Die Funktion der übermenschlichen Kräfte im Nibelungenlied

Das Nibelungenlied ist eines der bedeutendsten Werke der deutschen Literatur des Mittelalters. Der Recke Siegfried verlässt das Land seiner Eltern in Xanten und damit beginnt die Geschichte des Nibelungenlieds. Er wirbt im Burgundenland um die schöne Königin Kriemhild, gewinnt sie für sich und findet schließlich seinen Tod durch die Hand Hagens. Seine Witwe Kriemhild beschließt seinen Tod zu rächen und ihr Handeln nimmt dabei monströse Ausmaße an, wie hier genauer nachzulesen ist.

Dieser Blogartikel möchte sich mit einer weiteren Figur des Nibelungenliedes beschäftigen: mit der Frau des Königs Gunther, Brünhild. In einem ersten Schritt soll dabei genauer betrachtet werden, inwieweit Brünhild als Monster verstanden werden kann. Anschließend soll der Fokus darauf liegen, wieso diese Monstrosität für den Verlauf des Nibelungenliedes von zentraler Bedeutung ist.

Definition des Monsterbegriffs

Um zunächst untersuchen zu können, ob Brünhild monströse Eigenschaften an den Tag legt, muss der Begriff des Monsters definiert werden. Dazu wird die Definition des französischen Diskurstheoretikers Michel Foucault herangezogen, die bereits für die Untersuchung der Figur Kriemhild verwendet wurde und hier noch einmal nachzulesen ist.

Monstrosität der Brünhild

Um zu untersuchen, inwieweit diese Definition auf Brünhild zutrifft, soll ihre erste Beschreibung im Nibelungenlied aufgegriffen werden. In der sechsten Aventiure des Nibelungenliedes wird sie wie folgt beschrieben:

E(z was ein) kuneginne gesezzen uber sê,
ir gelîche enheine man wesse nider mê,
diu was unmâzen schoene. Vil michel was ir kraft.
si schôz mit snellen degenen umb minne den schaft.

Den stein, den warf si verre, dar nâch si wîten spranc.
swer ir minne gerte, der muose âne wanc
Driu spil angewinnen der frouwen wolgeboren.
gebrast im an dem einem, er hete daz houbet sîn verloren. 1

Zu dieser Darstellung Brünhilds sagt Winder McConnell: »Brunhild’s habit of killing unsuccessful aspirants, an act inherently demonic in its nature, stamps her as a figure of the Other World«. 2Und tatsächlich scheint Brünhilds Stärke und Kraft übernatürlich zu sein. Selbst Siegfried, der mit seiner Stärke und Tapferkeit schon Drachen besiegt hat, braucht einen Tarnumhang, der ihm die Kraft von 12 zusätzlichen Männern verleiht, um Brünhild zu besiegen, wie nachfolgend deutlich wird.

Alsô der starke Sîvrit di tarnkappen truoc,
sô het er dar inne krefte genouc:
wol zwelf manne sterke zuo sîn selbes lîp.
Er warp mit grôzen listen daz vil hêrliche wîp. 3

Die andere Welt, die McConnell beschreibt, scheint sich in ihrer Ordnung grundlegend von der Ordnung des Burgundenlandes zu unterscheiden. Auf Isenstein regiert Brünhild mit ihrer übernatürlichen Macht. Hierzu führt Classen aus:

„[…]es handelt sich nicht bloß um eine komische Auseinandersetzung zwischen einem »Teufelsweib« und dem schwächlichen König Günther, sondern vielmehr um eine solche tiefschichtiger Art zwischen einer männlichen und einer weiblichen Kulturform, zwischen Matriarchat und Patriarchat […]“ 4

Beziehen wir diese Beschreibungen der Brünhild nun auf die eingangs herangezogene Definition des Monströsen von Foucault, lässt sich durchaus argumentieren, dass Brünhild als Monster oder übernatürliches Wesen verstanden werden kann. Aus der Perspektive der Burgunden bricht sie durch die Tatsache, dass sie als Frau unabhängig von einem Ehemann ein Land regiert und Befehle an Gefolgsleute erteilt, mit den Gesetzen der Gesellschaft und der Natur. Das Verständnis der höfischen, gesellschaftlichen Ordnung der Burgunden wird durch die Existenz Brünhilds auf den Kopf gestellt.

Darüber hinaus besitzt Brünhild Kräfte, die weit über das Menschliche hinausgehen. Sie wirft Steine weiter, als jeder andere, springt diesen mühelos hinterher und händelt Schwert und Schild, die ihr nur durch die gebündelte Kraft zahlreicher Gefolgsleute angereicht werden können, mühelos. 5 Ihr Umgang mit erfolglosen Eheanwärtern nimmt laut McConnell dämonische Ausmaße an und macht sie zu einer Figur einer anderen Welt. 6

Funktion der übermenschlichen Kräfte im Nibelungenlied

Im Folgenden soll untersucht werden, welche Funktion Brünhild mit ihrer übermenschlichen Kraft und ihren dämonischen Zügen für den Verlauf des Nibelungenlieds hat. Wie bereits beschrieben, beginnt die Geschichte mit dem Aufbruch Siegfrieds in das Burgundenland. Brünhild scheint für die Geschichte eine ebenso zentrale Rolle zu spielen und leitet durch ihre Monstrosität immer wieder neue Wendungen ein.

Zuerst ist der Sieg über Brünhild für das Glück Siegfrieds und Kriemhilds zentral. Der Erfolg der Brautwerbung Gunthers um Brünhild, ist die Voraussetzung der Hochzeit zwischen Siegfried und Kriemhild. So fordert Siegfried von Gunther:

(D)es antwurte Sîvrit, der Sigmundes sun:
„gîstu mir dîne swester, sô will ich ez tuon,
di schoenen Kriemhilde, ein kuneginne hêr.
sô ger ich deheines lônes nâch mînen arbeiten mêr.“

„Daz lob ich“, sprach dô Gunther, „Sîvrit, an dîne hant.
und kumt diu schoene Brünhilt her in ditze lant,
sô will ich dir ze wîbe mîne swester geben.
sô mahtu mit der schoenen immer vroeliche leben.“ 7

Das Bezwingen der übermenschlichen Kräfte Brünhilds, ist für Siegfried der Schlüssel zum Glück, also zu seiner Hochzeit mit Kriemhild. Wie bereits beschrieben, muss er sich dazu jedoch seines Tarnumhangs und damit einer List bedienen. Schon an diesem Punkt sagt der Erzähler der Sage großes Unglück voraus. 8  Selbst nachdem Siegfried Brünhild im Kampf besiegt und sie sich anschließend dazu bereit erklärt Gunther und seinen Gefolgsleuten in das Burgundenland zu folgen, sind ihre Kräfte weiterhin übermenschlich und sie reiht sich keinesfalls in die gesellschaftliche Ordnung des Burgundenlandes ein. Sie erscheint an diesem Punkt weiterhin willensstark und ungezähmt. Brünhild wittert bereits den Betrug, der an ihr begangen wurde. Dieser Verdacht verstärkt sich, als sie die Vermählung zwischen Siegfried und Kriemhild beobachtet:

Der kunic was gesezzen unt Brünhilt diu meit.
dô sach si Kriemhilde, dône wart (ir) nie sô leit,
bî Sîfride sitzen. weinen si began.
ir vielen heize trehene uber liehtiu wange dan.

Dô sprach der wirt des landes: „vil liebiu vrouwe mîn,
war umbe lât ir trüeben vil liehter ougen schîn?
ir muget iuch vreun balde. Iu ist undertân
mîn lant unt mîne burge unt manic waetlicher man.“

„Ich mac wol balde weinen“, sprach diu schoeniu meit.
„umb dîne swester ist mir von herzen leit.
di sihe ich nâhen sitzen dem eigenholden dîn.
daz muoz ich imer weinen, sol si alsô verderbet sîn.“ 9

Als Gunther im Anschluss versucht seiner Ehefrau die Jungfräulichkeit zu nehmen und sie ihn zurückweist, zeigt sich abermals Brünhilds übernatürliche Kraft. Nach einer weiteren seiner körperlichen Annäherungen, hängt sie den König kopfüber an die Wand, um ihre Jungfräulichkeit zu schützen. Nur solange Brünhild unberührt bleibt, bleibt ihre übermenschliche Stärke bewahrt. Solange sie ihren eben bereits erwähnten Verdacht nicht aus der Welt geschafft hat, möchte sie daher jungfräulich bleiben. 10

Gunther benötigt abermals Siegfrieds versteckte Hilfe, um seine Frau zu bändigen. Nur mit Hilfe des Tarnmantels (vorher noch Tarnumhang) gelingt es den beiden Männern Brünhild zu überwältigen und zu bezwingen. Es wird also wiederum deutlich, dass sich die monströsen Kräfte Brünhilds nur durch ein magisches Hilfsmittel bezwingen lassen. 11

Dies ist eine Stelle des Nibelungenliedes, an der die Monstrosität der Brünhild eine zentrale Rolle spielt, denn nur durch eine List ist ihre übermenschliche Kraft zu besiegen. Damit leitet der zweite Betrug an Brünhild eine Wendung in der Handlung ein. Lienert schreibt dazu: „Die Katastrophe des Nibelungenliedes wurzelt nicht in strukturellen Mißverhältnissen, sondern im Werbungs- und Brautnachtbetrug an Brünhild.“12 Damit macht sie deutlich, wie zentral diese beiden Stellen für den Verlauf des Werkes sind. Die Monstrosität der Brünhild, die bezwungen werden muss, ist in diesem Zusammenhang elementar.

Brünhild erfährt einige Aventiuren später von Kriemhild von dem Betrug um das Abhandenkommen ihrer Jungfräulichkeit und es entsteht eine verbitterte Feindschaft zwischen den beiden Frauen. Von dieser List und der Feindschaft der Königinnen, berichtet Brünhild anschließend Hagen von Tronje. Betrogen und ihrer monströsen Kraft auf unrechtsame Weise beraubt, entschließt sie sich gemeinsam mit Hagen an Siegfried zu rächen.

Er vrâgete, waz ir waere. weinende er si vant.
dô sate si im diu maere. er lobt ir sâ zehant,
daz ez erarnen müese der Kriemhilde man,
oder er wolde nimmer dar umbe vrôlich gestân.
Zuo der rede kom dô Ortwîn unt Gêrnôt,
dâ di helde rieten den Sîfrides tôt.[…] 13

Es sind die inzwischen abhandengekommenen magischen Kräfte und der entdeckte Betrug, die zu dem Entschluss führen Siegfried zu töten. Die nun nicht mehr vorhandenen monströsen Kräfte der Brünhild führen also dazu, dass das Nibelungenlied seinen entsprechenden Verlauf nimmt.

Interessant ist, dass Brünhild nach diesem zentralen Wendepunkt bis auf einige kleinere Erwähnungen im Verlaufe des Nibelungenliedes nicht mehr vorkommt. Es scheint, als hätte sie mit dem Abhandenkommen ihrer Monstrosität auch keinerlei Funktion für den Verlauf des Epos mehr.

Fazit

Es lässt sich also zusammenfassen, dass die Monstrosität Brünhilds vor allem in ihrer übermenschlichen Kraft und (Willens-)stärke begründet liegt. Auf Isenstein lässt die mächtige Königin mit übermenschlichen Kräften jeden, der um ihre Hand anhalten will, sie im Wettkampf allerdings nicht besiegen kann, hinrichten. Diesen Akt beschreibt McConnell als „inherently demonic in its nature“. 14

Die übermenschliche Stärke und Kraft der Brünhild sind dabei für den Verlauf des Nibelungenliedes immer wieder von zentraler Bedeutung. So kann die Königin zweimal nur unter Zuhilfenahme eines magischen Tarnumhangs besiegt werden. Dabei ist der erste Sieg über Brünhild Voraussetzung für die Vermählung der beiden Hauptfiguren Siegfried und Kriemhild und damit zentral für die anschließende Handlung.

Ebenso zentral ist der zweite Betrug an Brünhild, wobei ihr wiederum unter Zuhilfenahme des magischen Tarnumhangs ihre Jungfräulichkeit und damit ihre übernatürliche Kraft genommen wird. Diese Aufhebung des Übermenschlichen und der damit verbundene Betrug, führen zu dem Entschluss Hagens, Siegfried zu töten. Der Tod Siegfrieds leitet damit inhaltlich einen neuen Teil des Nibelungenliedes ein, in dem Kriemhild beschließt sich zu rächen und ihre höfischen Umgangsformen und die gesellschaftlichen Erwartungen an sie darüber vergisst. Hier ist also die inzwischen abhanden gekommene Übermenschlichkeit Brünhilds der Ausgangspunkt für eine inhaltliche Wendung.

Es ist also deutlich geworden, dass die übermenschlichen Fähigkeiten Brünhilds für die Handlung des Nibelungenliedes von zentraler Bedeutung sind.

Kriemhild als Sittenmonster?

In der Literatur des Mittelalters tauchen immer wieder Monster aller Art auf: von Drachen im Beowulf 1 über Einhörner im Millstätter Physiologus2 bis hin zu dem Mischwesen Kundrie im Parzival.3 All diese Monster teilen die Eigenschaft der körperlichen Anomalie und werden in anderen Artikeln auf diesem Blog genauer untersucht und in ihrer Monstrosität beleuchtet. Dieser Artikel beschäftigt sich hingegen mit einer anderen Form des Monströsen, die von dem französischen Diskurstheoretiker Michel Foucault definiert wurde: dem Sittenmonster.

Nachdem die schöne Kriemhild im Nibelungenlied4 ihren Gatten Siegfried verliert, ist sie von Schmerz und Kummer so geplagt, dass sie tagelang nicht aufhört zu weinen. Auch viele Jahre später trägt sie diesen Kummer mit sich und ersinnt einen Racheplan: Sie lädt die Mörder ihres Mannes in ihr neues Reich, sodass sie dort den Tod finden sollen. Sie setzt ihren Racheplan mit Hilfe treuer Gefolgsleute in die Tat um. Durch dieses Vorhaben begeht sie einen gesellschaftlichen Tabubruch und im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern sie deswegen als ein sogenanntes Sittenmonster klassifiziert werden kann.

Das Sittenmonster nach Michel Foucault

Bevor der gesellschaftliche Bruch genauer betrachtet wird, den Kriemhild durch ihre Rache begeht, muss definiert werden, was ein Sittenmonster nach Michel Foucault ist. In seinen Vorlesungen über das Anormale, die er im Jahre 1975 unter dem Originaltitel Les Anormaux vor Studierenden des Collège de France hielt, beschreibt der Diskurstheoretiker das Monströse, wie folgt:

[…] das Monster ist durch die Tatsache definiert, daß es qua Existenz und Form nicht nur eine Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze darstellt, sondern auch eine Verletzung der Gesetze der Natur. In einem doppelten Register stellt es durch seine bloße Existenz einen Gesetzesbruch dar. […] Es ist die Grenze, es ist das Moment der Umkehrung des Gesetzes, es ist zugleich die Ausnahme, die nur in Extremfällen auftritt. Sagen wir, das Monster ist das, was das Unmögliche und Verbotene kombiniert.5 

Anhand dieser Definition wird bereits deutlich, dass Foucault das Monströse vor allem als Umkehrung des Normalen versteht. Durch sein bloßes Sein verletzt das Monster die Regeln und Gesetze der Natur und der gesellschaftlich akzeptieren Umgangsformen. Normal ist dabei, was in der Mehrheit der Gesellschaft und Natur vorzufinden ist. Bevor Foucault zu einem späteren Zeitpunkt beschreibt, was er mit dem Begriff des Sittenmonsters genau meint, gibt er zuerst konkretere Beispiele für auftretende Anomalien. Diese werden für die spätere Einordnung des Verhaltens von Kriemhild wichtig und daher sollen sie an dieser Stelle genannt werden:

Es [das Monster] ist ein Mischgebilde aus zwei Arten, ein Mixtum zweier Arten: das Schwein mit dem Schafskopf ist ein Monster. Es ist eine Mischung aus zwei Individuen: Wer zwei Köpfe hat und einen Leib, zwei Leiber und einen Kopf, ist ein Monster. Es ist die Mischung aus zwei Geschlechtern: Wer zugleich Mann und Weib ist, ist ein Monster.6 

In diesen vorangegangenen Beispielen beschränkt sich Michel Foucault vor allem auf die körperlichen Anomalien, die ein Wesen in seinen Augen zu einem Monster machen. Hierbei geht es noch nicht um das Sittenmonster, das später genauer betrachtet wird, sondern in einem ersten Schritt erst einmal noch um die Abweichung von einer körperlichen Norm. Die Mischung aus zwei Geschlechtern sticht hier allerdings schon heraus.

Selbstverständlich kann auch sie noch als eine körperliche Mischung aus Mann und Frau verstanden werden. Man kann allerdings auch annehmen, dass damit ein biologisch weibliches Wesen gemeint ist, das kontinuierlich männlich-stereotype Verhaltensweisen an den Tag legt. Es ist in diesem Zusammenhang zu unterstreichen, dass die Definition klassisch männlicher bzw. weiblicher Verhaltensweisen immer auch abhängig von gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen ist und einem historischen Wandel unterliegt. Die Annahme von männlichen und weiblichen Stereotypen muss demnach immer im Kontext der jeweiligen Zeit verstanden werden.7 

Foucault erweitert seine oben genannte Definition des Monsterbegriffes im Anschluss um den Begriff des Sittenmonsters. Dazu stellt er folgende Definition auf:

[Es] läßt sich dagegen beobachten, daß sich die Beziehung umkehrt und das hervortritt, was man den systematischen Verdacht einer aller Kriminalität zugrundliegenden Monstrosität nennen könnte. Jeder Kriminelle könnte demnach ein Monster sein, wie seinerzeit das Monster eine Chance hatte, ein Krimineller zu sein.8 

Dieser von Foucault beschriebenen Grundannahme, dass in jedem Kriminellen ein Monster steckt, liegt die Idee zugrunde, dass „der Kriminelle einer [ist], der den von ihm unterzeichneten Pakt [mit der Gesellschaft] bricht und sein persönliches Interesse über jenes der Gesetze stellt, welche die Gesellschaft, der er angehört, regieren.“9 

Ein Monster kann nach Foucault also auch ein Mensch sein, der kriminelle Verhaltensweisen an den Tag legt und damit den Gesellschaftsvertrag bricht, den ein jedes Individuum durch sein Leben in einer Gruppe mit anderen Menschen eingeht. Das Monströse liegt in diesem Fall vor allem darin begründet, dass durch diese Abweichungen von der Norm die von der Natur gegebene Ordnung in Frage gestellt und durcheinander gebracht wird. Hier handelt der Kriminelle also gegen die Natur und ist den körperlich anormalen Monstern in dieser Hinsicht ähnlich.

Kriemhild als Sittenmonster

Im nächsten Schritt sollen die Verhaltensweisen der Kriemhild aus dem Nibelungenlied genauer betrachtet und unter Bezugnahme auf die Monsterdefinition nach Michel Foucault eingeordnet werden.

In der fünften Aventiure des Nibelungenliedes10 trifft Kriemhild zum ersten Mal auf ihren späteren Ehemann Siegfried. Es ist zu erwähnen, dass ihr Treffen in einem höfischen Kontext stattfindet und damit bestimmten Regeln folgen muss. Kriemhild ist als Schwester ihren drei Brüdern untergeordnet, die entscheiden, wann und wen ihre Schwester treffen darf. Erst nachdem Siegfried für die drei Brüder in den Kampf gezogen ist und gesiegt hat, darf er Kriemhild sehen. Der von Foucault beschriebene Gesellschaftsvertrag und die von ihm vorgegebenen höfischen Umgangsformen werden zu diesem Zeitpunkt strikt eingehalten. Kriemhild ist sich ihrer Rolle als höfische, unverheiratete Dame bewusst und handelt der Norm entsprechend.11

Um die Wichtigkeit der höfischen Umgangsformen zu unterstreichen, sollen folgende Verse von Kriemhilds Bruder Gernot zitiert werden:

Ir heizet Sîvride zuo mîner swester kumen.
daz in diu maget grüeze, des hab wir immer frumen.
diu nie gegrüezte recken, diu sol in grüezen pflegen.
dâ mit wir haben gewunnen den vil zierlichen degen.“

Dô giengens wirtes mâge, dâ man den helt vant.
si sprâchen zuo dem recken ûzer Niderlant:
„iu hât der kunec erloubet, ir sult zu hove gân.
sîn swester sol iuch grüezen, daz ist zen êren iu getân.12 

Anhand dieses Textbeleges wird deutlich, welche Rolle Kriemhild am Hof der Könige aus dem Burgundenland spielt. Sie wird einem erfolgreichen und wohlhabenden Ritter versprochen, um die höfischen und damit gesellschaftlichen Regeln einzuhalten und zwei Häuser miteinander zu verbinden. Das ist ihre gesellschaftlich festgelegte Rolle, gegen die sie sich nicht auflehnt. Sie folgt zu diesem Zeitpunkt noch dem Gesellschaftsvertrag und zeigt keinerlei Anzeichen von Monstrosität. Ganz im Gegenteil wird sie als besonders schön und begehrenswert beschrieben:

Nu gie diu minnecliche, alsô der morgenrôt
tuot ûz den trüeben wolken. dâ schiet von maneger nôt,
der si dâ truog in herzen und lange het getân.
er sach di minneclichen nu vil hêrlichen stan.

Jâ lûhte ir von ir waete vil manec edel stein.
ir rôsenrôtiu varwe vil minneclichen schein.
ob iemen wunschen solde, der kunde niht gejehen,
daz er zu dirre werelde het iht schoeners gesehen.13 

Für den Beginn des Nibelungenliedes lässt sich festhalten, dass Kriemhild im Rahmen der üblichen höfischen Verhaltensweisen und Umgangsformen handelt und nicht aus den gesellschaftlichen Erwartungen herausbricht. Dieses ändert sich jedoch viele Aventiuren später, nachdem Siegfried von Hagen ermordet wurde und seine Witwe, die inzwischen neu mit dem König Etzel verheiratet ist, beschließt, ihn zu rächen.  Kriemhild beschließt jeden zu morden, der für den Mörder ihres verstorbenen Mannes Siegfried kämpft. Folgende Verse unterstreichen dabei die Erbarmungslosigkeit der Königin.

Dô sprach diu kuneginne: „ir helde vil gemeit,
nu gêt der stiege nâher unde rechet mîniu leit.
daz will ich immer dienen, als ich von rehte sol.
der Hagenen übermüete, der gelôn ich im wol.

Lât einen ût dem hûse niht komen überal.“
si hiez viern enden zünden an den sal.
„sô werdent wol errochen elliu mîniu leit.“
di Etzeln degene wurden schiere bereit.

Di nâhe hi ûze stuonden, di tribens in den sal
mit slegen unde mit schüzzen. des wart vil grôz der schal.
doch wolden nie gescheiden di fürsten und ir man.
sine konden vor ir triuwen einander niht verlân.

Den sal, den hiez dô zünden daz Etzeln wîp.
dô quelte man den recken mit fiuwer dâ den lîp.
daz hûs von einem winde vil balde allez bran.
ich waene, daz volc enheinez grôzer angest nie gewan.14 

Kriemhild bricht an dieser Stelle mit den höfischen Gesetzen, in dem sie ihre Rolle als Königin in den Hintergrund stellt und ihre Macht über die Recken ihres Mannes für ihre Rache nutzt. Traditionell ist sie als Königin nicht diejenige, die Befehle erteilt und hinter dem Rücken ihres Mannes, der nichts von dem von ihr geplanten Hinterhalt und Racheplänen weiß, handelt. Sie schrickt in diesem Moment auch nicht davor zurück, ihre eigenen Brüder zu ermorden, was ebenfalls ein gesellschaftlicher Tabubruch ist.15 

Die von Kriemhild begangene Rache an den Mördern Siegfrieds, der einen Tabubruch darstellt, wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert und führt zu ihrem Tod. Nachdem Kriemhild neben ihrem Bruder Gunther auch Hagen von Tronje umbringt, rächt Hildebrant diesen.

Dô sprach der alte Hildebrant: jâ geniuzet si des niht,
daz si in slahen torste. Swaz mir dâ von geschiht,
swi er mich selbe braehte in angestliche nôt,
iedoch sô will ich rechen des küenen Tronegaeres tôt.

Hildebrant mit zorne zuo Kriemhilde spranc.
er sluoc der küneginne einen swaeren swertswanc.
jâ tet ir diu sorge von hildebrande wê.
Waz mohte si gehelfen, daz si groezlichen schrê?

Dô was gelegen aller dâ der veigen lîp.
ze stucken was gehouwen dô daz edele wîp.
Dieterîch und Etzel weinen dô began.
si klagten innecliche beide mâge und man.16 

Fazit

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Kriemhild zu Beginn des Nibelungenliedes eindeutig im Rahmen der gesellschaftlichen Normen handelt und damit keinesfalls mit dem Gesellschaftsvertrag, den sie durch ihr Leben am Hof mit den Menschen um sich herum eingegangen ist, bricht. Die Trauer und der Schmerz um den Tod ihres Mannes Siegfried scheint in ihr allerdings einen Wandel ausgelöst zu haben. Sie legt ihre höfische Umgangsform ab und entschließt sich entgegen den von ihr erwarteten weiblich-stereotypen Verhaltensweisen zu handeln. Sie beordert die Recken ihres neuen Mannes dazu zu morden. Dabei nimmt sie die Rolle der Befehlshaberin ein und bricht in diesem Moment ein erstes Tabu, da sie dies alles hinter dem Rücken ihres Mannes plant, der der König und damit der eigentliche Befehlshaber über seine Truppen ist. Dass sie dabei unterstreicht, dass sie ihren Gegnern möglichst viel Schmerz und Qual zufügen möchte, macht noch einmal deutlich, wie wichtig ihr die Rache ist.

Es lässt sich also aufgrund der Definition des Sittenmonsters, die zu Beginn des Textes besprochen wurde, sagen, dass Kriemhild monströse Verhaltensweisen an den Tag legt. Als Dame in einem höfischen Kontext, zeigt sie in immer wieder für diese Zeit stereotypisch-männliche Verhaltensweisen und begeht damit einen gesellschaftlichen Tabubruch. Wie Foucault schrieb, ist ein Sittenmonster eine „Mischung aus zwei Geschlechtern: Wer zugleich Mann und Weib ist, ist ein Monster.“17  Ausgehend von dieser Definition kann Kriemhild aus oben beschriebenen Gründen durchaus als Sittenmonster verstanden werden.