Der Hobbit – eine Neufassung von Beowulf?

In J.R.R. Tolkiens Werken rund um die Welt Mittelerde sind viele Motive aus älterer Literatur, im Besonderen jener, die auf nordischen Mythen basiert, eingeflossen.[1] Ein Beispiel sind die Namen der 13 Zwerge aus dem Hobbit, die alle aus dem Gedicht Völuspá, einem Lied aus der Edda, stammen.[2] Einige besonders prägnante Ähnlichkeiten und damit vermutete Einflüsse gibt es zu dem altenglischen Epos Beowulf.[3] Die Parallelen bestehen vor allem zwischen Beowulf und dem Hobbit. Einige Stimmen gehen dabei so weit, zu behaupten, dass der Hobbit so etwas wie eine Neuinterpretation, oder eine moderne Neufassung von Beowulf ist.[4] Eine Vertreterin dieser Theorie ist Bonniejean Christensen. Sie hat ihre Dissertation den vielen Parallelen zwischen Beowulf und dem Hobbit gewidmet. Neben anderen Motiven geht Christensen dabei vor allem auf die Ähnlichkeiten in der Handlung ein. In diesem Artikel sollen drei Beispiele dieser Ähnlichkeiten näher beleuchtet werden, um zu überprüfen, inwieweit die These des Hobbits als Neufassung von Beowulf schlüssig ist.

Die Parallelen

Zunächst verweist Christensen darauf, dass der Handlungsrahmen durch die vorkommenden Monster eine entscheidende Gemeinsamkeit hat. Tolkien selbst hat die Meinung vertreten, dass die Aneinanderreihung von Begegnungen zwischen dem Helden und verschiedenen Monstern in Beowulf den roten Faden der Geschichte ausmachen und daran, gegenüber anderen Meinungen, nichts falsch sei.[5] Wenn man die Geschichte des Hobbit genauer betrachtet, findet man auch hier einen roten Faden, der durch Begegnungen mit Monster wesentlich geprägt wird. Letztlich arbeitet hier sogar von Anfang an alles auf die Begegnung mit dem letzten großen Monster, dem Drachen, hin. Dieses Grundkonzept ist also in beiden Geschichten vorhanden.[6]
Ähnlichkeiten findet man auch in einzelnen Handlungssträngen. Christensen gibt in ihrer Arbeit eine ganze Reihe von Parallelen an, von denen hier drei prägnantere Fälle als Beispiel dienen sollen. Die verschiedenen Passagen finden sich innerhalb der beiden Geschichten nicht immer an der gleichen Stelle im Handlungsverlauf. Das ist für einen solchen Einfluss aber auch nicht zwangsläufig nötig.

Die ersten Monster

Die ersten Monster, auf die die Gefährten im Hobbit treffen, sind drei Trolle, die im Wald um ein Feuer herum sitzen und sich ein Schaf rösten. Bilbo und die Zwerge werden von ihnen entdeckt und gefangen und werden erst durch den zurückkehrenden Gandalf gerettet, der die Trolle durch einen Trick in Stein verwandeln lässt.[7] Christensen zieht den Vergleich zwischen dieser Szene und dem ersten Monster in Beowulf, also zu Grendel.[8] Grendel wird dort als „Riese“[9] beschrieben. Die Trolle sind große menschenähnliche Wesen, die man ebenfalls als Riesen bezeichnen könnte. Des Weiteren erfährt man, dass die drei, seit sie aus den Bergen heruntergekommen sind, in der umliegende Gegend und den auf dem Weg liegenden Dörfern alles Essbare, was sie finden, fangen und verzehren. In der Umgebung scheint es aber nicht mehr viele Menschen zu geben. „Never a blinking bit of manflesh have we had for long enough,“[10], beschwert sich einer von ihnen.  Auch Grendel terrorisiert die Menschen, indem er sie immer wieder angreift und umbringt.[11] Und auch hier flüchten die Menschen aus seiner Umgebung. In beiden Fällen werden die Unruhestifter durch die Helden außer Gefecht gesetzt und so die Menschen in der Umgebung von ihnen befreit.

Beorn

In dem Handlungsabschnitt über den Besuch der Gefährten bei Beorn gibt es nach Christensen mehrere Zusammenhänge zu Beowulf. Der erste bezieht sich auf die Ankunft. Als Beowulf und sein Gefolge in Dänemark ankommen werden sie zunächst von einem Strandwächter und später von Wulfgar, einem Amtmann am Hofe, begrüßt und nach ihrer Herkunft gefragt. Ihre Ankunft wird daraufhin König Hrothgar übermittelt, der sich an Beowulfs Vater erinnert und die Schar empfängt.[12] Als die Gefährten im Hobbit an Beorns Heim ankommen, wird ihre Ankunft dem Hauseigentümer dort ebenfalls angekündigt.

„Some horses, very sleek and well-groomed, trotted up across the grass and looked at them intently with very intelligent faces; then off they galopped to the buildings. „They have gone to tell him of the arrival of strangers,“ said Gandalf.“[13]

Christensen interpretiert dies als eine etwas scherzhafte und untertriebene Umsetzung der ausgeschmückten Szene in Beowulf.[14]
Die nächste, von Christensen aufgestellte, Parallele besteht zwischen den beiden Trophäen-Köpfen.[15] Beorn verfolgt die Spuren der Gefährten zurück, um sich von deren Geschichte, über die Flucht vor den Orks, zu überzeugen. Als Bilbo Beorn fragt, was er mit den Orks getan hat, zeigt dieser ihm einen Orkkopf, der auf dem Eingangstor zu Beorns Heim steckt.[16] Den Kopf des Monsters als Trophäe findet man auch in Beowulf. Beowulf und sein Gefolge nehmen Grendels Kopf mit nach Heorot, nachdem Beowulf Grendels Mutter besiegt hat, und stellen ihn dort, ebenfalls aufgespießt, aus.[17]
Die letzte Gemeinsamkeit ist zwischen den beiden Abschieden.[18] Als die Gefährten im Hobbit Beorn verlassen und abreisen, bekommen sie von ihm als Unterstützung Pferde und Proviant, um ihre Reise weiter bestreiten zu können.[19] Auch Beowulf und sein Gefolge bekommen bei ihrer Abreise aus Dänemark von König Hrothgar Geschenke für das Besiegen von Grendel.[20]

Der Drache

Die wahrscheinlich deutlichste Parallele, die in der Forschung des Öfteren erwähnt wird, besteht in den Episoden rund um die Drachen der beiden Erzählungen. Christensen widmet den Ähnlichkeiten zwischen ihnen ein ganzes Kapitel. In dieser Stelle dieses Artikels wird allerdings nur auf die Handlungsparallelen rund um den Drachen eingegangen.
Der Drache Smaug aus dem Hobbit hat das Innere des Berges Erebor besetzt. Dort hat er einen großen Schatz angesammelt, den er nun hütet. Bilbo, der im Verlauf der Geschichte mehrmals den Titel Meisterdieb erhält, kann mithilfe des Ringes durch einen geheimen Nebeneingang ungesehen in Smaugs Heimstätte eindringen und ihm einen goldenen Pokal entwenden. Smaug, dem dieser Verlust nicht entgeht, der aber den Dieb nicht sehen konnte, macht sich auf den Weg seinen Zorn an der nahe gelegenen Menschenstadt auszulassen, da er den Dieb unter den Dorfbewohnern vermutet. Im Zuge dieses Angriffs wird Smaug getötet.[21]
Beim Drachen in Beowulf klingt die Geschichte sehr ähnlich.

[…] als auf einmal anfing,
In dunklen Nächten ein Drache zu wüten,
Der auf einer hochgelegenen Heide einen Hort bewachte,
Eine steile Steinhöhle. Ein Steig führt hinunter,
Den Leuten unbekannt. Doch gelangte einer,
Man weiß nicht wer, auf irgendeinem Wege dorthin
Zu dem heidnischen Hort. Die Hand stahl einen Schatz,
Ein glänzendes Schmuckstück, schwer bewacht vom Drachen, […]
[…] Einen kostbaren Kelch. Solcher Kleinode waren viele
Im Inneren der Erdhöhle, uralte Schätze, […][22]

Der Sklave, der hier im Auftrag seines Herren den Kelch stielt, kommt ebenfalls ungesehen am Drachen vorbei, allerdings nicht durch einen magischen Ring, sondern weil der Drache schläft.
Die Parallelen sind unverkennbar. Beide Drachen leben in einer Höhle aus Stein, bewachen einen Schatz und werden von einem ungesehenen Dieb eines goldenen Pokals beraubt. Anschließend machen sie sich beide auf, an den Menschen Rache zu nehmen, verwüsten dabei Teile von menschlicher Zivilisation und finden am Ende ihren Tod.

Kritik und Fazit

Christensen bietet in ihrer Arbeit eine ganze Reihe von Vergleichen und Ähnlichkeiten zwischen Beowulf und dem Hobbit. Obwohl von einigen Parallelen, wie die zwischen den Episoden der Drachen, durchaus geschlossen werden kann, dass Tolkien beim Schreiben des Hobbit von Beowulf inspiriert wurde, ist die These, dass der Hobbit eine Art Neufassung von Beowulf ist, vielleicht doch etwas zu stark. Viele Motive die Christensen als Parallele zwischen den beiden Geschichten aufzeigt, sind weniger speziell, als es zunächst klingt. Zum Beispiel die zwischen dem mitgebrachten und aufgespießten Orkkopf auf der einen und Grendels Kopf auf der anderen Seite. Den Kopf eines Gegners als Trophäe mitzunehmen ist ein gängigeres Motiv. Dass man in dem Punkt eine direkte Verknüpfung der beiden ausgewählten Werke herstellt, scheint etwas voreilig zu sein. Auch wenn die Ähnlichkeit so weit geht, dass es sich in beiden Fallen um die Köpfe von Monstern handelt.
Dass Tolkien im Erschaffen des Hobbits von Beowulf inspiriert wurde, kann man annehmen. Dass das Werk eine Neuinterpretation des altenglischen Epos ist, ist dann aber doch eine etwas zu drastische These.


[1] Eine Auflistung der verschiedenen möglichen Quellen mit zusätzlichen Kommentaren findet man in Shippey, Tom: The Road to Middle-Earth. Boston: Houghton, 1983, S. 288ff.

[2] Vgl. Shippey, Tom: The Road to Middle-Earth. Boston: Houghton, 1983, S.390.

[3] Vgl. Ebd., S.389.

[4] Vgl. Christensen, Bonniejean: Beowulf and The Hobbit: Elegy into Fantasy in J.R.R. Tolkien’s Creative Technique. Dissertation, University of Southern California, 1969, S. 5f.

[5] Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Monsters and the Critics. In: The Monsters and the Critics and other Essays. Hg. v. Christopher Tolkien. London: HarperCollins, S. 5-48.

[6] Vgl. Christensen, S.21.

[7] Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Hobbit, London 2006, S.41ff.

[8] Vgl. Christensen, S.39f.

[9] Beowulf: Ein altenglisches Heldenepos. Übersetzt und herausgegeben von Martin Lehnert. Reclam, Stuttgart 2004 S. 61, Vers 761.

[10] Tolkien: The Hobbit, S.42.

[11] Vgl. Beowulf, S.34ff, Vers 121ff.

[12] Vgl. Ebd., S.38ff, Vers 229ff.

[13] Tolkien: The Hobbit, S.137f.

[14] Vgl. Christensen, S. 96.

[15] Vgl. Ebd., S.99.

[16] Vgl. Tolkien: The Hobbit, S.154.

[17] Vgl. Beowulf, S.104f, Vers 1635ff.

[18] Vgl. Christensen, S.101.

[19] Vgl. Tolkien: The Hobbit., S.154f.

[20] Vgl. Beowulf, S.72f, Vers 1019ff.

[21] Vgl. Tolkien: The Hobbit.

[22] Beowulf, S.132, Vers 2210ff.

Grendel und Gollum – Ein Vergleich zweier Monster

J.R.R. Tolkien war Philologe und hat sich im Zuge dessen viel mit altenglischer Literatur beschäftigt. Dass ihn einige der Werke beim Schreiben seiner eigenen Bücher und der Erschaffung seiner eigenen Welt, Mittelerde, stark beeinflusst haben und ihm teils als Quelle für Ideen dienten, ist also nicht sonderlich verwunderlich. Da Tolkien sich im Besonderen mit dem altenglischen Epos Beowulf auseinandergesetzt hat, wurde in der Forschung wiederholt die These aufgestellt, dass ganze Handlungsstränge von Tolkiens Hobbit oder der Herr der Ringe-Trilogie von Beowulf beeinflusst sind. Auf diese umfassenderen Vergleiche wird dieser Artikel nicht näher eingehen. Stattdessen sollen die Ähnlichkeiten eines bestimmten Aspekts genauer beleuchtet werden. Tolkiens Welt Mittelerde ist reich an unterschiedlichsten Fabelwesen. Darunter findet man auch Monster. Monster gibt es wiederum auch im Beowulf einige und die spielen keine kleine – laut Tolkien sogar die größte – Rolle in den Handlungssträngen dieser Geschichte.[1] Zwischen den Monstern in Tolkiens Werken und denen im Beowulf gibt es einige Überschneidungen, darunter teilweise sogar sehr große Ähnlichkeiten, wie beispielsweise zwischen dem namenlosen Drachen aus Beowulf und dem Drachen Smaug im Hobbit.  In diesem Artikel sollen die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen zwei dieser Monster untersucht werden: Zum einen Grendel aus Beowulf, welcher den ersten großen Gegner für den namensgebenden Helden des Werkes darstellt und somit die Handlung des ersten Drittels des Buches maßgeblich beeinflusst. Zum anderen Gollum, aus Tolkiens Mittelerde, der für viele Leser zu den faszinierendsten Figuren dieser Welt zählt und der ebenfalls einen großen Teil zur Geschichte des Hobbits und der Herr der Ringe Bücher beiträgt.

Gemeinsamkeit Lebensraum

Gollums ersten Auftritt findet man im Hobbit, als Bilbo allein durch die Dunkelheit eines Höhlensystems in den Bergen irrt.[2] Das erste Auftreten der Figur wird also stark von der Umgebung, von Gollums Wohnort, mitgezeichnet. Er lebt auf einer „slimy island of rock“[3], die in der Mitte eines kleinen Sees liegt. Dieser See befindet sich sehr tief innerhalb des Berges, was dadurch klar wird, dass Bilbo von seinem ohnehin schon orientierungslosen Standort durch einen langen abschüssigen Gang immer tiefer in den Berg hinein wandert, bevor er an dem See ankommt.[4] Der ganze Ort ist vollkommen dunkel, sodass Bilbo zunächst absolut nichts sieht. Gollum dagegen, der hier zuhause ist, hat große, helle Augen, die als „lamp-like“[5] beschrieben werden, also in schwachem Licht strahlen. Scheinbar kann er mit ihnen auch sehr gut sehen, da er in der Dunkelheit von seiner kleinen Insel aus problemlos erkennt, dass Bilbo, der am Ufer des Sees steht, kein Ork ist.[6]

In dieser Beschreibung findet man die erste starke Ähnlichkeit zu Grendel. Auch Grendels erste Erwähnung beinhaltet seinen Wohnort. Gleich im ersten Grendel beschreibenden Satz heißt es: „[…] der gräßliche Unhold, der in der Finsternis hauste […]“[7]. Spezifischer wird beschrieben, dass Grendel in einem angrenzenden Moor lebt.[8] Im zweiten Teil der Geschichte, in dem Beowulf Grendels Mutter nach ihrem Rachezug zu ihrem Heim zurückverfolgt, wird die Behausung der beiden Monster näher beschrieben. Die Heldenschar kommt im Moor an ein Gewässer, das sie als Heimat des Monsters erkennen. Beowulf springt ins Wasser und wird von Grendels Mutter in Halle geführt, die sich unter Wasser befindet, in die aber kein Wasser eindringt.[9]  Sowohl Gollum, als auch Grendel, leben also in einer Art unterirdischen Höhle und werden mit Dunkelheit in Verbindung gebracht. Sie scheinen ebenfalls beide lichtscheu zu sein. Grendel greift in der ganzen Geschichte nur nachts an[10] und in Gollums Werdegang, den Gandalf in Die Gefährten Frodo beschreibt, gibt es einen Moment, in dem die Wärme und das Licht der Sonne anfangen, Gollum Schmerz zuzufügen und er sich bewusst in die Dunkelheit der Berge zurückzieht.[11] Auch der Bezug zu Wasser ist bei beiden Monstern gegeben. Grendel lebt im Moor in einem See und Gollum auf der schlammigen Insel in der Mitte des Bergsees. Gollums Bezug zum Wasser wird durch sein früheres Leben als Mitglied eines Hobbitvolkes, der seinerseits ein sehr wasserverbundenes Leben führte, noch verstärkt.[12] Auch die in der Dunkelheit leuchtenden Augen Gollums finden sich bei Grendel wieder. Im Beowulf heißt es: „Aus seinen Augen flammte, der Lohe gleich, ein gräßliches Licht.“[13]. Anders als bei Gollum lässt sich in Grendels Fall jedoch nicht sagen, ob dieses Licht zur Verbesserung seines Sehvermögens beiträgt.

Gemeinsamkeit Kain

Neben diesen charakteristischen Ähnlichkeiten gibt es eine weitere sehr deutliche Verbindung, auf die in der Forschung eingegangen wird, wenn es um die Gemeinsamkeiten zwischen Beowulf und Tolkiens Werken geht.[14] Sie besteht im Bezug zu der biblischen Geschichte von Kain. Im Fall von Grendel wird dieser Bezug direkt im Werk hergestellt. Grendel ist, wie andere Monster auch, ein Nachfahre Kains.[15] Er hat das Böse vererbt bekommen und lebt, wie sein Vorfahre, außerhalb der menschlichen Zivilisation im Exil. Gollum wird dagegen in kein Verwandtschaftsverhältnis zu Kain gesellt, sondern begeht den Sündenfall selbst. Sméagol, wie Gollum heißt, bevor er seine Wandlung zum Monster durchgemacht hat, angelt zusammen mit seinem Freund Déagol. Als Déagol dabei ins Wasser fällt, findet er den Ring. Sméagol möchte den Ring selbst gerne haben und tötet Déagol, als dieser ihm den Ring nicht freiwillig übergibt.[16] In der Erzählung ist zwar nicht die Rede von einer brüderlichen Verwandtschaft zwischen den beiden, aber aufgrund der Ähnlichkeit der Namen kann man zumindest vermuten, dass die beiden in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zueinander stehen.[17] Sméagol, der daraufhin zu seiner Familie zurückkehrt, erfährt durch den Einfluss des Ringes eine stetige Wesensveränderung, die dazu führt, dass er ins Exil verbannt wird.[18] Sméagols beziehungsweise Gollums Geschichte erinnert sehr stark an die biblische Erzählung Kains.

Obwohl Grendel das Böse nur durch Kain geerbt hat und Gollum die böse Tat selbst verübt hat, sind die Parallelen durch den Bezug auf dieselbe biblische Geschichte doch deutlich.

Unterschiede

Trotz dieser deutlichen Parallelen zwischen den beiden Monstern gibt es auch grundlegende Unterschiede. Diese betreffen zum einen das Aussehen: Von den leuchtenden Augen abgesehen bestehen keine nennenswerten Ähnlichkeiten. Gollum wird als „a small slimy creature“[19] beschrieben. Grendel dagegen wird als „Riese“[20] bezeichnet. Die Größe wird durch das spätere tragen seines Kopfes, was nur von vier Männern zusammen möglich ist, besonders deutlich veranschaulicht.[21] Dazu hat Grendel Klauen,[22] die in Gollums Erscheinungsbild ebenfalls nicht auftauchen.

Ein anderer Unterschied liegt darin, dass Grendel wie erwähnt als Monster geboren wurde und durch sein Erbe vollständig böse zu sein scheint. Gollum war dagegen früher mal ein Wesen, das einem Hobbit ähnlich ist.[23] Ob man Hobbits als Monster bezeichnen kann oder nicht, ist eine Frage auf die auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Aber sie sind in Tolkiens Welt zumindest recht eindeutig keine bösen Wesen. Sméagol wird erst ab dem Zeitpunkt, an dem der Ring in seinem Leben auftaucht und er Déagol tötet, böse. Und selbst nach all den Jahren in der Dunkelheit, in denen sein ehemaliges Wesen immer mehr verschwunden ist, scheint der gute Teil im Kontakt mit Frodo und Sam teils wieder ein wenig hervorzukommen.[24] Gollum scheint, im Gegensatz zu Grendel, also nicht von Natur aus böse zu sein.

Vielleicht ist es auch diese Wesensverschiebung, die dafür sorgt, dass die beiden Monster eine unterschiedliche Rolle in der Geschichte einnehmen. Während Grendel einen klaren Gegner des Helden darstellt, wechselt Gollums Rolle zwischen Gegner und Konkurrent um den Besitz des Ringes und Verbündetem der Helden, der ihnen hilft ihre Aufgabe zu erfüllen ­– wenn auch teils eher widerwilli­g –, hin und her.

Fazit

Gollum kann aufgrund der beschriebenen Parallelen und trotz, beziehungsweise vielleicht auch wegen der Unterschiede, als moderne Interpretation von Grendel gesehen werden. Von beiden entsteht zunächst der Eindruck eines Ungeheuers, welches  in einiger Entfernung zur menschlichen Zivilisation, und in der Dunkelheit lebt und eine starke Verbindung zum Wasser hat. Die Ähnlichkeit wird durch den Sündenfall des Bruder- beziehungsweise Verwandtschaftsmordes aus Eifersucht und die anschließende Verbannung ins Exil noch vertieft. Diese Tat wird in Tolkiens Werken nicht von einem Vorfahren verübt, sodass Gollum nicht als geborenes Böses dasteht. Stattdessen kann man ihn als eine Figur betrachten, deren seelischer Verfall nachvollziehbar ist und die den Zugang zu ihrer guten Seite vielleicht nicht vollständig verloren hat. Damit kann man Gollum als eine im Äußeren etwas umgestaltete Neuinterpretation von Grendel sehen, die einem einen tieferen Einblick in das Innenleben des Monsters gewährt.
Die These, dass Tolkien bei der Erschaffung der Figur Gollums tatsächlich so stark von Grendel beeinflusst wurde wie eben dargestellt, lässt sich nicht mit endgültiger Sicherheit beweisen, da Tolkien selbst dazu keine ausführliche Auskunft gegeben hat.[25] Aber die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Monstern und die Tatsache, dass Tolkien sich selbst stark mit Beowulf auseinandergesetzt hat, lässt zumindest die Vermutung auf einen gewissen Einfluss von der Figur Grendel auf die Entstehung von Gollum nicht unplausibel erscheinen.


[1]    Vgl. Tolkien, John R. R.: The Monsters and the Critics. In: The Monsters and the Critics and other Essays. Hg. v. Christopher Tolkien. London: HarperCollins, S. 5-48.

[2]    Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Hobbit, London 2006, S. 81ff.

[3]    Ebd. S. 85.

[4]    Ebd. S. 83f.

[5]    Ebd. S. 85.

[6]    Ebd. S. 85.

[7]    Beowulf: Ein altenglisches Heldenepos. Übersetzt und herausgegeben von Martin Lehnert. Reclam, Stuttgart 2004 S. 32, Vers 86f.

[8]    Vgl. ebd. S. 33, Vers 103f.

[9]    Vgl. ebd. S. 94ff., Vers 1398ff.

[10]  Vgl. ebd.

[11]  Vgl.Tolkien, John R.R.: The Lord of the Rings. The Fellowship of the Ring, London 1999, S. 71.

[12]  Ebd. S. 69.

[13]  Beowulf,  S. 60, Vers 726f.

[14]  Siehe zum Beispiel Nelson, Brent: Cain-Leviathan Typology in Gollum and Grendel. In: Extrapolation: A Journal of Science Fiction and Fantasy 49/3 (2008)

[15]  Beowulf, S. 33, Vers 106ff.

[16]  Tolkien: The Fellowship of the Ring, S. 70.

[17]  Vgl. Brent: Cain-Leviathan Typology in Gollum and Grendel, S. 467.

[18]  Tolkien: The Fellowship of the Ring, S. 70f.

[19]  Tolkien,: The Hobbit, S. 84.

[20]  Beowulf, S. 61, Vers 761.

[21]  Ebd., S. 104, Vers 1635ff.

[22]  Ebd., S. 60, Vers 738.

[23] Tolkien: The Fellowship of the Ring, S. 69.

[24]  Vgl. Tolkien, J.R.R.: The Lord of the Rings. The Two Towers, London 2007.

[25]  Vgl. Brent: Cain-Leviathan Typology in Gollum and Grendel., S. 466.