kranichmenschen ihren Schnabel als phallisches Tötungsinstrument verwenden, werden die heidnischen Kranichschnäbler vom fabelhaften Wundervolk zu „oriental monsters“ [24] deklassiert.


[1]Vgl. zu den biformes Lazda–Cazers, Rasma (20): Hybrity and Liminaltiy in Herzog Ernst B. In: Daphnis 33 (1-2), 2004, S. 79–96 (hier S.79).
[2] Vgl. Stock, Markus: Knowledge, Hybridity, and the King of the Crane-Heads. In: Daphnis 45 (3-4), 2017 S. 391–411 (hier S. 410).
[3] Sowinski Sowinski, Bernhard (Hg.): Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek, 8352),  2015, V. 2785–2788; im Folgenden zitiert unter der Sigle HE.
[4] Bowden, Sarah (2013): A false Dawn. The Grippia Episode in Three Versions of Herzog Ernst. In: Oxford German Studies 41 (1), 2013, S.15–31 (hier, S. 20).
[5] Lazda–Cazers 2004, S. 88
[6] HE   V. 2852-2859.
[7] Vgl. HE V 2872-2875.
[8] HE V. 2880.
[9] HE V. 2880.
[10] Zu Otherness und der Orientalisierung der Kranichschnäbler Vgl.  Bowden 2013, S. 24 und  Stock 2017, S. 403 und 409-10.
[11] Vgl. V. 3175-3182 und 2225-26.
[12] Bowden 2013, S 25.
[13] HE V. 2884-2885.
[14] Vgl. HE V. 3765.
[15] Goerlitz, Uta: »… Ob sye heiden synt ader cristen …«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (4), 2009 S. 65–104 (hier S.89).
[16] Vgl. HE V. 3098-3102.
[17] Zur Kommunikation der Kranichmenschen, siehe den Artikel zur Kultur im Herzog Ernst.
[18] HE V. 3244-46.
[19] Laszda-Cazers erkennt zwischen der symbolischen Vergewaltigung der Prinzessin eine Reflexion von Ernsts vorangegangener Penetration der Stadt: „In an act of mimicry, he must see his own deeds reflected, as he himself turns into the king of the crane beaks and the unprotected city turns into the princess, unable to escape penetration.” Lazda–Cazers 2004, S. 89.
[20] Vgl. HE V. 3330.
[21] Vgl. HE V. 3286.
[22] HE V. 3295-97.
[23] HE V. 3753.
[24] Stock 2017, S. 410.

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