Monströse Genealogie in der Melusine bei Thüring von Ringoltingen

Die Erzählung über die Schlangenfrau Melusine wurde aus einer französischen Vorlage adaptiert. Die bekannteste deutsche Fassung stammt von Thüring von Ringoltingen.1 Sie berichtet sowohl von Melusines Kindern, als auch von ihren Eltern. Dieser Blogbeitrag untersucht alle drei Generationen auf die Vererbung von Monstrosität hin. Zur Handschrift und Geschichte, der Figur der Melusine und zu weiteren grundlegenden Informationen s. den Blogartikel „Das christliche Monster: Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller.

Melusines Herkunft

Melusine ist ein Halbwesen aus Mensch und Wasserschlange. Diese Verfassung hat sie ihrer Mutter zu verdanken. In einer Höhle in einem Berg steht das Grabmal ihrer Eltern neben einer beschrifteten Steintafel.

Es war auch auff dem erhabenen koͤstbarlichen und schoͤnen Grab gehawen […] ein Koͤnig gewapnet und gekroͤnet also ligende und war darbey zu desselbigen Koͤniges Fuͤssen ein gehauwen Frauwenbild das hatte ein Taͤfelin in den Haͤnden darinnen stund geschrieben. Dieses ist der Durchleuchtig und großmaͤchtige Koͤnig Helmas mein allerliebster Gemahel der allhie begraben ligt.2

Melusines Eltern sind eine sogenannte Mahrtenehe3 eingegangen. Die Verbindung einer übernatürlichen Mahrte (mhd. mâra, vgl. engl. „nightmare“) mit einem Menschen steht meist unter einem Versprechen (z.B. ein Sichtverbot), an das der Mensch sich halten muss. Melusines Vater Helmas versprach Melusines Mutter Persine aus Awelon, sie nicht direkt nach der Geburt ihres Kindes aufzusuchen:

[Er] hatte mir geschworn […] das er sein lebtag die zeit und weil so ich in dem Kindtbett lege mich nimmer besuchen besehen […] in der zeit kein wissen haben noch durch niemandt anders erfahren wolte.4

Der Grund für die eheliche Verbindung mit einem Menschen ist meist der Wunsch nach einer eigenen Seele, die Mahrten von Natur aus nicht haben.5 Die Hoffnung auf die Seele liegt ganz beim menschlichen Gefährten. Durch einen Bruch des gegebenen Versprechens verdammt der Mensch seine Mahrte dazu, auf ewig unbeseelt zu bleiben. Der Bruch des Tabus ist auch ein bekannter Aspekt der Mahrtenehen.6 König Helmas hält sein Versprechen nicht. Es kommt zum Tabubruch, und Persine muss mit ihren drei Töchtern fliehen. 15 Jahre später rächen sich die Töchter, indem sie ihren Vater in den Berg einschließen. Dies wiederum rächt Persine durch die Auferlegung dreier Tabus. So wird das Tabu von einer zur anderen Generation weitergegeben.

Ich gabe ihn diese Gab darumb daß sie sich an ihrem Vatter von seiner Thorheit wegen die er dazumal an mir begienge so schwerlich recheten unnd ihn beschlossen in einen Berg unnd biß an sein end darinnen gefangen hielten denn wiewol er sich an mir ubergriffen hett dennoch war ich im von Hertzen sehr guͤnstig daß ich die Rach die mein Toͤchter vorgenennet von meinetwegen an ihm begiengen nit wolt noch mochte ungerochen lassen.7

Die älteste Tochter Meliora ist fortan dazu verurteilt, über ein Schloss zu wachen, und nur, wer ihren Sperber drei Tage und Nächte lang ununterbrochen im Auge behält, erobert die Jungfrau. Die zweite Schwester Palentina hütet den Familienschatz, bis einer sie aus dem Berg befreit und damit nicht weniger als „das gelobte Land“ und Jerusalem gewinnt. Die jüngste Tochter Melusine muss einen Mann finden, der sie an keinem Samstag aufsucht.

Doch so, wie Helmas das Tabu von Persine bricht, bricht Reymund später Melusines. Die Männer versagen, und die Frauen werden nicht erlöst. Susanne Knaeble führt das auf eine männliche „Unfähigkeit zum Kontrollverlust“ zurück.8 Die Männer der Familie halten die rationale Ungewissheit, derer es bedarf, um den Bitten der Frauen um Freiheit nachzukommen, nicht aus. Während der Phase im Kindbett bei Persine und während des Samstages bei Melusine9 müssen die Männer der Familie alleine zurechtkommen und dürfen vor allem ihre Frauen und deren Freiheit nicht infrage stellen. Dies bedeutet den Kontrollverlust, den die Männer in Mahrtenehen, die an eine Bedingung geknüpft sind, in den meisten Fällen nicht bewältigen können. So wie sich die monströse Genealogie in den Frauen weitervererbt, scheint sich in den Männern die Schwäche des Kontrollverlustes weiterzuvererben. Tatsächlich ist die Genealogie auf Persines Tafel festgehalten:

[…] Ich ließ im dieses Grab also machen und darauff seine gestallt hauwen darum das die so diese Tafel ansehen oder lesen sein eyngedenck werden denn dereyn da hat kein Mensch moͤgen kommen es were denn auch desselbigen geschlechts von mir oder von meinen Toͤchtern herkommen.10

Die Auflösung des Tabus kann somit nur aus der eigenen Familie kommen, doch diese versagt stets aufs Neue. Knaeble sieht in dem „wiederholte[n] Scheitern der männlichen Protagonisten und [der] Erlösungsbedürftigkeit der weiblichen Nachfolger der Linie11 eine „Art magischen Wiederholungszwang.“12

Dadurch, dass die Erlösung an das eigene Geschlecht gebunden ist, dieses jedoch zur selben Zeit sowohl die Aufgabe als auch das Scheitern an dieser weitervererbt, ist ein Durchbrechen des familiären Zyklus beinahe unmöglich.13 Auch Beate Kellner stellt in ihren Studien zum genealogischen Wissen zur Melusine fest:

„Schuld und Gewalt prägen die Familiengeschichte […] über Generationen hinweg. Gewalt wird mit Gewalt beantwortet […], der Schuldzusammenhang vererbt sich gewissermaßen in die nächste Generation.“14

Melusines Kinder

Melusine und Reymund haben zehn Söhne, die zunächst sehr anständig leben und „ihr Glück wie Märchenfiguren“15 machen. Sie alle entwickeln sich gut. Nur in ihrem Aussehen weichen sie von der Norm ab.

Da gebar sie einen Sohn den nennet sie Uriens der darnach zu großen Ehren kam […] Doch was sein Angesicht nicht schoͤn sondern einer seltzamen form unnd gestalt denn er war gar kurtz und breyt und flach unter den Augen und was im das ein Aug roth und das ander gruͤn. Er hett auch einen grossen weyten Mund und lang hangend Ohren. Aber von Leib und Beinen von Arm und Fuͤssen und aller Geschoͤpff was er gar gerad unnd wolgeschickt und Adelich gestalt.16

In dieser Verbindung von „nicht schön“ und doch „von adeliger Gestalt“ findet sich Melusines Wesen wieder, das sich auch zwischen Monstrosität und Religiosität bewegt. Alle Söhne weisen Abnormitäten auf. Gedes hat ein unheimlich-leuchtendes Gesicht, Gyot grotesk schiefe Augen, Anthoni wurde mit einem Muttermahl in Form einer Löwenpranke geboren und hat dazu Krallen und ein raues Fell, Reinhart trägt nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn, Goffroy hat einen Eberzahn, Freymund eine haarige Nase und Horibel drei böse Augen.17 Die beiden jüngsten Söhne Dieterich und Reymund liegen noch in der Wiege und werden nicht spezifischer beschrieben. Da die Kinder jedoch zu guten Menschen heranwachsen, scheint sich das Monströse in ihnen lediglich im Äußeren vererbt zu haben. Jedoch nur, solange der Vater sein Versprechen hält.

Mit dem Tabubruch, den Reymund an Melusine begeht, in dem er ihr doch an einem Samstag nachstellt und schließlich ihre Schlangengestalt im Bad erblickt, verliert Melusine ihre weibliche Gestalt und alle Hoffnung auf Erlösung aus ihrer Schlangenform. Der Tabubruch wirkt sich auch auf die Söhne aus, denn sie schlagen auf einmal in die Monstrosität um und begehen große Sünden. Als Vorahnung der monströsen Eigenschaften, die die Söhne geerbt haben, diente ihr merkwürdiges Aussehen, in dem sich die monströse Genealogie schon widerspiegelte. Bis zum Tabubruch ihres Vaters war die Prädestination unterdrückt gewesen, mit dem Tabubruch bricht jedoch auch die Monstrosität aus und die Kinder begehen Schandtaten, obwohl sie zuvor gut waren.

Die guten Taten

Zu Beginn sind Melusines und Reymunds Söhne auf dem besten Weg, ehrbare Ritter zu werden. Der älteste Sohn Uriens will ausfahren, um „hohe Ehre mit Kriegen18 zu erlangen. Das gefällt den Eltern sehr. Der Sohn Gyot hat dasselbe Ziel und hilft dabei, eine von heidnischen Feinden umlagerte Stadt zu befreien. Das Unternehmen gelingt und Uriens wird König von Cypern, Gyot König von Armenien. Beide heiraten standesgemäß und das ungewöhnliche Aussehen wird in der Fremde sogar bewundert. Sie bringen viel Ehre für die Familie ein.

Da ward Uriens von dem Cyprischen Volk gar sehr angesehen von der frembde wegen seines Angesichts […]19

Ein Sohn nach dem anderen macht sein Glück, und die Brüder verteilen sich äußerst erfolgreich nach Britannien, Luxemburg, dem Elsaß und in den heimischen Gefilden. Einer der Brüder, Freymund, hat keinen größeren Wunsch, als den, einem Kloster beizutreten und Mönch zu sein. Auch das wird nach einer kleinen Eingewöhnungsphase des Vaters (der die Ritterschaft vorgezogen hätte) in der streng gläubigen, christlichen Familie gerne gesehen.

Die bösen Taten

Reymund lädt mit seinem Tabubruch viel Schuld auf sich. Er bricht das Gelübde, das er seiner Frau geschworen hat, und verdammt Melusine dazu, für immer ein Schlangenwesen zu bleiben. Er hat ihr damit die Möglichkeit genommen, der Monstrosität zu entgehen. Das wirkt sich auch auf die nächste Generation aus. Goffroys „frembder wunderbarlicher unnd wilder Sinn“ ließ ihn den Kampf gegen den Riesen gewinnen:

Goffroy […] war auß dermassen ein starcker Mann unnd wolmuͤgendt seines Leibs unnd frembder wunderbarlicher unnd wilder Sinn hette er viel unnd noch viel mehr denn keiner seiner Bruͤder hette gehabt […]20

Doch nach dem Tabubruch schlägt dieser Charakterzug in die Todsünde Zorn (ira)21 um und treibt ihn dazu, das Kloster, in dem sein Bruder Freymund Mönch geworden ist, samt Bruder und 100 anderen Mönchen bis auf die Grundmauern niederzubrennen:

Goffroy was voll grimmiges Zorns unnd halff gegen ihn kein redt noch gut […] Also verdarbe sein leiblicher Bruder mit den andern Muͤnchen von Feuwers noth […]22

Der Brudermord geht auf die Bibel mit Kain und Abel zurück. Seine Ausübung ist eine große christliche Sünde. Des Weiteren rächt Goffroy den Verrat seines Vaters an seinem Onkel, ohne dessen Zweifel Reymund seiner Frau wahrscheinlich nie nachgestellt hätte (erst durch den brüderlichen Vorwurf der buͤberey sah Reymund sich dazu veranlasst, Melusine zu kontrollieren).23 In diesen Morden Goffroys spiegelt sich der Vatermord beider Eltern wider. Melusine schließt ihren Vater als Rache in den Berg ein, und Reymund ersticht seinen Ziehvater unbeabsichtigt bei der Jagd.24 Kellner stellt fest: „Im Ablauf der Generationen droht sich […] der Konnex von Schuld und Gewalt zu potenzieren.“25 Die Söhne wiederholen die Schuldtaten der Eltern in noch größerem Umfang.

So muss ein weiterer Sohn, Horibel, wegen drohenden Unheils sogar getötet werden. Melusine selbst sagt seinen Mitmenschen eine sonst grauenvolle Zukunft voraus.

Die Herren unnd die Diener alle […] wolten fuͤrkommen das groß ubel so von Horibel ihrem Sohn aufferstehen solte unnd sie namen den Knaben […] unnd erstickten ihn in eim Keller zu todt.26

Der von Melusine im Falle eines Tabubruchs prophezeite Untergang des Geschlechts hat begonnen. Selbst die tiefe religiöse Verbundenheit, für die Melusine so umsichtig gesorgt hat, kann die genealogische Prädestination der Familie nicht mehr aufhalten.27

Conclusio

Die detaillierte genealogische Thematik der Melusinenerzählung zeigt die Wichtigkeit von Herkunft und Stand im Mittelalter. Melusines Familiengeschichte ist durchzogen von Gewalt, Schuld und Schandtaten. Dennoch wird sie als kein herkömmliches, gemeines Monster dargestellt, sondern weist viele christliche Tugenden und einen tief religiösen Glauben auf, zu dem sie sich trotz ihrer Herkunft bewusst entschieden hat (es kann eine gewisse Wertung des Stoffes angenommen werden, denn die Figur diente einem Adelsgeschlecht als Ahnherrin). Ihre Söhne treffen jedoch eigene Entscheidungen. Die Vererbung von den Großeltern über die Eltern zu den Kindern der Familie beinhaltet Schuld, Abhängigkeit und Schwäche. Durch diese verheerende Mischung wird die Thematik permanent wiederholt. Die Monstrosität ist fest mit der Familie verwoben und hat sich dadurch ihr Bestehen gesichert. Die Kinder erben die familiäre Schwäche, jedoch gleichzeitig auch die Stärke, die es ihnen erlaubt, wichtige Positionen erfolgreich zu bestreiten. Allerdings gelingt es keinem Familienmitglied, sich gänzlich aus den vererbten Strukturen zu befreien. Eine Loslösung von der Monstrosität findet nicht statt.


1 Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe [1587]. Stuttgart: Reclam-Verlag 2014.

2 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 105.

3 Röhrig, Lutz: Mahrtenehe. In: Enzyklopädie des Märchens, Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin: de Gruyter 1977–2015, Sp. 44–53.

4 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 105.

5 Röhrig, Lutz: Mahrtenehe, Sp. 45 und 51.

6 Ebd.

Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 107.

8 Knaeble, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“ in der Melusine des Thüring von Ringoltingen. In: Aventiure und Eskapade. Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne, hg. Von Jutta Eming und Ralf Schlechtweg-Jahn. Göttingen: V&R unipress Verlag 2017, S. 63–82, hier S. 67.

9 Reymund verspricht seiner Frau Melusine, sie an keinem Samstag anzuschauen, bricht sein Versprechen jedoch. Mehr dazu im Blogartikel „Das christliche Monster. Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller.

10 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 106.

11 Knaeble, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“, S. 67.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 72.

14 Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München: Wilhelm Fink Verlag 2004, hier S. 451.

15 Ruh, Kurt: Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltinen. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1985 (Heft 5), hier S. 7.

16 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 31.

17 Ebd., S. 31–32.

18 Ebd., S. 33.

19S. ebd., S. 37.

20 Ebd., S. 32–33.

21 Auch zu den Todsünden gibt es einen Abschnitt im bereits benannten Blogartikel.

22 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 82.

23 Ebd., S. 70.

24 „Die Verbrechen am Ursprung […] sind die schrecklichsten Gewalttaten, die sich in einer Gesellschaft denken lassen“, aus Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität, S. 451.

25 Ebd, S. 452.

26 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 94.

27 Knable, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“, S. 68.

„Das christliche Monster“ – Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen

Melusine im Bad. In: Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe [1587]. Stuttgart: Reclam-Verlag 2014, S. 3.

„Halb zog sie ihn, halb sank er hin“1

Vielen ist die Sage der übernatürlich schönen Frau bekannt, die aus dem Wasser steigt, um ihr Opfer in die Fluten zu ziehen. Das Thema hat in vielen Adaptionen Anwendung gefunden und ist auch aus modernen Unterhaltungsfilmen kaum wegzudenken. Ob es sich nun um die Wasserfrau in Goethes Fischer handelt, um Heines Lore-Ley oder um die Sirenen in Homers Odyssee – stets wird von weiblichen Mischwesen berichtet, die lieblich anzuschauen sind, meist wunderschön singen und mit ihren todbringenden Reizen Menschen in die Tiefen des Wassers locken.2

Die Melusine ist ein Halbwesen aus Mensch und Wasserschlange. Jeden Samstag verwandelt sich ihr Körper von der Taille hinab in einen Schlangenschwanz. Währenddessen darf sie von niemandem gesehen werden, sonst geschieht großes Unglück. Die Geschichte von der Schlangenfrau reicht weit zurück. Die Melusine diente historisch-genealogisch als Ahnherrin des Adelsgeschlechtes Lusignan aus Poitou3 in Frankreich.4

Monster im Mittelalter

In der mittelalterlichen Gelehrtenwelt herrschen unterschiedliche Auffassungen über die Definition von Monstern, die zum großen Teil aus der Antike übernommen wurden. Meist handelt es sich um Wesen, die von der allgemeingültigen Norm abweichen und über ein destruktives Gemüt verfügen. Neben dem Einhorn, dem Drachen und dem Phoenix gibt es die sogenannten „monstra marina“. Diese bösartigen Meeresmonster sind die einzigen Wesen, die tatsächlich das Attribut „monstrum“ tragen.5 Daneben wurden häufig die Begriffe „Meerwunder“, und für Halbwesen aus Mensch und Monster die Begriffe „homines monstrosi“ oder „Hybride“ verwendet.6 Zur Herkunft und Entwicklung des Monsterbegriffes siehe den Artikel „Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs?“ von N. Dobers und „Fiktion und Realität – Die Rolle der Monster im mittelalterlichen Weltbild“ von F. Kaiser. In der allegorischen Auffassung des Mittelalters gelten darüber hinaus hässliche Monster als besonders scheußlich und abartig, da die abstoßende Äußerlichkeit die Innerlichkeit bedingen müsse.7 Ein Wesen, das von außen keinerlei Schönheit vorweisen kann, muss allegorisch gesehen auch im Inneren unschön sein: „Das häßliche Monster ist wider die göttliche Ordnung entstanden, es ist Ausdruck der Sündhaftigkeit“.8 Es verwundert also nicht, wenn besonders unglücklichen Monstern sogar der Besitz einer Seele abgesprochen wurde, denn „in der christlichen Weltanschauung bedeutet Schönheit auch göttliche Gunst“.9 Wenn die äußerliche Erscheinungsform den inneren Charakter widerspiegelt, scheint es recht verwunderlich, dass ein Adelsgeschlecht sich ausgerechnet ein Halbmonster zur Ahnin ausgewählt hat.

Die Überlieferung

Der Stoff der Melusine wurde mit den Jahren viel verändert und war besonders im französischen Sprachraum sehr beliebt. Bei der Melusine des Thüring von Ringoltingen handelt es sich um eine Adaption aus dem Französischen. Die Vorlage lieferten wahrscheinlich die Dichter Hélinand de Froidmont (um 1200), Couldrette und Jean d’Arras (beide um 1400).10 Es ist davon auszugehen, dass einige Merkmale des Halbmonsters zu Gunsten der Auftraggeber verändert wurden. Tatsächlich wird der Melusine des Thüring von Ringoltingen ein sehr religiöser Charakter zugesprochen, was im Mittelalter gerne gesehen wurde. Die Darstellung einer bewusst christlichen Melusine trug sehr wahrscheinlich zur „Verherrlichung der Familie“ bei.11 Nicola Neußel-Fischer beobachtet dazu, dass Melusine als „Ahnfrau“ in die Familiengeschichte der Lusignan eingesetzt und damit die „ursprünglich normbrechend-beängstigende Fremdheit der angeblichen Herkunft zu einem normstabilisierenden Ausweis der eigenen Erwähltheit“12 umgewandelt wurde. Dieser Artikel untersucht die Frage, ob es sich bei der Melusine um ein bewusst religiös-tugendhaftes oder eben doch ein monströses Wesen handelt, und analysiert dafür Melusines Charakterisierung insbesondere im ersten Aufeinandertreffen mit ihrem späteren Mann Reymund.

Melusines Charakterisierung

Als die junge Melusine ihren späteren Mann Reymund trifft, nennt sie ihn beim Namen und scheint auch sonst schon einiges über ihn und die Welt zu wissen. Sie kann ihm „alles […] was im widerfahren oder kuͤnfftig was“ berichten, und somit die Zukunft vorhersagen.13 Als er sie bemerkt, erschrickt er und ist nicht sicher, ob er „lebendig oder todt“, und ob das Wesen vor ihm „ein Gespenst oder ein Frauw“ ist.14 Melusine wird beschrieben als von „Hochgeboren unnd Adelicher gestalt“ mit einem „schoͤn Angesicht von Leib und Gestalt wol gezieret und zuͤchtig.15 Diese Beschreibung klingt alles andere als monströs. Die Frau scheint ein sehr vorteilhaftes Aussehen zu besitzen, ja sie ist so gottgefällig, dass Reymund seine Zurückhaltung vergisst, als sie von Gott zu sprechen beginnt, denn „alle Artickel Christliches Glaubens kundt sie ihm gar ordenlich erzelen“.16 Sie glaubt an die „huͤlff Gottes der alle ding vermag11 und gewinnt sein Herz mit ihrer religiösen Aufrichtigkeit: „Da nun Reymund hoͤret daß sie von Gott saget da gewan er einen besondern Trost11, und der junge Mann denkt bei sich: „Nun mag ich etwas Trost haben daß die Jungfrauw kein Gespenst noch keines Unglaubens sonern von Christlichem Blut kommen“.11 Die scheinbar perfekte Dame bietet Reymund eine Allianz an: Sie heiratet ihn und ihm wird es zukünftig an nichts fehlen („so sol dir Gut, Ehr, Gluͤcks unnd Gelts nimmermehr gebresten“),17 wenn er ihr den Eid leistet, sie an keinem einzigen Samstag von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang aufzusuchen oder sich nach ihr zu erkundigen: „Reymund du solt mir zum ersten schweren […] daß du mich zu einem Ehelichen Gemahel nemmen und an keinem Sambstag mir nimmer nachfragen noch mich ersuchen woͤllest weder durch dich selbs noch jemand anderem […], noch dich lassen darauff weisen daß du mich denn immer ersuchst wo ich sey was ich thu oder schaff sondern mich den gantzen Tag unbekuͤmmert lassen woͤllest.18

Dies ist das Motiv der sogenannten Mahrtenehe, in der sich ein übernatürliches Wesen mit einem Menschen verbindet.19 Melusine bietet Reymund ihre Liebe von sich aus an. Ihr Wille zur Ehe ist ein zusätzlich religiöses Motiv, doch versuchen viele Mahrten (mhd. „mâra“, vgl. engl. „nightmare“) durch eine Verbindung zum Menschen die Seele zu erlangen, die sie von sich aus nicht haben.20 Viele Mahrtenehen unterliegen einem Tabu. So ein Tabu kann zum Beispiel sein, dass der Mensch das übernatürliche Wesen zu einer bestimmten Zeit nicht sehen darf, keine Fragen stellen oder die Kammer des Wesens niemals betreten darf. Melusine verbietet Reymund, sie am Samstag zu sehen und er verspricht es ihr. Doch wenn er sein geluͤbd jemals brechen sollte, würden die ganze Familie, das Land und die Leute großen kummer gewinnen und all der empfangene Segen würde sich in Unheil verwandeln.21 Reymund leistet seinen Schwur und die Ehe verläuft gut. Dem Paar fehlt es an nichts und Melusine gebärt zehn gesunde Söhne, die jedoch alle eine gewisse Abnormität aufweisen. Der eine hat einen Eberzahn, der andere hat nur ein Auge in der Stirnmitte und wieder einer trägt ein Muttermal in Form einer Löwenpranke auf der einen Wange. Die Knaben entwickeln sich dennoch zunächst zu gutherzigen Männern,22 bis es zum Wendepunkt der Geschichte, dem Tabubruch Reymunds, kommt, denn fast immer sind Mahrtenehen zum Scheitern verurteilt.23 Nur ein Mal fragt Reymund nach der Herkunft der Melusine, doch sie antwortet: „Du kanst noch magest meinen Standt noch Wesen nicht eygentlich erkennen“.24

Melusine wird im Text als eine durch und durch christliche, gutartige und fromme Frau beschrieben. Sie äußert ihr unumstößliches Gottvertrauen in Anmerkungen wie, dass Gott sie schon mit allem Nötigen versorgen werde,25 baut ein Kloster „Mutter Gottes zu Ehren26 und dankt dem Herrn „von Hertzen und Mund“ dafür, dass er ihr so „groß gluͤck zugefuͤget hatt“.27 Leider währt das Glück nicht lange, da Reymund sein Versprechen nicht halten kann und an Melusine den Tabubruch begeht. Als sein Bruder ihm das Geschwätz im Volk weismacht („etlich die meynen sie treibe buͤberey“),28 packt ihn der Zorn und er schlägt ein Loch in die Tür, hinter der Melusine sich verbirgt, und entdeckt ihr Geheimnis.

Melusines Monstergestalt beginnt ab dem Nabel abwärts. Dort befindet sich anstelle von einem menschlichen Unterleib ein langer, „ungehewrer Wurmschwantz“ aus „blaw Lasur“ und „Silberfarb trpoͤfflich unter einander gesprengt“.29 Melusine ist ein Mischwesen aus Mensch und monströser Schlange. Der Verrat von Reymund trifft sie hart, denn er ruft vor Zeugen aus: „O du boͤse Schlang und schendtlicher Wurm der Samen noch all dein Geschlecht thut nimmer gut“,30 und beschimpft sie und ihre Herkunft und damit die gemeinsame Vergangenheit und ihre Kinder. In ihrer folgenden Klage erzählt Melusine, dass sie durch die Liebe Reymunds hätte gerettet werden können. Wenn er seinen Schwur nicht gebrochen hätte, hätte sie als normale Frau sterben können und ihre Seele wäre befreit gewesen: „hettest du mir dein Geluͤbd gehalten […] so were ich bey dir blieben […] unnd wer natuͤrlich gestorben […] nun so muß mein Leib unnd Seel zu dieser stund hie in leyden unnd pein bleiben biß an den Juͤngsten Tag“.31 Doch so könne er sie nie wieder in weiblicher Form sehen und all sein Glück und seine Seligkeit, Freude und Ehre müssten nun ein Ende haben.32 Daraufhin stürzt sie sich aus dem Fenster und fliegt drei Mal mit lauten Schrei um das Schloss herum.

„Rasse“ und Religion

Neußel-Fischer stellt in ihrer Untersuchung zur „Rasse“ in der Melusine fest, dass die Erzählung Melusine nicht explizit als Meerwunder kategorisiert, sondern lediglich davon berichtet, dass sie in eines verwandelt werde.33 Neußel-Fischer sieht Melusine im „Spannungsfeld der Kategorien“34 von Mensch und Monster und stellt darüber hinaus eine „Verschränkung von Religion und Rasse“35 fest, denn offensichtlich bedingt in der Erzählung die Religion die urtümlich monströse Herkunft oder kann sie zumindest beschwichtigen.36Heiden und Christen werden stark getrennt und es ist sogar die Rede vom christlichen Recht in Kämpfen gegen die Ungläubigen.37 Die Frage nach einer Trennbarkeit von Religion und „Rasse“ steht damit direkt im Raum und ist besonders gut an der einzigen Stelle der Erzählung nachzuvollziehen, in der von einem echten Monster berichtet wird: Ein Sohn von Melusine will einen schreckenerregenden Riesen töten und wird das laut Erzähler durch die „Barmhertzigkeit“ und „huͤlffe Gottes“ auch schaffen.38 Den Riesen werden sämtliche positive Attribute aberkannt, und jemand berichtet, „daß er kein Mensch sey sonder ein grauwsamlicher Teuffel.“39 Die Ermordung von Riesen ist damit gerechtfertigt und Melusine und ihre Nachkommenschaft von Halbwesen werden ganz klar von den wahren Monstern getrennt. (Ein Riese ist ironischerweise der einzige, der den Sohn wegen seines anormalen Aussehens – Eberzahn – verspottet.) An späterer Stelle wird das Geheimnis um Melusines Herkunft gelüftet. Auch ihrer Mutter und ihren Schwestern wurden Bedingungen einer Mahrtenehe auferlegt, die ihre Männer nicht halten konnten. Das eröffnet eine genealogische Thematik, die auch Melusines Nachkommen erfasst, denn obwohl die Söhne ein merkwürdiges Äußeres besitzen, gleicht ihr Verhalten zunächst dem herkömmlicher Helden, allerdings nur so lange, bis der Vater Reymund den geleisteten Schwur an seiner Ehefrau bricht. Ab diesem Zeitpunkt schlagen sämtliche Söhne in die Monstrosität um, und begehen große Schandtaten und Sünden. Diese genealogische Thematik kann im Artikel „Monströse Genealogie in der Melusine bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller nachgelesen werden.

Tugenden und Sünden

Das Mittelalter ist durchzogen von christlichen Weltbildern und Werten. Das Gute und Schöne wird meist mit christlicher Reinheit erklärt. So wird auch die Ahnherrin Melusine, wie oben gezeigt, als besonders christlich und tugendhaft dargestellt. Die Sieben Tugenden des Mittelalters sind Demut, Mildtätigkeit, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Wohlwollen und Fleiß. Das Gegenteil – also die Untugenden (besser bekannt als die Sieben Todsünden) – sind Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit.40 Melusine erfüllt bei Thüring von Ringoltingen sehr viele Tugenden. Sie gibt sich demütig ihrem Glauben hin und ist eine keusche juncvrouwe. Selbst nach dem schrecklichen Verrat und der Enthüllung des Schlangenwesens bleibt Melusine eine christliche Frau. Sie wird trotz ihres monströsen Geheimnisses als „die Tugendreiche und darzu die Hochgeborne41 beschrieben und bietet in ihrer langen Klage trotz aller Enttäuschung gegenüber Reymund und Aussicht auf ewige „Verfluchtheit“ immernoch ihren Trost an: „du solt auch von mir noch viel trosts unnd huͤlff zu gewarten seyn.“42 In tiefster Nacht sucht sie noch ihre beiden jüngsten Kinder auf, um sie an die Brust zu legen: „Melusina kam in die Kammer darinn die Kindt lagen und hube eines nach dem andern auff […] unnd wermet sie gegen dem Feuwer und seugt sie lieblich. Diß sahen die Ammen gar oft.43 Dieser Akt der Liebe macht das wahre Wesen der Melusine deutlich und kehrt die Erzählung vom schreckenerregenden Halbmonster spätestens jetzt in eine tragische Geschichte über eine verfluchte Frau um. Dies erklärt auch die sehr positive Darstellung der sonst eher negativ konnotierten Mahrtenehen.44 Die Sieben Todsünden finden in der Erzählung hingegen keinen großen Platz. Es können höchstens Reymund seine unbeständige Geduld und sein mangelndes Vertrauen vorgeworfen werden. Die Todsünde, die tatsächlich erwähnt wird, ist der Zorn der Söhne nach dem Tabubruch (s. dazu den Artikel über die monströse Genealogie).

Conclusio: Das christliche Monster

Melusine ist eine Frau mit christlichen Werten. Sie erfüllt wichtige christliche Tugenden, ist hilfsbereit, kümmert sich aufopferungsvoll um ihre Kinder und vergibt ihrem Mann selbst den so verheerenden Tabubruch. Nur am Samstag tritt ihr monströses Potenzial zutage, jedoch nur passiv, denn sie verliert niemals die Beherrschung und verletzt niemanden. Melusine ist zwar eine ambivalente Figur, jedoch hat sie sich aktiv für die tugendhafte Seite entschieden und lebt konsequent danach. Leider konnte sie von ihrem Dasein als Halbwesen nicht erlöst werden. Ihre Geschichte hat nichtsdestotrotz die Jahrhunderte erfolgreich überdauert und kann auch heute noch zugleich abstoßend und faszinierend wirken.