Die Funktion der übermenschlichen Kräfte im Nibelungenlied

Das Nibelungenlied ist eines der bedeutendsten Werke der deutschen Literatur des Mittelalters. Der Recke Siegfried verlässt das Land seiner Eltern in Xanten und damit beginnt die Geschichte des Nibelungenlieds. Er wirbt im Burgundenland um die schöne Königin Kriemhild, gewinnt sie für sich und findet schließlich seinen Tod durch die Hand Hagens. Seine Witwe Kriemhild beschließt seinen Tod zu rächen und ihr Handeln nimmt dabei monströse Ausmaße an, wie hier genauer nachzulesen ist.

Dieser Blogartikel möchte sich mit einer weiteren Figur des Nibelungenliedes beschäftigen: mit der Frau des Königs Gunther, Brünhild. In einem ersten Schritt soll dabei genauer betrachtet werden, inwieweit Brünhild als Monster verstanden werden kann. Anschließend soll der Fokus darauf liegen, wieso diese Monstrosität für den Verlauf des Nibelungenliedes von zentraler Bedeutung ist.

Definition des Monsterbegriffs

Um zunächst untersuchen zu können, ob Brünhild monströse Eigenschaften an den Tag legt, muss der Begriff des Monsters definiert werden. Dazu wird die Definition des französischen Diskurstheoretikers Michel Foucault herangezogen, die bereits für die Untersuchung der Figur Kriemhild verwendet wurde und hier noch einmal nachzulesen ist.

Monstrosität der Brünhild

Um zu untersuchen, inwieweit diese Definition auf Brünhild zutrifft, soll ihre erste Beschreibung im Nibelungenlied aufgegriffen werden. In der sechsten Aventiure des Nibelungenliedes wird sie wie folgt beschrieben:

E(z was ein) kuneginne gesezzen uber sê,
ir gelîche enheine man wesse nider mê,
diu was unmâzen schoene. Vil michel was ir kraft.
si schôz mit snellen degenen umb minne den schaft.

Den stein, den warf si verre, dar nâch si wîten spranc.
swer ir minne gerte, der muose âne wanc
Driu spil angewinnen der frouwen wolgeboren.
gebrast im an dem einem, er hete daz houbet sîn verloren. 1

Zu dieser Darstellung Brünhilds sagt Winder McConnell: »Brunhild’s habit of killing unsuccessful aspirants, an act inherently demonic in its nature, stamps her as a figure of the Other World«. 2Und tatsächlich scheint Brünhilds Stärke und Kraft übernatürlich zu sein. Selbst Siegfried, der mit seiner Stärke und Tapferkeit schon Drachen besiegt hat, braucht einen Tarnumhang, der ihm die Kraft von 12 zusätzlichen Männern verleiht, um Brünhild zu besiegen, wie nachfolgend deutlich wird.

Alsô der starke Sîvrit di tarnkappen truoc,
sô het er dar inne krefte genouc:
wol zwelf manne sterke zuo sîn selbes lîp.
Er warp mit grôzen listen daz vil hêrliche wîp. 3

Die andere Welt, die McConnell beschreibt, scheint sich in ihrer Ordnung grundlegend von der Ordnung des Burgundenlandes zu unterscheiden. Auf Isenstein regiert Brünhild mit ihrer übernatürlichen Macht. Hierzu führt Classen aus:

„[…]es handelt sich nicht bloß um eine komische Auseinandersetzung zwischen einem »Teufelsweib« und dem schwächlichen König Günther, sondern vielmehr um eine solche tiefschichtiger Art zwischen einer männlichen und einer weiblichen Kulturform, zwischen Matriarchat und Patriarchat […]“ 4

Beziehen wir diese Beschreibungen der Brünhild nun auf die eingangs herangezogene Definition des Monströsen von Foucault, lässt sich durchaus argumentieren, dass Brünhild als Monster oder übernatürliches Wesen verstanden werden kann. Aus der Perspektive der Burgunden bricht sie durch die Tatsache, dass sie als Frau unabhängig von einem Ehemann ein Land regiert und Befehle an Gefolgsleute erteilt, mit den Gesetzen der Gesellschaft und der Natur. Das Verständnis der höfischen, gesellschaftlichen Ordnung der Burgunden wird durch die Existenz Brünhilds auf den Kopf gestellt.

Darüber hinaus besitzt Brünhild Kräfte, die weit über das Menschliche hinausgehen. Sie wirft Steine weiter, als jeder andere, springt diesen mühelos hinterher und händelt Schwert und Schild, die ihr nur durch die gebündelte Kraft zahlreicher Gefolgsleute angereicht werden können, mühelos. 5 Ihr Umgang mit erfolglosen Eheanwärtern nimmt laut McConnell dämonische Ausmaße an und macht sie zu einer Figur einer anderen Welt. 6

Funktion der übermenschlichen Kräfte im Nibelungenlied

Im Folgenden soll untersucht werden, welche Funktion Brünhild mit ihrer übermenschlichen Kraft und ihren dämonischen Zügen für den Verlauf des Nibelungenlieds hat. Wie bereits beschrieben, beginnt die Geschichte mit dem Aufbruch Siegfrieds in das Burgundenland. Brünhild scheint für die Geschichte eine ebenso zentrale Rolle zu spielen und leitet durch ihre Monstrosität immer wieder neue Wendungen ein.

Zuerst ist der Sieg über Brünhild für das Glück Siegfrieds und Kriemhilds zentral. Der Erfolg der Brautwerbung Gunthers um Brünhild, ist die Voraussetzung der Hochzeit zwischen Siegfried und Kriemhild. So fordert Siegfried von Gunther:

(D)es antwurte Sîvrit, der Sigmundes sun:
„gîstu mir dîne swester, sô will ich ez tuon,
di schoenen Kriemhilde, ein kuneginne hêr.
sô ger ich deheines lônes nâch mînen arbeiten mêr.“

„Daz lob ich“, sprach dô Gunther, „Sîvrit, an dîne hant.
und kumt diu schoene Brünhilt her in ditze lant,
sô will ich dir ze wîbe mîne swester geben.
sô mahtu mit der schoenen immer vroeliche leben.“ 7

Das Bezwingen der übermenschlichen Kräfte Brünhilds, ist für Siegfried der Schlüssel zum Glück, also zu seiner Hochzeit mit Kriemhild. Wie bereits beschrieben, muss er sich dazu jedoch seines Tarnumhangs und damit einer List bedienen. Schon an diesem Punkt sagt der Erzähler der Sage großes Unglück voraus. 8  Selbst nachdem Siegfried Brünhild im Kampf besiegt und sie sich anschließend dazu bereit erklärt Gunther und seinen Gefolgsleuten in das Burgundenland zu folgen, sind ihre Kräfte weiterhin übermenschlich und sie reiht sich keinesfalls in die gesellschaftliche Ordnung des Burgundenlandes ein. Sie erscheint an diesem Punkt weiterhin willensstark und ungezähmt. Brünhild wittert bereits den Betrug, der an ihr begangen wurde. Dieser Verdacht verstärkt sich, als sie die Vermählung zwischen Siegfried und Kriemhild beobachtet:

Der kunic was gesezzen unt Brünhilt diu meit.
dô sach si Kriemhilde, dône wart (ir) nie sô leit,
bî Sîfride sitzen. weinen si began.
ir vielen heize trehene uber liehtiu wange dan.

Dô sprach der wirt des landes: „vil liebiu vrouwe mîn,
war umbe lât ir trüeben vil liehter ougen schîn?
ir muget iuch vreun balde. Iu ist undertân
mîn lant unt mîne burge unt manic waetlicher man.“

„Ich mac wol balde weinen“, sprach diu schoeniu meit.
„umb dîne swester ist mir von herzen leit.
di sihe ich nâhen sitzen dem eigenholden dîn.
daz muoz ich imer weinen, sol si alsô verderbet sîn.“ 9

Als Gunther im Anschluss versucht seiner Ehefrau die Jungfräulichkeit zu nehmen und sie ihn zurückweist, zeigt sich abermals Brünhilds übernatürliche Kraft. Nach einer weiteren seiner körperlichen Annäherungen, hängt sie den König kopfüber an die Wand, um ihre Jungfräulichkeit zu schützen. Nur solange Brünhild unberührt bleibt, bleibt ihre übermenschliche Stärke bewahrt. Solange sie ihren eben bereits erwähnten Verdacht nicht aus der Welt geschafft hat, möchte sie daher jungfräulich bleiben. 10

Gunther benötigt abermals Siegfrieds versteckte Hilfe, um seine Frau zu bändigen. Nur mit Hilfe des Tarnmantels (vorher noch Tarnumhang) gelingt es den beiden Männern Brünhild zu überwältigen und zu bezwingen. Es wird also wiederum deutlich, dass sich die monströsen Kräfte Brünhilds nur durch ein magisches Hilfsmittel bezwingen lassen. 11

Dies ist eine Stelle des Nibelungenliedes, an der die Monstrosität der Brünhild eine zentrale Rolle spielt, denn nur durch eine List ist ihre übermenschliche Kraft zu besiegen. Damit leitet der zweite Betrug an Brünhild eine Wendung in der Handlung ein. Lienert schreibt dazu: „Die Katastrophe des Nibelungenliedes wurzelt nicht in strukturellen Mißverhältnissen, sondern im Werbungs- und Brautnachtbetrug an Brünhild.“12 Damit macht sie deutlich, wie zentral diese beiden Stellen für den Verlauf des Werkes sind. Die Monstrosität der Brünhild, die bezwungen werden muss, ist in diesem Zusammenhang elementar.

Brünhild erfährt einige Aventiuren später von Kriemhild von dem Betrug um das Abhandenkommen ihrer Jungfräulichkeit und es entsteht eine verbitterte Feindschaft zwischen den beiden Frauen. Von dieser List und der Feindschaft der Königinnen, berichtet Brünhild anschließend Hagen von Tronje. Betrogen und ihrer monströsen Kraft auf unrechtsame Weise beraubt, entschließt sie sich gemeinsam mit Hagen an Siegfried zu rächen.

Er vrâgete, waz ir waere. weinende er si vant.
dô sate si im diu maere. er lobt ir sâ zehant,
daz ez erarnen müese der Kriemhilde man,
oder er wolde nimmer dar umbe vrôlich gestân.
Zuo der rede kom dô Ortwîn unt Gêrnôt,
dâ di helde rieten den Sîfrides tôt.[…] 13

Es sind die inzwischen abhandengekommenen magischen Kräfte und der entdeckte Betrug, die zu dem Entschluss führen Siegfried zu töten. Die nun nicht mehr vorhandenen monströsen Kräfte der Brünhild führen also dazu, dass das Nibelungenlied seinen entsprechenden Verlauf nimmt.

Interessant ist, dass Brünhild nach diesem zentralen Wendepunkt bis auf einige kleinere Erwähnungen im Verlaufe des Nibelungenliedes nicht mehr vorkommt. Es scheint, als hätte sie mit dem Abhandenkommen ihrer Monstrosität auch keinerlei Funktion für den Verlauf des Epos mehr.

Fazit

Es lässt sich also zusammenfassen, dass die Monstrosität Brünhilds vor allem in ihrer übermenschlichen Kraft und (Willens-)stärke begründet liegt. Auf Isenstein lässt die mächtige Königin mit übermenschlichen Kräften jeden, der um ihre Hand anhalten will, sie im Wettkampf allerdings nicht besiegen kann, hinrichten. Diesen Akt beschreibt McConnell als „inherently demonic in its nature“. 6

Die übermenschliche Stärke und Kraft der Brünhild sind dabei für den Verlauf des Nibelungenliedes immer wieder von zentraler Bedeutung. So kann die Königin zweimal nur unter Zuhilfenahme eines magischen Tarnumhangs besiegt werden. Dabei ist der erste Sieg über Brünhild Voraussetzung für die Vermählung der beiden Hauptfiguren Siegfried und Kriemhild und damit zentral für die anschließende Handlung.

Ebenso zentral ist der zweite Betrug an Brünhild, wobei ihr wiederum unter Zuhilfenahme des magischen Tarnumhangs ihre Jungfräulichkeit und damit ihre übernatürliche Kraft genommen wird. Diese Aufhebung des Übermenschlichen und der damit verbundene Betrug, führen zu dem Entschluss Hagens, Siegfried zu töten. Der Tod Siegfrieds leitet damit inhaltlich einen neuen Teil des Nibelungenliedes ein, in dem Kriemhild beschließt sich zu rächen und ihre höfischen Umgangsformen und die gesellschaftlichen Erwartungen an sie darüber vergisst. Hier ist also die inzwischen abhanden gekommene Übermenschlichkeit Brünhilds der Ausgangspunkt für eine inhaltliche Wendung.

Es ist also deutlich geworden, dass die übermenschlichen Fähigkeiten Brünhilds für die Handlung des Nibelungenliedes von zentraler Bedeutung sind.

Monströse Genealogie in der Melusine bei Thüring von Ringoltingen

Die Erzählung über die Schlangenfrau Melusine wurde aus einer französischen Vorlage adaptiert. Die bekannteste deutsche Fassung stammt von Thüring von Ringoltingen.1 Sie berichtet sowohl von Melusines Kindern, als auch von ihren Eltern. Dieser Blogbeitrag untersucht alle drei Generationen auf die Vererbung von Monstrosität hin. Zur Handschrift und Geschichte, der Figur der Melusine und zu weiteren grundlegenden Informationen s. den Blogartikel „Das christliche Monster: Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller.

Melusines Herkunft

Melusine ist ein Halbwesen aus Mensch und Wasserschlange. Diese Verfassung hat sie ihrer Mutter zu verdanken. In einer Höhle in einem Berg steht das Grabmal ihrer Eltern neben einer beschrifteten Steintafel.

Es war auch auff dem erhabenen koͤstbarlichen und schoͤnen Grab gehawen […] ein Koͤnig gewapnet und gekroͤnet also ligende und war darbey zu desselbigen Koͤniges Fuͤssen ein gehauwen Frauwenbild das hatte ein Taͤfelin in den Haͤnden darinnen stund geschrieben. Dieses ist der Durchleuchtig und großmaͤchtige Koͤnig Helmas mein allerliebster Gemahel der allhie begraben ligt.2

Melusines Eltern sind eine sogenannte Mahrtenehe3 eingegangen. Die Verbindung einer übernatürlichen Mahrte (mhd. mâra, vgl. engl. „nightmare“) mit einem Menschen steht meist unter einem Versprechen (z.B. ein Sichtverbot), an das der Mensch sich halten muss. Melusines Vater Helmas versprach Melusines Mutter Persine aus Awelon, sie nicht direkt nach der Geburt ihres Kindes aufzusuchen:

[Er] hatte mir geschworn […] das er sein lebtag die zeit und weil so ich in dem Kindtbett lege mich nimmer besuchen besehen […] in der zeit kein wissen haben noch durch niemandt anders erfahren wolte.4

Der Grund für die eheliche Verbindung mit einem Menschen ist meist der Wunsch nach einer eigenen Seele, die Mahrten von Natur aus nicht haben.5 Die Hoffnung auf die Seele liegt ganz beim menschlichen Gefährten. Durch einen Bruch des gegebenen Versprechens verdammt der Mensch seine Mahrte dazu, auf ewig unbeseelt zu bleiben. Der Bruch des Tabus ist auch ein bekannter Aspekt der Mahrtenehen.6 König Helmas hält sein Versprechen nicht. Es kommt zum Tabubruch, und Persine muss mit ihren drei Töchtern fliehen. 15 Jahre später rächen sich die Töchter, indem sie ihren Vater in den Berg einschließen. Dies wiederum rächt Persine durch die Auferlegung dreier Tabus. So wird das Tabu von einer zur anderen Generation weitergegeben.

Ich gabe ihn diese Gab darumb daß sie sich an ihrem Vatter von seiner Thorheit wegen die er dazumal an mir begienge so schwerlich recheten unnd ihn beschlossen in einen Berg unnd biß an sein end darinnen gefangen hielten denn wiewol er sich an mir ubergriffen hett dennoch war ich im von Hertzen sehr guͤnstig daß ich die Rach die mein Toͤchter vorgenennet von meinetwegen an ihm begiengen nit wolt noch mochte ungerochen lassen.7

Die älteste Tochter Meliora ist fortan dazu verurteilt, über ein Schloss zu wachen, und nur, wer ihren Sperber drei Tage und Nächte lang ununterbrochen im Auge behält, erobert die Jungfrau. Die zweite Schwester Palentina hütet den Familienschatz, bis einer sie aus dem Berg befreit und damit nicht weniger als „das gelobte Land“ und Jerusalem gewinnt. Die jüngste Tochter Melusine muss einen Mann finden, der sie an keinem Samstag aufsucht.

Doch so, wie Helmas das Tabu von Persine bricht, bricht Reymund später Melusines. Die Männer versagen, und die Frauen werden nicht erlöst. Susanne Knaeble führt das auf eine männliche „Unfähigkeit zum Kontrollverlust“ zurück.8 Die Männer der Familie halten die rationale Ungewissheit, derer es bedarf, um den Bitten der Frauen um Freiheit nachzukommen, nicht aus. Während der Phase im Kindbett bei Persine und während des Samstages bei Melusine9 müssen die Männer der Familie alleine zurechtkommen und dürfen vor allem ihre Frauen und deren Freiheit nicht infrage stellen. Dies bedeutet den Kontrollverlust, den die Männer in Mahrtenehen, die an eine Bedingung geknüpft sind, in den meisten Fällen nicht bewältigen können. So wie sich die monströse Genealogie in den Frauen weitervererbt, scheint sich in den Männern die Schwäche des Kontrollverlustes weiterzuvererben. Tatsächlich ist die Genealogie auf Persines Tafel festgehalten:

[…] Ich ließ im dieses Grab also machen und darauff seine gestallt hauwen darum das die so diese Tafel ansehen oder lesen sein eyngedenck werden denn dereyn da hat kein Mensch moͤgen kommen es were denn auch desselbigen geschlechts von mir oder von meinen Toͤchtern herkommen.10

Die Auflösung des Tabus kann somit nur aus der eigenen Familie kommen, doch diese versagt stets aufs Neue. Knaeble sieht in dem „wiederholte[n] Scheitern der männlichen Protagonisten und [der] Erlösungsbedürftigkeit der weiblichen Nachfolger der Linie11 eine „Art magischen Wiederholungszwang.“12

Dadurch, dass die Erlösung an das eigene Geschlecht gebunden ist, dieses jedoch zur selben Zeit sowohl die Aufgabe als auch das Scheitern an dieser weitervererbt, ist ein Durchbrechen des familiären Zyklus beinahe unmöglich.13 Auch Beate Kellner stellt in ihren Studien zum genealogischen Wissen zur Melusine fest:

„Schuld und Gewalt prägen die Familiengeschichte […] über Generationen hinweg. Gewalt wird mit Gewalt beantwortet […], der Schuldzusammenhang vererbt sich gewissermaßen in die nächste Generation.“14

Melusines Kinder

Melusine und Reymund haben zehn Söhne, die zunächst sehr anständig leben und „ihr Glück wie Märchenfiguren“15 machen. Sie alle entwickeln sich gut. Nur in ihrem Aussehen weichen sie von der Norm ab.

Da gebar sie einen Sohn den nennet sie Uriens der darnach zu großen Ehren kam […] Doch was sein Angesicht nicht schoͤn sondern einer seltzamen form unnd gestalt denn er war gar kurtz und breyt und flach unter den Augen und was im das ein Aug roth und das ander gruͤn. Er hett auch einen grossen weyten Mund und lang hangend Ohren. Aber von Leib und Beinen von Arm und Fuͤssen und aller Geschoͤpff was er gar gerad unnd wolgeschickt und Adelich gestalt.16

In dieser Verbindung von „nicht schön“ und doch „von adeliger Gestalt“ findet sich Melusines Wesen wieder, das sich auch zwischen Monstrosität und Religiosität bewegt. Alle Söhne weisen Abnormitäten auf. Gedes hat ein unheimlich-leuchtendes Gesicht, Gyot grotesk schiefe Augen, Anthoni wurde mit einem Muttermahl in Form einer Löwenpranke geboren und hat dazu Krallen und ein raues Fell, Reinhart trägt nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn, Goffroy hat einen Eberzahn, Freymund eine haarige Nase und Horibel drei böse Augen.17 Die beiden jüngsten Söhne Dieterich und Reymund liegen noch in der Wiege und werden nicht spezifischer beschrieben. Da die Kinder jedoch zu guten Menschen heranwachsen, scheint sich das Monströse in ihnen lediglich im Äußeren vererbt zu haben. Jedoch nur, solange der Vater sein Versprechen hält.

Mit dem Tabubruch, den Reymund an Melusine begeht, in dem er ihr doch an einem Samstag nachstellt und schließlich ihre Schlangengestalt im Bad erblickt, verliert Melusine ihre weibliche Gestalt und alle Hoffnung auf Erlösung aus ihrer Schlangenform. Der Tabubruch wirkt sich auch auf die Söhne aus, denn sie schlagen auf einmal in die Monstrosität um und begehen große Sünden. Als Vorahnung der monströsen Eigenschaften, die die Söhne geerbt haben, diente ihr merkwürdiges Aussehen, in dem sich die monströse Genealogie schon widerspiegelte. Bis zum Tabubruch ihres Vaters war die Prädestination unterdrückt gewesen, mit dem Tabubruch bricht jedoch auch die Monstrosität aus und die Kinder begehen Schandtaten, obwohl sie zuvor gut waren.

Die guten Taten

Zu Beginn sind Melusines und Reymunds Söhne auf dem besten Weg, ehrbare Ritter zu werden. Der älteste Sohn Uriens will ausfahren, um „hohe Ehre mit Kriegen18 zu erlangen. Das gefällt den Eltern sehr. Der Sohn Gyot hat dasselbe Ziel und hilft dabei, eine von heidnischen Feinden umlagerte Stadt zu befreien. Das Unternehmen gelingt und Uriens wird König von Cypern, Gyot König von Armenien. Beide heiraten standesgemäß und das ungewöhnliche Aussehen wird in der Fremde sogar bewundert. Sie bringen viel Ehre für die Familie ein.

Da ward Uriens von dem Cyprischen Volk gar sehr angesehen von der frembde wegen seines Angesichts […]19

Ein Sohn nach dem anderen macht sein Glück, und die Brüder verteilen sich äußerst erfolgreich nach Britannien, Luxemburg, dem Elsaß und in den heimischen Gefilden. Einer der Brüder, Freymund, hat keinen größeren Wunsch, als den, einem Kloster beizutreten und Mönch zu sein. Auch das wird nach einer kleinen Eingewöhnungsphase des Vaters (der die Ritterschaft vorgezogen hätte) in der streng gläubigen, christlichen Familie gerne gesehen.

Die bösen Taten

Reymund lädt mit seinem Tabubruch viel Schuld auf sich. Er bricht das Gelübde, das er seiner Frau geschworen hat, und verdammt Melusine dazu, für immer ein Schlangenwesen zu bleiben. Er hat ihr damit die Möglichkeit genommen, der Monstrosität zu entgehen. Das wirkt sich auch auf die nächste Generation aus. Goffroys „frembder wunderbarlicher unnd wilder Sinn“ ließ ihn den Kampf gegen den Riesen gewinnen:

Goffroy […] war auß dermassen ein starcker Mann unnd wolmuͤgendt seines Leibs unnd frembder wunderbarlicher unnd wilder Sinn hette er viel unnd noch viel mehr denn keiner seiner Bruͤder hette gehabt […]20

Doch nach dem Tabubruch schlägt dieser Charakterzug in die Todsünde Zorn (ira)21 um und treibt ihn dazu, das Kloster, in dem sein Bruder Freymund Mönch geworden ist, samt Bruder und 100 anderen Mönchen bis auf die Grundmauern niederzubrennen:

Goffroy was voll grimmiges Zorns unnd halff gegen ihn kein redt noch gut […] Also verdarbe sein leiblicher Bruder mit den andern Muͤnchen von Feuwers noth […]22

Der Brudermord geht auf die Bibel mit Kain und Abel zurück. Seine Ausübung ist eine große christliche Sünde. Des Weiteren rächt Goffroy den Verrat seines Vaters an seinem Onkel, ohne dessen Zweifel Reymund seiner Frau wahrscheinlich nie nachgestellt hätte (erst durch den brüderlichen Vorwurf der buͤberey sah Reymund sich dazu veranlasst, Melusine zu kontrollieren).23 In diesen Morden Goffroys spiegelt sich der Vatermord beider Eltern wider. Melusine schließt ihren Vater als Rache in den Berg ein, und Reymund ersticht seinen Ziehvater unbeabsichtigt bei der Jagd.24 Kellner stellt fest: „Im Ablauf der Generationen droht sich […] der Konnex von Schuld und Gewalt zu potenzieren.“25 Die Söhne wiederholen die Schuldtaten der Eltern in noch größerem Umfang.

So muss ein weiterer Sohn, Horibel, wegen drohenden Unheils sogar getötet werden. Melusine selbst sagt seinen Mitmenschen eine sonst grauenvolle Zukunft voraus.

Die Herren unnd die Diener alle […] wolten fuͤrkommen das groß ubel so von Horibel ihrem Sohn aufferstehen solte unnd sie namen den Knaben […] unnd erstickten ihn in eim Keller zu todt.26

Der von Melusine im Falle eines Tabubruchs prophezeite Untergang des Geschlechts hat begonnen. Selbst die tiefe religiöse Verbundenheit, für die Melusine so umsichtig gesorgt hat, kann die genealogische Prädestination der Familie nicht mehr aufhalten.27

Conclusio

Die detaillierte genealogische Thematik der Melusinenerzählung zeigt die Wichtigkeit von Herkunft und Stand im Mittelalter. Melusines Familiengeschichte ist durchzogen von Gewalt, Schuld und Schandtaten. Dennoch wird sie als kein herkömmliches, gemeines Monster dargestellt, sondern weist viele christliche Tugenden und einen tief religiösen Glauben auf, zu dem sie sich trotz ihrer Herkunft bewusst entschieden hat (es kann eine gewisse Wertung des Stoffes angenommen werden, denn die Figur diente einem Adelsgeschlecht als Ahnherrin). Ihre Söhne treffen jedoch eigene Entscheidungen. Die Vererbung von den Großeltern über die Eltern zu den Kindern der Familie beinhaltet Schuld, Abhängigkeit und Schwäche. Durch diese verheerende Mischung wird die Thematik permanent wiederholt. Die Monstrosität ist fest mit der Familie verwoben und hat sich dadurch ihr Bestehen gesichert. Die Kinder erben die familiäre Schwäche, jedoch gleichzeitig auch die Stärke, die es ihnen erlaubt, wichtige Positionen erfolgreich zu bestreiten. Allerdings gelingt es keinem Familienmitglied, sich gänzlich aus den vererbten Strukturen zu befreien. Eine Loslösung von der Monstrosität findet nicht statt.


1 Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe [1587]. Stuttgart: Reclam-Verlag 2014.

2 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 105.

3 Röhrig, Lutz: Mahrtenehe. In: Enzyklopädie des Märchens, Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin: de Gruyter 1977–2015, Sp. 44–53.

4 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 105.

5 Röhrig, Lutz: Mahrtenehe, Sp. 45 und 51.

6 Ebd.

Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 107.

8 Knaeble, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“ in der Melusine des Thüring von Ringoltingen. In: Aventiure und Eskapade. Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne, hg. Von Jutta Eming und Ralf Schlechtweg-Jahn. Göttingen: V&R unipress Verlag 2017, S. 63–82, hier S. 67.

9 Reymund verspricht seiner Frau Melusine, sie an keinem Samstag anzuschauen, bricht sein Versprechen jedoch. Mehr dazu im Blogartikel „Das christliche Monster. Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller.

10 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 106.

11 Knaeble, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“, S. 67.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 72.

14 Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München: Wilhelm Fink Verlag 2004, hier S. 451.

15 Ruh, Kurt: Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltinen. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1985 (Heft 5), hier S. 7.

16 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 31.

17 Ebd., S. 31–32.

18 Ebd., S. 33.

19S. ebd., S. 37.

20 Ebd., S. 32–33.

21 Auch zu den Todsünden gibt es einen Abschnitt im bereits benannten Blogartikel.

22 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 82.

23 Ebd., S. 70.

24 „Die Verbrechen am Ursprung […] sind die schrecklichsten Gewalttaten, die sich in einer Gesellschaft denken lassen“, aus Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität, S. 451.

25 Ebd, S. 452.

26 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 94.

27 Knable, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“, S. 68.