„Halb zog sie ihn, halb sank er hin“1
Vielen ist die Sage der übernatürlich schönen Frau bekannt, die aus dem Wasser steigt, um ihr Opfer in die Fluten zu ziehen. Das Thema hat in vielen Adaptionen Anwendung gefunden und ist auch aus modernen Unterhaltungsfilmen kaum wegzudenken. Ob es sich nun um die Wasserfrau in Goethes Fischer handelt, um Heines Lore-Ley oder um die Sirenen in Homers Odyssee – stets wird von weiblichen Mischwesen berichtet, die lieblich anzuschauen sind, meist wunderschön singen und mit ihren todbringenden Reizen Menschen in die Tiefen des Wassers locken.2
Die Melusine ist ein Halbwesen aus Mensch und Wasserschlange. Jeden Samstag verwandelt sich ihr Körper von der Taille hinab in einen Schlangenschwanz. Währenddessen darf sie von niemandem gesehen werden, sonst geschieht großes Unglück. Die Geschichte von der Schlangenfrau reicht weit zurück. Die Melusine diente historisch-genealogisch als Ahnherrin des Adelsgeschlechtes Lusignan aus Poitou3 in Frankreich.4
Monster im Mittelalter
In der mittelalterlichen Gelehrtenwelt herrschen unterschiedliche Auffassungen über die Definition von Monstern, die zum großen Teil aus der Antike übernommen wurden. Meist handelt es sich um Wesen, die von der allgemeingültigen Norm abweichen und über ein destruktives Gemüt verfügen. Neben dem Einhorn, dem Drachen und dem Phoenix gibt es die sogenannten „monstra marina“. Diese bösartigen Meeresmonster sind die einzigen Wesen, die tatsächlich das Attribut „monstrum“ tragen.5 Daneben wurden häufig die Begriffe „Meerwunder“, und für Halbwesen aus Mensch und Monster die Begriffe „homines monstrosi“ oder „Hybride“ verwendet.6 Zur Herkunft und Entwicklung des Monsterbegriffes siehe den Artikel „Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs?“ von N. Dobers und „Fiktion und Realität – Die Rolle der Monster im mittelalterlichen Weltbild“ von F. Kaiser. In der allegorischen Auffassung des Mittelalters gelten darüber hinaus hässliche Monster als besonders scheußlich und abartig, da die abstoßende Äußerlichkeit die Innerlichkeit bedingen müsse.7 Ein Wesen, das von außen keinerlei Schönheit vorweisen kann, muss allegorisch gesehen auch im Inneren unschön sein: „Das häßliche Monster ist wider die göttliche Ordnung entstanden, es ist Ausdruck der Sündhaftigkeit“.8 Es verwundert also nicht, wenn besonders unglücklichen Monstern sogar der Besitz einer Seele abgesprochen wurde, denn „in der christlichen Weltanschauung bedeutet Schönheit auch göttliche Gunst“.9 Wenn die äußerliche Erscheinungsform den inneren Charakter widerspiegelt, scheint es recht verwunderlich, dass ein Adelsgeschlecht sich ausgerechnet ein Halbmonster zur Ahnin ausgewählt hat.
Die Überlieferung
Melusines Charakterisierung
Als die junge Melusine ihren späteren Mann Reymund trifft, nennt sie ihn beim Namen und scheint auch sonst schon einiges über ihn und die Welt zu wissen. Sie kann ihm „alles […] was im widerfahren oder kuͤnfftig was“ berichten, und somit die Zukunft vorhersagen.13 Als er sie bemerkt, erschrickt er und ist nicht sicher, ob er „lebendig oder todt“, und ob das Wesen vor ihm „ein Gespenst oder ein Frauw“ ist.14 Melusine wird beschrieben als von „Hochgeboren unnd Adelicher gestalt“ mit einem „schoͤn Angesicht von Leib und Gestalt wol gezieret und zuͤchtig.“15 Diese Beschreibung klingt alles andere als monströs. Die Frau scheint ein sehr vorteilhaftes Aussehen zu besitzen, ja sie ist so gottgefällig, dass Reymund seine Zurückhaltung vergisst, als sie von Gott zu sprechen beginnt, denn „alle Artickel Christliches Glaubens kundt sie ihm gar ordenlich erzelen“.16 Sie glaubt an die „huͤlff Gottes der alle ding vermag“11 und gewinnt sein Herz mit ihrer religiösen Aufrichtigkeit: „Da nun Reymund hoͤret daß sie von Gott saget da gewan er einen besondern Trost“11, und der junge Mann denkt bei sich: „Nun mag ich etwas Trost haben daß die Jungfrauw kein Gespenst noch keines Unglaubens sonern von Christlichem Blut kommen“.11 Die scheinbar perfekte Dame bietet Reymund eine Allianz an: Sie heiratet ihn und ihm wird es zukünftig an nichts fehlen („so sol dir Gut, Ehr, Gluͤcks unnd Gelts nimmermehr gebresten“),17 wenn er ihr den Eid leistet, sie an keinem einzigen Samstag von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang aufzusuchen oder sich nach ihr zu erkundigen: „Reymund du solt mir zum ersten schweren […] daß du mich zu einem Ehelichen Gemahel nemmen und an keinem Sambstag mir nimmer nachfragen noch mich ersuchen woͤllest weder durch dich selbs noch jemand anderem […], noch dich lassen darauff weisen daß du mich denn immer ersuchst wo ich sey was ich thu oder schaff sondern mich den gantzen Tag unbekuͤmmert lassen woͤllest.“18
Dies ist das Motiv der sogenannten Mahrtenehe, in der sich ein übernatürliches Wesen mit einem Menschen verbindet.19 Melusine bietet Reymund ihre Liebe von sich aus an. Ihr Wille zur Ehe ist ein zusätzlich religiöses Motiv, doch versuchen viele Mahrten (mhd. „mâra“, vgl. engl. „nightmare“) durch eine Verbindung zum Menschen die Seele zu erlangen, die sie von sich aus nicht haben.20 Viele Mahrtenehen unterliegen einem Tabu. So ein Tabu kann zum Beispiel sein, dass der Mensch das übernatürliche Wesen zu einer bestimmten Zeit nicht sehen darf, keine Fragen stellen oder die Kammer des Wesens niemals betreten darf. Melusine verbietet Reymund, sie am Samstag zu sehen und er verspricht es ihr. Doch wenn er sein geluͤbd jemals brechen sollte, würden die ganze Familie, das Land und die Leute großen kummer gewinnen und all der empfangene Segen würde sich in Unheil verwandeln.21 Reymund leistet seinen Schwur und die Ehe verläuft gut. Dem Paar fehlt es an nichts und Melusine gebärt zehn gesunde Söhne, die jedoch alle eine gewisse Abnormität aufweisen. Der eine hat einen Eberzahn, der andere hat nur ein Auge in der Stirnmitte und wieder einer trägt ein Muttermal in Form einer Löwenpranke auf der einen Wange. Die Knaben entwickeln sich dennoch zunächst zu gutherzigen Männern,22 bis es zum Wendepunkt der Geschichte, dem Tabubruch Reymunds, kommt, denn fast immer sind Mahrtenehen zum Scheitern verurteilt.23 Nur ein Mal fragt Reymund nach der Herkunft der Melusine, doch sie antwortet: „Du kanst noch magest meinen Standt noch Wesen nicht eygentlich erkennen“.24
Melusine wird im Text als eine durch und durch christliche, gutartige und fromme Frau beschrieben. Sie äußert ihr unumstößliches Gottvertrauen in Anmerkungen wie, dass Gott sie schon mit allem Nötigen versorgen werde,25 baut ein Kloster „Mutter Gottes zu Ehren“26 und dankt dem Herrn „von Hertzen und Mund“ dafür, dass er ihr so „groß gluͤck zugefuͤget hatt“.27 Leider währt das Glück nicht lange, da Reymund sein Versprechen nicht halten kann und an Melusine den Tabubruch begeht. Als sein Bruder ihm das Geschwätz im Volk weismacht („etlich die meynen sie treibe buͤberey“),28 packt ihn der Zorn und er schlägt ein Loch in die Tür, hinter der Melusine sich verbirgt, und entdeckt ihr Geheimnis.
„Rasse“ und Religion
Tugenden und Sünden
Das Mittelalter ist durchzogen von christlichen Weltbildern und Werten. Das Gute und Schöne wird meist mit christlicher Reinheit erklärt. So wird auch die Ahnherrin Melusine, wie oben gezeigt, als besonders christlich und tugendhaft dargestellt. Die Sieben Tugenden des Mittelalters sind Demut, Mildtätigkeit, Keuschheit, Geduld, Mäßigung, Wohlwollen und Fleiß. Das Gegenteil – also die Untugenden (besser bekannt als die Sieben Todsünden) – sind Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit.40 Melusine erfüllt bei Thüring von Ringoltingen sehr viele Tugenden. Sie gibt sich demütig ihrem Glauben hin und ist eine keusche juncvrouwe. Selbst nach dem schrecklichen Verrat und der Enthüllung des Schlangenwesens bleibt Melusine eine christliche Frau. Sie wird trotz ihres monströsen Geheimnisses als „die Tugendreiche und darzu die Hochgeborne“41 beschrieben und bietet in ihrer langen Klage trotz aller Enttäuschung gegenüber Reymund und Aussicht auf ewige „Verfluchtheit“ immernoch ihren Trost an: „du solt auch von mir noch viel trosts unnd huͤlff zu gewarten seyn.“42 In tiefster Nacht sucht sie noch ihre beiden jüngsten Kinder auf, um sie an die Brust zu legen: „Melusina kam in die Kammer darinn die Kindt lagen und hube eines nach dem andern auff […] unnd wermet sie gegen dem Feuwer und seugt sie lieblich. Diß sahen die Ammen gar oft.“43 Dieser Akt der Liebe macht das wahre Wesen der Melusine deutlich und kehrt die Erzählung vom schreckenerregenden Halbmonster spätestens jetzt in eine tragische Geschichte über eine verfluchte Frau um. Dies erklärt auch die sehr positive Darstellung der sonst eher negativ konnotierten Mahrtenehen.44 Die Sieben Todsünden finden in der Erzählung hingegen keinen großen Platz. Es können höchstens Reymund seine unbeständige Geduld und sein mangelndes Vertrauen vorgeworfen werden. Die Todsünde, die tatsächlich erwähnt wird, ist der Zorn der Söhne nach dem Tabubruch (s. dazu den Artikel über die monströse Genealogie).
Conclusio: Das christliche Monster
- Aus Johann Wolfgang von Goethe: Der Fischer (1779).
- Vgl. Rachewiltz, Siegfried de: Sirenen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin: de Gruyter 1977–2015, Sp. 748–752, hier Sp. 751.
- Etwa um 1200. Vgl. die französische Schreibweise: Melusigne.
- Vgl. Lecouteux, Claude: Melusine. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin: de Gruyter 1977–2015, Sp.556–562, hier Sp. 556.
- Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2015, hier S. 13.
- Vgl. ebd., S. 19.
- Vgl. Mühlemann, Simone: Monstrum, Sp. 827.
- S. ebd., Sp. 825.
- S. ebd., Sp. 827.
- S. Lecouteux, Claude: Melusine, Sp. 556.
- S. ebd.
- Neußel-Fischer, Nicola: „… dise greüsenliche und fremde geschoeff …“: zur Kategorie „race“ in Thürings von Ringoltingen „Melusine“. In: Abenteuerliche „Überkreuzungen“. Vormoderne intersektional, hg. v. Susanne Schul, Mareike Böth, Michael Mecklenburg, Bd. XXII: Aventiuren. Göttingen: V&R unipress Verlag 2017, S. 221–237, hier S. 237.
- S. Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe [1587]. Stuttgart: Reclam-Verlag 2014, S. 10.
- S. ebd., S. 11.
- S. ebd., S. 11–12.
- S. ebd., S. 13
- S. ebd., S. 12.
- S. ebd., S. 14.
- Vgl. Röhrig, Lutz: Mahrtenehe. In: Enzyklopädie des Märchens, Sp. 44–53.
- Vgl. ebd., Sp. 45 und 51.
- S. ebd., S. 28.
- Vgl.: „[…] aber das schafft keine Komplikationen: weder gereichen diese Missbildungen zum Kummer der Eltern und der Familie, noch hindern sie die Söhne am Erfolg. Vielmehr machen sie wie Märchenfiguren ihr Glück“, aus Ruh, Kurt: Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltinen. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1985 (Heft 5), hier S. 7.
- Vgl. ebd., Sp. 49.
- S. Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 21
- Vgl. ebd., S. 30.
- S. ebd., S. 32.
- S. ebd., S. 43.
- S. ebd., S. 70.
- S. ebd., S. 71.
- S. ebd., S. 86.
- S. ebd., S. 87–88.
- Vgl. ebd., S. 86–91.
- Vgl. Neußel-Fischer, Nicola: „… dise greüsenliche und fremde geschoeff …“, S. 231.
- Vgl. ebd., S. 235.
- Vgl. ebd., S. 227.
- Vgl. das erste Aufeinandertreffen.
- S. Melusine, S. 83.
- S. ebd., S. 79.
- Vgl. ebd., S. 97.
- S. Alzheimer, Heidrun: Tugenden und Laster. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin: de Gruyter 1977–2015, Sp. 998–1007, hier Sp. 999–1000.
- S. Melusine, S. 85.
- S. ebd., S. 91.
- S. ebd., S. 94.
- Vgl. Röhrig, Lutz: Mahrtenehe, Sp. 44–45.