Cundrîes Bruder Malcreatiure in Wolframs Parzival

Im Vergleich zu seiner Schwester Cundrîe ist ihr Bruder Malcreatiure in Wolframs Parzival lediglich eine Randfigur und hat nur kurze Auftritte im sechsten und im zehnten Buch des Parzival. Trotz der geringen Ausgestaltung hat die Figur Malcreatiure eine ähnliche erzählerische Funktion wie seine Schwester Cundrîe. Beide überbringen mahnende Botschaften und verbinden durch ihr Auftreten die Artuswelt mit der Welt des Übernatürlichen, wenn auch in recht unterschiedlicher Ausprägung. In dieser Funktion spielt auch die Monstrosität der Geschwister eine enorme Rolle, die Malcreatiure wie ein Etikett in seinem Namen trägt. Da zu Malcreatiure insgesamt nur wenige individuelle Angaben gemacht werden, kann auf diese Figur nur im Abgleich mit seiner Schwester näher eingegangen werden. Erzählerisch wie auch konzeptionell ist Malcreatiure daher eher als eine Erweiterung Cundrîes anzusehen, die sich aus der gemeinsamen Herkunft und Abstammungsgeschichte ergibt. In diesem Zusammenhang soll daher genauer auf den genealogischen Ursprung der Geschwister und ihres Volkes eingegangen werden, der auf dem Motiv der Adamstöchter beruht.

„…der knape fiere…“: Monstrosität als Etikett

Anders als seine Schwester Cundrîe, die im gesamten Parzival Erwähnung findet und textlich deutlich größeren Raum einnimmt, ist Malcreatiure als Einzelfigur lediglich in der Gâwân-Handlung anzutreffen. Im X. Buch des Versromans hört der auf der Suche nach dem Gral umherziehende Gâwân durch einen verletzten Ritter von der Schönheit der Königin Orgelûse de Lôgroys. Er reitet darauf hin zu ihr, um sie um ihre Minne zu bitten. Orgelûse behandelt Gâwân abschätzig und fordernd, dennoch reitet sie gemeinsam mit ihm los, um den verletzten Ritter mit Kräutern zu behandeln. Unterwegs werden sie von Orgelûses Knappen Malcreatiure eingeholt, der ihnen eilig hinterherreitet, um eine Botschaft zu überbringen.

Anders als beim warnenden Auftritt der Gralsbotin Cundrîe im VI. Buch verzichtet Wolfram von Eschenbach auf eine detaillierte Beschreibung des Aussehens. Malcreatiures Erscheinung wird nicht etwa erzählerisch ausgedehnt durch Merkmale und Eigenschaften eingeführt, sondern prompt alsungehuire“ bezeichnet.[1] Diese direkte Einordung ins Monströse wird durch seinen sprechenden Namen unterstützt, der sich etwa mit „schlechtes Geschöpf“[2] übersetzten lässt. Während die Schwester erzählerisch enthüllt[3] wird, beschränkt sich die Beschreibung von Malcreatiures Äußerem, lediglich auf einen kurzen Vergleich mit Cundrîe:

„Cundrîe la surziere
was sîn swester wol getân:
er muose ir antlütze hân
gar, wan daz er was ein man.
Im stuont ouch ietwider uan
Al einem ever wilde,
unglîch menschen bilde. (Pz 517: 18-24)

Anders als bei Cundrîe, deren raffinierte Aufmachung bereits Grundlage von Forschungsarbeitenwurde,[4] wird auf Malcreatiures Bekleidung oder Ausrüstungsgegenstände nicht eingegangen.  Lediglich die Haarlänge wird in Abgrenzung zu seiner Schwester beschrieben: „im was det hâr ouch niht sô lanc /als ez Cundrien ûf den mûl dort swanc: / kurz, scharf als igels hût es was.“ (Pz 517: 25-28).  Cundrîes langer Zopf, abgesehen von davon, dass er sehr lang und borstig wie „eins swînes rückehâr“ (Pz 313: 20) ist, ist das einzige Merkmal, das sie von ihrem Bruder unterscheidet. Während Cundrîe durch ihre Kleidung eindeutig als weiblich charakterisiert wird, fehlen im Falle von Malcreatiure, abgesehen von seiner Haarlänge, sämtliche weitere Männlichkeitsattribute.

Malcreatiures Igelhaare dienen noch einem weiteren Zweck: Als Gâwân ihn aufgrund seiner Beschimpfung erzürnt bei den Haaren packt und ihn zu Boden wirft, verletzt sich der Gralsritter daran die Hand, dass „diu wart von bluote al rôt erkant“ (Pz 521:14). Malcreatiures Haarpracht ist in ihrer Funktion daher anders anzusehen als die seiner Schwester. Während Cundrîes Haar überwiegend dekorativ erscheint, sind Malcreatirues Borsten auch ein Mittel der Verteidigung. Obwohl das Geschwisterpaar zuvor als „wunderlîch menesch“ eingeordnet wird, so wirkt die ganze Person durch sein Haar „igelmaezec“ und animalisch (Pz.521: 13). Besonders im Vergleich zur distinguierten Schwester, erscheint Malcreatiure dadurch weniger menschlich und seine tierischen Komponenten werden stark betont. Auch wenn Cundrîe ebenfalls tierische Züge aufweist, werden diese durch innere Schönheit ausbalanciert. Hierzu trägt auch bei, dass über Malcreatiures Bildungstand, anders als über Cundrîe, keine Aussagen getroffen werden, es wird lediglich deutlich, dass er die höfische Sprache beherrscht. Entsprechend geringer fällt auch der Kontrast zwischen äußerer Hässlichkeit und innerer Schönheit aus, da hierüber nur wenige Angaben vorhanden ist. Malcreatiure, ebenso wie Cundrîe, wird trotz seiner Monstrosität ein positives Inneres bescheinigt. So bezeichnet ihn Wolfram zwar ironisch als „knape fiere“, attestiert ihm im Gegenzug aber auch „wîs unde wert“ zu sein, auch sein Beiname „clâr“, unterstreicht zusätzlich Malcreatiures positive innere Disposition[5] (Pz 517: 18, 521: 10, 519: 22).

Der kleine Unterschied: Herkunft und Genealogie

Cundrîe und Malcreatiure gelangen als Geschenke der indischen Königin Secundille an den Gralskönig Anfortas. Die märchenhaft reiche Königin, in deren Land „gebirge guldîn“ stehen und „für den griez edel gesteine“ in den Flüssen liegen, schenkte Anfortas die Geschwister als „kleinoete“ um seine Gunst zu gewinnen. Anfortas behielt Cundrîe bei sich am Gralshof, während er Malcreatiure, „disen knappen kurtoys“ an seine frühere Geliebte Orgelûse de Lôgroys schickte (Pz 519: 18, 21,30). Obwohl die Geschwister als das Wertvollste unter den Geschenken Secundilles geführt werden, sind weder Cundrîe noch ihr Bruder einzigartige Wunderwesen, vielmehr gibt es in Secundilles Reich, „bî dem wazzer Ganjas/ ime lant ze Trîbalibôt […]“ Menschen ähnlichen Phänotyps häufiger: „der liute vil/ mit verkêrtem antlützes zil:/ si triuogen vremediu wilden mal“ (Pz 519: 8,9). Als Grund für die Missgestalt wird der verbotene Konsum bestimmter Kräuter während der Schwangerschaft genannt, auf die einige der Töchter Adams aufgrund ihrer weiblichen Gier und ihres schwachen Fleisches nicht verzichten konnten (Vgl. Pz 518:10-30). Auch wenn die Geschwister dieselbe Genealogie teilen, ist bei der weiteren Ausführung nur noch von Malcreatiure die Rede „Von wibes gir ein underscheit/ in schiet von der menescheit./ der würze unt der sterne mâc“ (Pz 520: 1-3). Diese Aussonderung Malcreatiures bedeutet nicht nur einen verwandtschaftlichen Bruch mit seiner Schwester, sondern geht darüber noch hinaus. „Malcreatiures anthropologischer Status wird damit als grenzwertig dargestellt, noch deutlicher als Cundrîe verweist er als hybride Figur auf die Existenz eines Zwischenbereichs von Mensch und Tier.“[6] Die Hässlichkeit der Geschwister als Resultat eines zweiten Sündenfalls, rückt sie jedoch heilsgeschichtlich wieder stärker an die grundsätzlich sündhaften Menschen, die diesen die eigenen Verfehlungen als Spiegel vorhalten.[7]

Botschafter und Grenzgänger

Während Cundrîes Hybridität das Mittel zu sein scheint, dass sie zum freien Wechsel zwischen der Artuswelt und der Gralswelt befähigt, bleibt Malcreatiure gänzlich in der Artuswelt verhaftet. Im Gegensatz zu Cundrîe, die den Beinamen la surziere trägt, werden Malcreatiure keine magischen Fähigkeiten zugeschrieben.  Trotz seines Äußeren und seiner Herkunft verdingt er sich in der weltlichen Funktion eines Knappen, die mit einer sozialen Stellung einhergeht. Trotz seines festen Platzes in der Gesellschaft erfüllt er wie seine Schwester eine Botenfunktion. Sein Auftritt als Bote ist trotz seines Aussehens jedoch keineswegs wundersam. Während Cundrîes Auftritt die gesamte Artusgesellschaft in Staunen und Erschrecken versetzt, ist das Zusammentreffen mit Gâwân weit weniger furios und entbehrt auch nicht einer gewissen Komik:

Malcrêatiur kom geritn
ûf eime runzide kranc,
das von leme an allen vieren hanc.
es strûchte dicke ûf d’erde. (Pz 520: 6-9)

Gleichzeitig wird mit dem Zustand des Pferdes noch eine weitere Komponente hinzugefügt:

frou Jeschût diu werde
iedoch ein besser pfärt reit
des tages dô Prazivâl erstreit a Orilus die hulde:
die vlôs se an alle ir schulde (Pz 520: 9-14)

Das lahme Pferd ist eine Form der Ächtung und Bestrafung. Wie Jeschûte ist auch Malcreatiure keines Verbrechens schuldig und trotzdem ein durch den Sündenfall seiner Ahninnen Ausgestoßener und durch sein Reittier als solcher markiert. Später wird klar, dass Malcreatiure das Pferd auf dem Weg einem Bauern abgenommen hat. Der mangelnde Zugang zu einem besseren Reittier unterstreicht daher seinen niedrigen sozialen Status in der höfischen Gesellschaft.

Anders als bei seiner Schwester verläuft auch die Überbringung seiner Botschaft. Bei Cundrîe ist diese verbunden mit einem großen Auftritt und geprägt von Verzweiflung und großer Traurigkeit. Ihre deutliche Ausdrucksweise, in Kontrast zu ihrer hohen Bildung und ihres außergewöhnlichen Status verfehlt ihre Wirkung nicht. In Malcreatiures Fall allerdings gerät die Botschaft an Gâwân zur wüsten Beschimpfung mit der Androhung von Prügel:

„her, sît ir von rîters art,
sô möht irz gerne han bewart:
ir dunket mich ein tumber man,
daz ir mîne frouwen füeret dan:
och wert irs underwîset,
daz man iuch drumbe prîset
op sichs erwert iwer hant.
sît ab ir ein sarjant,
sô wer ir gâlunt mit stabn,
daz irs gern wandel möhtet haben“ (Pz 520: 17-26)

Erstaunlich ist hier, dass Malcreatiure trotz seiner schwächlichen Aufstellung und niedrigeren Stellung als Knappe den Mut zur Ritterbeschimpfung aufbringt und Gâwâns vermeintliches Fehlverhalten kritisiert und seine Herrin zu beschützen versucht. Ohnehin scheint Orgelûse ein besonderes Verhältnis zu ihrem treu ergeben Knappen zu haben. Malcreatiure folgt seiner Herrin sogar später zu Fuß nach. Er verlässt sie erst, nachdem Orgelûse mit ihm „heidenisch“ spricht (Pz. 529: 20).

Trotz der rüden Beschimpfung und seines monströsen Aussehens wird Malcreatiure an keiner Stelle als bedrohlich oder kämpferisch charakterisiert, zumal er auch keine Waffen trägt. Gâwân reagiert daher auch nicht mit Waffengewalt auf seine Beschimpfung, sondern wirft ihn mit bloßen Händen unters Pferd. Auch wenn er sich dabei verletzt, so ist der Konflikt schnell beigelegt und das Ungeheuer Malcreatiure wird durch Gâwân unproblematisch besiegt. Malcreatiures Schmähkritik ist jedoch nicht nur als akute Herausforderung, sondern sowohl als Warnung vor den kommenden Prüfungen als auch als eine Ermahnung zu verstehen, ritterliches Verhalten aufrecht zu erhalten.

Auch wenn unklar bleibt, wessen Botschaft Malcreatiure tatsächlich überbringt, so markiert sein Auftritt auch den Übergang in die verzauberte Welt des Schastel marveil, deren Befreiung durch Gâwân als das weltliche Gegenstück zu Parzivals Gralssuche einzuordnen ist.[8] Auch wenn Malcreatiure die Grenze nicht selbst übertritt, so gibt er doch eine Vorahnung darauf, was auf Gâwân in seiner âventiure bevorsteht, ähnlich wie seine Schwester Parzival den Weg weist.[9] Während der Weg zur Gralsherrschaft für Parzival entbehrungsreich und schwierig ist, meistert Gâwân die weltlichen Herausforderungen recht mühelos und mit vorbildlicher Ritterlichkeit, ebenso wie er das Ungeheuer Malcreatiure mit leichter Hand niederringt.

Malcreatiure lässt sich konzeptionell und erzählerisch nicht von der Figur der Cundrîe lösen. Die genauere Betrachtung hat indes gezeigt, dass er nicht nur als Anlass dient, Cundrîes Herkunft und die Gründe ihrer Missgestalt zu klären. Vielmehr repräsentiert er das weltliche und animalischere Gegenstück seiner Schwester, die beinahe engelhafte Züge[10] trägt. Er ergänzt die mythisch und symbolisch stark aufgeladene Figur der Cundrîe durch bodenständige Borstigkeit, die eine gewisse Komik nicht entbehrt. Dadurch werden in Wolframs Parzival nicht nur die Gâwân- und Parzival-Handlungen miteinander verknüpft, sondern auch die Begegnung mit dem Monströsen erhält hierdurch zwei unterschiedliche Ausgestaltungsdimensionen.

 


 

[1] W. von Eschenbach, B. Schirok, P. Knecht: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Mit Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation 2012, V. 517,20, im Folgenden unter der Sigle Pz direkt im Text zitiert.

[2] Aus dem Französischen mal=schlecht,aussätzig, sowie creatiure, aus dem Lat.= Kreatur, Geschöpf. Zur Mittelalterlichen Bedeutung vergleiche auch: Lexer Matthias: Nachträge zum Mittelhochdeutschen Handwörterbuch, http://www.woerterbuchnetz.de/NLexer?lemma=malat, letzter Zugriff: 28.09.2018.

[3] Vgl. Pappas, Katherine. In: U. Müller, W. Wunderlich (Hrsg.): Verführer, Schurken, Magier, Mittelaltermythen: 3, St. Gallen, Switzerland 2001 In: U. Müller, W. Wunderlich (Hrsg.): Verführer, Schurken, Magier, Mittelaltermythen: 3, St. Gallen, Switzerland 2001, hier S. 158

[4] Ebenda.

[5] Zur Lichtmetaphorik und Schönheit gibt es zahlreiche Quellen. Vergleiche zur Verbindung von innerer Schönheit und Licht: Wuthe, Elisabeth: Die schönen Männer im Parzival. Eine textimmanente Untersuchung von Schönheit, Körperlichkeit, Erotik und Sexualität am Beispiel der männlichen Figuren in Wolfram von Eschenbachs Parzival, S. 43 ff.

[6] Schuler-Lang, Larissa: Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. ‚Parzival‘, ‚Busant‘ und ‚Wolfdietrich D‘ 2014, S. 178.

[7]Vgl. ebenda S. 179.

[8] Hasty, Will: A Companion to Wolfram’s Parzival 1999, vgl. S. 55.

[9] Monströse Figuren markieren traditionell Grenz- und Übergangsbereiche. Vgl. hierzu Schuler-Lang 2014, S. 179.

[10] Vgl. ebenda, S. 325.

Die Kranichschnäbler im Herzog Ernst B: Hybridwesen zwischen Bewunderung und Bestialität

Auf ihrer Reise nach Jerusalem verschlägt ein Sturm den Herzog Ernst und seine Gefährten in die wundersame und prächtige Stadt Grippia. Die Episode in Grippia und die Begegnung des Herzogs Ernst mit den dort ansässigen Kranichmenschen nimmt im Herzog Ernst B beinahe ein Drittel des gesamten Versromans ein und ist daher von besonderer Bedeutung. Die Stadt Grippia befindet sich am Rand der bekannten Welt und bildet einen topographischen Übergangsraum zwischen dem rîche und dem Orient,[1] der Bekanntes und Fremdes, Vertrautes und Unvertrautes wie in einem Mosaik vereint. Ebenso verhält es sich mit den Bewohnern und Erbauern der Stadt, den Kranichschnäblern. Sie sind biform,[2] ihre Körper sind menschlich, ihre Hälse und Köpfe sind jedoch die von Kranichen. Ihre Lebensform ist höfisch und sie tragen prachtvolle Kleidung. Die Stadt Grippia, ausgestattet mit Bädern, Kunst und Reichtum, ist Zeugnis der zivilisatorischen Errungenschaften der Kranichmenschen, die im Verlauf der Geschichte mit maßloser Gewalt und sexualisierter Bestialität kontrastiert wird. Im Folgenden soll die ambige Hybridität der Kranichmenschen näher beleuchtet werden, deren Einordnung sich im Verlauf der Episode zusehends vom menschlichen Spektrum ins tierisch-monströse verschiebt. Diese Verschiebung wird besonders anhand ihres Umgangs mit der geraubten Menschenprinzessin aus India sichtbar. Die Behandlung der christlichen Prinzessin und ihre folgende ‘Erschnäbelung‘ löst eine Verschiebung in der Wahrnehmung der Kranichmenschen vom kultivierten Exoten ins Bestialische aus.

It’s a trap! Die Kranichmenschen und ihre fabelhafte Stadt

Die in Grippia beheimateten Kranichschnäbler sind das erste Wundervolk, denen Herzog Ernst auf seiner Orientreise begegnet. Der Herzog und seine Ritter werden nach einem heftigen Sturm ausgehungert im paradiesisch anmutenden Land Grippia angespült. Auf der Suche nach Nahrung betreten sie die schönste Stadt, die die Welt je gesehen hat: „Ez wart nie burc sô maere/ Geworht ûf dirre erden/ Noch nimmer kunde werden/ Erbûwen alsô schône“.[3] Sie entdecken gedeckte Tische, speisen erlesen und decken sich vor der Rückkehr auf ihr Schiff mit Lebensmitteln ein. Zurück an Bord, beschließt der Herzog gemeinsam mit dem Grafen Wetzel die Stadt noch ein weiteres Mal zu erkunden. Die folgende Beschreibung der Stadt erstreckt sich über weite Teile der Grippia-Episode und ist eine faszinierende „visuelle tour de force“,[4] die das Exotische mit dem Bekannten vereint:

“The topography of the city displays perfect order and suggests recognition, but reveals simultaneously an unknown component. The city appears beautiful and exotic.”[5]

Spiegelbildlich zur Stadt verhält es sich auch mit ihren Bewohnern, die gerade von einem Raubzug aus India zurückkehren und Wetzel und Ernst bei der Stadtsichtung überraschen. Sie verstecken sich daraufhin in der Stadt und beobachten die Kranichschnäbler fasziniert. Die unermesslichen Reichtümer und die Schönheit der Stadt passen zur Schönheit und Wohlgestalt ihrer Bewohner:

di wâren an îe lîben,
sie waeren junc oder alt,
schoene unde wol gestalt
an füezen und an henden
in allen enden schoene liute und herlich,
wan hals und houbet was gelîch
als den kranichen getân. [6]

Der einzige Makel an ihren sonst stattlichen Körpern, sind ihre langen Hälse und Köpfe.[7] Trotz der körperlichen Seltsamkeiten entdecken Wetzel und Ernst, dass die gesellschaftliche Organisation der Kranichschnäbler ihnen bekannten feudalen Mustern folgt. Sie haben einen König, edle Leute, pflegen einen höfischen Lebensstil und scheinen sich durchaus auch kriegerisch zu betätigen. Zwar wirken die Kranichmenschen insgesamt seltsam[8] und wunderlich, durch ihre hochentwickelte Urbanität werden sie jedoch eindeutig im menschlichen Spektrum als liute[9] verortet. Der zivilisatorische Entwicklungsgrad ist es auch, der die Kranichschnäbler von anderen monströsen Rassen abhebt. Diese halten sich für gewöhnlich eher in der Wildnis auf, statt sich in einem komplexen städtischen Umfeld zu bewegen,[10] in dem man sich wohlerzogen verhält und vor dem Essen sogar die Hände wäscht.[11]

Ein weiterer Indikator dafür, dass sie sich trotz ihrer Tierköpfe zunächst eher als menschlich denn als Tiere wahrgenommen werden, ist zum einen ihre kostbare Kleidung, die äußerst detailliert und im Ton der Bewunderung beschrieben wird. Weiterhin ist noch ihre Bewaffnung zu nennen: Sie tragen Pfeil und Bogen mit edler Verzierung und aus feinem Material. Aufgrund ihrer distinguierten Aufmachung, aber auch aufgrund ihrer zierlichen Hälse, werden sie von Ernst und seinen Rittern daher zunächst nicht als bedrohlich oder gar als wilde Monster wahrgenommen. Vielmehr sind sie ein Faszinosum: „Much like their city, they are fascinating to stare at, but potentially dangerous. They, too, may seem to be one thing, but are in fact another.”[12]

An der Charakterisierung der Grippianer fällt auf, dass sie zunächst keinem religiösen Kontexte zugeordnet werden. Vielmehr werden die Kranichschnäbler als draufgängerische Genussmenschen charakterisiert, ihr festlicher Lebensstil wird als „vîl vermezzen […] stolz und gemeit[13] beschrieben. Durch die im Herzog Ernst bekannte kompromisslose Kreuzzugsmentalität[14] „erhält auch die Faszination der Christen angesichts der orientalischen Pracht der Residenzstadt des fremden Landes ein deutlich negatives Vorzeichen“.[15]

Von fabelhaft zu schnabelhaft: Die Verschiebung der Einordnung ins Monströse

Als Ernst und Wetzel die Kranichmenschen zum ersten Mal in Augenschein nehmen, befinden sich diese in Vorfreude auf ein Festmahl. Der König der Kranichschnäbler möchte die aus Indien entführte Menschenprinzessin, die nur aufgrund ihrer einzigartigen Schönheit überleben durfte, zur Frau nehmen. Bemerkenswert ist auch die Beschreibung der indischen Prinzessin, die mit weißer Haut und blondem Haar[16] europäische Schönheitsideale bedient und damit für Ernst und Wetzel im eigenen, christlichen, Kosmos zu verorten ist. Die Ausgelassenheit und Freude der Kranichschnäbler steht in krassem Gegensatz zur Trauer der verängstigten Prinzessin, für die, wie auch für Ernst und Wetzel, die Sprache der Kranichschnäbler ein furchterregendes Krächzen bleibt.[17] Die nicht-menschliche Sprache der Kranichschnäbler ist der Menschenprinzessin ebenso fremd wie die Küsse des Königs von Grippia: „als dicke er sie kuste, sen snabel stiez er ir in den munt. / solh minne was ir ê unkunt.[18]

Der Schnabel, unfähig der menschlichen Sprache, lässt die Kranichschnäbler trotz ihrer Kultiviertheit zusehends als unmenschlich erscheinen. Beim Akt des Kusses gewinnt der Schnabel des Königs zudem eine phallische Komponente und der Kuss selbst die Qualität einer symbolischen Vergewaltigung.[19] Beim sexuellen Übergriff durch den Kranichkönig zieht Ernst eine eindeutige Grenze zu den Fremden. Die Beobachtung dieser Szene und das offensichtliche Unglück der Prinzessin führt in Ernst zu dem unheilvollen Entschluss, die Prinzessin gewaltsam und zur Rettung ihrer Ehre[20] aus der inkompatiblen Verbindung zu befreien. Die Küsse des Königs sind auch ein Wendepunkt in der Wahrnehmung der Kranichschnäbler. Waren diese zuvor seltsame Exoten, werden sie mit dem symbolischen sexuellen Übergriff auf die Prinzessin, eindeutig als Feinde wahrgenommen und zusehends entmenschlicht. Interessant ist hier, dass sich Ernst zur Rechtfertigung von Waffengewalt auf Gott beruft[21] und die Grippianer damit auch eindeutig als religiös anders einstuft. Wetzel geht sogar noch einen Schritt weiter:  Er fühlt sich den Kranichschnäblern nicht nur militärisch und moralisch überlegen, sondern klassifiziert sie auch als Tiere, die er plant zu schlachten wie Vieh: „wir slahens als das vihe nider. […] wir trenkens mit ir bluotes flôz.[22]

Es gelingt Ernst und Wetzel zwar, den König und einige Treuen noch vor dem eigentlichen Vollzug der Ehe in den Brautgemächern zu erschlagen, die Prinzessin indes können sie nicht retten, da ihr Plan entdeckt wird. Einige Kranichschnäbler, in der Vermutung dass Ernst und Wetzel ebenfalls aus India stammen, erstechen die Prinzessin daraufhin unerwartet brutal mit ihren Schnäbeln. Durch den Gewaltausbrauch des ‘Erschnäbelns‘, die Tötung der Prinzessin mit dem Schnabel und nicht etwa durch kultiviert erscheinenden Waffengebrauch, werden die Kranichschnäbler, anders als zuvor, stark im tierischen Spektrum verortet. Die Erschnäbelung der Prinzessin vollendet zudem die penetrierenden Küsse des Königs der Kranichschnäbler in einem rachelüsternen gang rape, was den Kranichschnäblern Eigenschaften wie Unbeherrschtheit, Bestialität und brutaler Rohheit zuweist.

Im darauffolgenden verlustreichen Kampf gegen die für Ernst „ungetoufte liute und ahtent nicht ûf got“,[23] gelingt es Ernst und seinen Gefährten unerwartet vielen Kranichschnäblern mit ihren Schwertern die Hälse zu durchtrennen. Das Abschneiden der Hälse steht hierbei nicht nur für die bloße Tötung im Kampf, sondern ist die Parade sexuell konnotierter Gewalt. Das Durchschneiden des langen schmalen Halses als der Verlängerung des Schnabels, der Phallus und Mordinstrument zugleich ist, gleicht einer symbolischen Kastration. Die Entmannung und Entwaffnung der monströsen Kranichschnäbler bleibt jedoch partiell.  Nur wenige von Ernsts Gefährten überleben den Kampf gegen die zahlenmäßig überlegenen Kranichschnäbler und müssen unter enormen Verlusten aus Grippia auf ihr Schiff fliehen.

Die Wahrnehmung der Kranichschnäbler erlebt während des Grippia-Aufenthalts von Herzog Ernst und seinen Rittern eine signifikante Verschiebung. Zu Beginn der Episode werden sie trotz ihrer Biformität als vortreffliche Baumeister und kultiviertes Volk bewundert. Sie sind nicht nur märchenhaft reich und in ihrer Hybridität faszinierend schön, in ihrer Urbanität und zivilisatorischen Entwicklung sind sie den Reisenden sogar um einiges überlegen. Hinter der Pracht und Kultur, tritt der animalische Teil der Kranichschnäbler daher in der Wahrnehmung zunächst stark zurück. Die Bewunderung und Faszination für die Kranichschnäbler schlägt jedoch in Verachtung und Vernichtungswillen um, als der König der Kranichschnäbler der christlichen Prinzessin den Mund mit seinem Schnabel penetriert. Beim folgenden Gewaltexzess, bei der die Kranichmenschen ihren Schnabel als phallisches Tötungsinstrument verwenden, werden die heidnischen Kranichschnäbler vom fabelhaften Wundervolk zu „oriental monsters“ [24] deklassiert.


[1]Vgl. zu den biformes Lazda–Cazers, Rasma (20): Hybrity and Liminaltiy in Herzog Ernst B. In: Daphnis 33 (1-2), 2004, S. 79–96 (hier S.79).
[2] Vgl. Stock, Markus: Knowledge, Hybridity, and the King of the Crane-Heads. In: Daphnis 45 (3-4), 2017 S. 391–411 (hier S. 410).
[3] Sowinski Sowinski, Bernhard (Hg.): Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek, 8352),  2015, V. 2785–2788; im Folgenden zitiert unter der Sigle HE.
[4] Bowden, Sarah (2013): A false Dawn. The Grippia Episode in Three Versions of Herzog Ernst. In: Oxford German Studies 41 (1), 2013, S.15–31 (hier, S. 20).
[5] Lazda–Cazers 2004, S. 88
[6] HE   V. 2852-2859.
[7] Vgl. HE V 2872-2875.
[8] HE V. 2880.
[9] HE V. 2880.
[10] Zu Otherness und der Orientalisierung der Kranichschnäbler Vgl.  Bowden 2013, S. 24 und  Stock 2017, S. 403 und 409-10.
[11] Vgl. V. 3175-3182 und 2225-26.
[12] Bowden 2013, S 25.
[13] HE V. 2884-2885.
[14] Vgl. HE V. 3765.
[15] Goerlitz, Uta: »… Ob sye heiden synt ader cristen …«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (4), 2009 S. 65–104 (hier S.89).
[16] Vgl. HE V. 3098-3102.
[17] Zur Kommunikation der Kranichmenschen, siehe den Artikel zur Kultur im Herzog Ernst.
[18] HE V. 3244-46.
[19] Laszda-Cazers erkennt zwischen der symbolischen Vergewaltigung der Prinzessin eine Reflexion von Ernsts vorangegangener Penetration der Stadt: „In an act of mimicry, he must see his own deeds reflected, as he himself turns into the king of the crane beaks and the unprotected city turns into the princess, unable to escape penetration.” Lazda–Cazers 2004, S. 89.
[20] Vgl. HE V. 3330.
[21] Vgl. HE V. 3286.
[22] HE V. 3295-97.
[23] HE V. 3753.
[24] Stock 2017, S. 410.