Das (un-)höfische Monster Karrioz in Wirnts von Grafenberg Wigalois

Der gleichnamige Held Wirnts von Grafenberg Wigalois1 (ca. 1210–1220) trifft im Verlaufe seines Abenteuers neben der zentaurenähnlichen Gestalt Marrien auch auf andere monströse Gegner, wie zum Beispiel die wilde Waldfrau Ruel oder den Drachen Pfetan. Während der dritten Âventiurenreihe begegnet er außerdem Karrioz, einem weiteren Wächter des dämonischen Reiches von Korntin. Neben den ausgeprägten körperlich-monströsen Merkmalen fällt auch Karriozʻ höfisches Auftreten auf. Fasbender schreibt: „Karrioz ist in erster Linie Ritter, er wählt die Waffen des Ritters und wird von Wigalois, der ihn sogleich attackiert, im ritterlichen Zweikampf bezwungen.“2 Aber: „Montur und Körperkonzept stehen, gemessen am Maßstab des höfischen Codes, in einem Missverhältnis“,3 welches im folgenden Artikel näher untersucht werden soll.

Karrioz, der Kampfzwerg

Karrioz bewacht die mit 60 Speeren gespickte Brücke, die nach Glois führt. Zunächst wird er als Ritter, später als Zwerg, beschrieben. Aber obwohl Karrioz ein Zwerg zu sein scheint, wird er nicht als solcher benannt, sondern lediglich mit einem Zwerg verglichen.4Grôze arme und kurziu bein / hêt er nâch der getwerge sit“ (V. 6590–6591). Vielmehr liegt die Betonung seiner Beschreibung auf der Ritterlichkeit, die er ausstrahlt. Dazu trägt bei, dass er auf einem Pferd reitet und einen Helm, sowie ein Schild mit dem heidnischen Wappen von Glois trägt.

diu hêt ein rîter in sîner pflege,
der was ze harnasche wol,
als ze strîte ein rîter sol.
er reit ein ors swarz gevar,
mit einer kovertiure gar
bedecket von samîte;
sîn schilt was niuwe unde guot;
von liehter varwe wîze
was der schilt über al;
von rôtem golde ein lîste smal
was geleit ûf den rant;
drinne – dâ bî daz was bekannt
daz er von Glois ein rîter was –
ein sûl, diu glaste al ein glas
von lâzûre und von golde;
als er leben solde,
Machmêt dar ûffe saz;
dâ bî man solde wizzen daz
sich niht erwerte sîm gebot;
durch daz vuort er der heiden got. (V. 6549–6568)

Sein Helm wird als prunkvoll beschrieben und sein Körper wird von dem Fell eines Löwen geschmückt, den er aufgrund seiner Stärke mit bloßen Händen erlegt hat: „Den lewen vienc er âne wer / und sluoc in mit nacter hant“ (V. 6610–6611). Seine Wildheit wird durch das Geschlecht seiner Mutter, einem „wilden wîp“ (V. 6603), erklärt. Sein Körper ist haarig, er ist überaus  stark und seine Knochen sind ohne Mark, was  seine  Stärke noch weiter steigert:

swie kurz er wære, sîn kraft was grôz
er hiez der küene Karriôz.
Sîn muoter was ein wildez wîp;
dâ von was im sîn kurzer lîp
aller rûch unde starc.
sîn gebeine was âne marc
nâch dem geslähte der muoter sîn;
deste sterker muose er sîn.
einem man was er ein her.  (V. 6601–6609)       

Allerdings verwundert seine Stärke nicht, schließlich fällt ihm die wichtige Aufgabe des Brückenwächters zu, der die eigentliche âventiure des Helden, den Zauberer Roaz, bewacht: „der âventiure huot er / vil mangen tac, daz diu sper / niemen gar wider in vertet“ (V. 6595–6596)  Seine Stärke kann als Königsattribut, aber auch als Zeichen von Unzivilisiertheit verstanden werden.5 Doch diese Stärke nützt ihm nichts, denn nachdem er und Wigalois im Kampf alle Lanzen verbraucht haben, und er zu einer unhöfischen6 Kolbenwaffe greift, gelingt es Wigalois seinen Widersacher zu verwunden, beim zweiten Mal sogar tödlich. Der sterbende Karrioz flüchtet schreiend – was ebenfalls als unhöfisch gilt7 – in den Pechnebel, der aus einem Moor aufsteigt, und findet dort den Tod:

Dô in der sper gar zeran
und Karriôz sich des versan,
einen kolben er gevienc,
der im an dem arme hienc;
Als er des tôdes rehte enpfant,
gegen Glois vlôch er zehant
und schrei sô lûte daz erschal
beidiu berge unde tal
dar în vlôch der kurze man;
dâ gesigt ouch im der tôtan. (V. 6667–6676)

„Die Erscheinung des Zwerges zeichnet einen Widerspruch zwischen der höfischen Außenseite, der wertvollen Rüstung, und der körperlichen Beschaffenheit, dem zwergenhaften zottigen Leib, aus.“8 Karriozʻ Wappen und auch ihm selbst werden ritterliche Attribute zugeschrieben,  das  ein oder andere Mal  wird er  sogar als ein rîter bezeichnet. Durch sein unritterliches Kampfverhalten und den Fluchtversuch während seines nahenden Todes erweist er sich jedoch als Scheinritter. Allerdings macht Schmitt darauf aufmerksam, dass Karrioz wegen seines Körpers und seiner Herkunft von Anfang an nicht dem höfischen Ideal entsprochen hat, und der kulturelle Code eines Ritters daher nie erfüllt war:            

„Seine zwergenhafte Gestalt mit dem Missverhältnis zwischen riesigen Armen und kurzen Beinen muss hier erwähnt werden, weil sie den Erwartungen widerspricht, durch die Beschreibung der Rüstung und durch die Charakterisierung als Ritter geweckt worden sind. Die Pracht der Rüstung führt in die Irre, weil sie das Bild eines vorbildlichen Ritters evoziert, der Karrioz nicht ist […]. Dazu kommt das Erbe seiner Mutter, die ein „wildez wîp“ (V. 6603) [ist].“ 9

Dazu auch Fasbender:

„Karrioz ist, nimmt man sein Körperkonzept als Parameter, eine nur bedingt höfische Erscheinung, kleinwüchsig und mit Löwenfell über der Rüstung, das auf seinen Jagderfolg hinweist (V. 6610f.). Seine Gesinnung dagegen ist ritterlich: nâch ganzem strîte ranc ie sîn sin (V. 6644). Allerdings hängt er dem falschen Glauben an (V. 6575).“10

Fazit

Obwohl Karrioz durch Reittier und Rüstung als kampfbereiter, erfahrender Ritter auftritt, trägt er das heidnische „Wappen als Medium einer kollektiven Herkunftsbestimmung“11 und präsentiert sich dadurch als ein Kämpfer – nicht aber als ein Ritter – von Glois. Vor allem seine Herkunft steht dem höfischen Ideal gegenüber:

„[Es] darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Erbe einer [wilden] Mutter einen eklatanten Widerspruch zur höfischen Norm bewirkt. In der Regel stammen ansehnliche Ritter von ansehnlichen Müttern ab.“12

Die Kombination aus „Aussehen, Abstammung und Teufelsverbindung [wirkt daher wie] eine Einheit, bei welcher das Äußerliche als Spiegel des Inneren begriffen werden kann.“13 Da von einem „tievels trût“ (V. 6577) und einem Wesen, das einem „heiden got“ (V. 6575) dient, keine Ehre erwartet werden kann, stellt Karriozʻ Aufmachung – die nur scheinbar ritterlich-höfische Außenseite – also nichts als eine Verschleierung seiner Selbst dar.

Die Funktion des Monsters Marrien in Wirnts von Grafenberg Wigalois

Der Wigalois1 ist ein zwischen 1210 und 1220 entstandener Artusroman und Wirnts von Grafenberg einziges belegbares Werk. Eming lobt Wirnts besondere Leistung „in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß mit dem Wunderbaren zu arbeiten,“2 und spielt damit nicht nur auf Zauberei, sondern auch auf monströse Gestalten und magische Dinge an. Überhaupt ist die „ritterlich-höfische Dichtung (1180–1230) […] stark von der mittelalterlichen Monsterkultur geprägt.“3 Behr argumentiert jedoch, dass die Monster, die in den arthurischen Romanen auftreten „offenbar zu keinem anderen Zweck geschaffen wurden als dem, edle Ritter und unschuldige Jungfrauen zu bedrohen und dafür vom Titelhelden nach mehr oder weniger hartem Kampf erschlagen zu werden […].“4

Die Rolle von Monstern in Literatur, Kunst und Wissenschaft entsprang meist der theologischen Diskussion der mittelalterlichen Frage „nach dem Sinn und [ihrem] Stellenwert […] in Gottes Schöpfungsplan.“5 Aus diesem Grund muss die Funktion von Monstern auch immer in einem bestimmten Kontext gesehen werden, da gerade die höfische Literatur des Mittelalters christlich-religiös gekennzeichnet ist. Daher wurden jegliche Arten von Monstern schnell zu Trägern negativer Eigenschaften und Verhaltensweisen und als „feindselig, bösartig, widerwärtig, ungestüm, gierig, schändlich und abscheulich“6 identifiziert. Eine Vielzahl von Mediävisten hat den Wigalois – einen bekanntlich christlich-religiösen Text – für ihre Studien zu Wundern und übernatürlichen  Wesen  herangezogen,  ohne  dabei  jemals  den theologischen Rahmen der fiktiven Dichtung außer Acht zu lassen. Im Folgenden soll daher am Beispiel des Monsters Marrien untersucht werden, welche Funktion dieses fremdartige Wesen im Wigalois besitzt und wie es in Hinblick auf seine körperlichen Besonderheiten dargestellt wird.

Die vremdiu crêatiure

Wigalois begegnet im Verlaufe seines Abenteuers mehreren monströsen Wesen, vor allem im dämonischen Reich von Korntin, wo er auf seinen Endgegner Roaz trifft. Der Weg zu Roaz wird von Wächtern beschützt, darunter auch von einer vremdiu crêatiure (V. 6932). Es ist Marrien, ein Ungeheuer, das als halb Mensch, halb Tier beschrieben wird. Es hat einen Hundekopf mit glühenden Augen, einen menschlichen Oberkörper und den Unterkörper eines Pferdes. Außerdem wird der Körper dieses fremdartigen geschepftes (V. 6951) von Schuppen bedeckt, die härter als Stein sind, und es kann nicht eindeutig bestimmt werden, ob Marrien männlich oder weiblich ist.

ein vremdiu crêatiure;
diu bestuont in mit viure.
si hêt ein houbet als ein hunt,
lange zene, wîten munt,
diu ougen tief, viurvar;
niderhalp der gürtel gar
hêt si eines rosses lîp.
weder ez man ode wîp
wære, des enweiz ich niht. […]
enzwischen gürtel und houbet
was sie geschaffen als ein man;
breite schuopen wâren dran
gewahsen herter danne ein stein (V. 6932–6946)

Um Wigalois von seinem Weg abzubringen, wirft Marrien mit einem Feuer nach ihm, das es in einem eisernen Topf bei sich trägt. Es ist ein Zauberfeuer, das alles verbrennt, was damit in Berührung kommt und mit Wasser nicht gelöscht werden kann. Erst als es Wigalois gelingt, Marrien eines der vier Beine abzuschlagen, stellt er fest, dass das Blut des Ungeheuers das Feuer löschen kann. Marrien flieht verwundet in den Pechnebel eines Moors und findet dort den Tod.

Die Vermischung zweier Monstra

Marrien trägt verschiedene monströse Merkmale, sodass eine Zuordnung zu einer bestimmten Art von Monster nicht möglich ist. Das liegt an Wirnts Versuch „verschiedene Traditionen und Tendenzen zu kombinieren, so dass eine besondere Monstervorstellung daraus entspringt.“7 Das auffälligste an Marriens Gestalt sind die „Merkmale zweier der beliebtesten mittelalterlichen Monstra […]: die des Kynocephalen und des Kentauren.“8 Simek zählt die Kentauren zu den Sonderformen der Monster, da sie für gewöhnlich nicht als Einzelwesen, sondern als ganze Völkerschaften auftreten.9 Der Kopf und der Oberkörper eines Mannes treten entweder mit dem Leib und den Beinen eines Pferdes (Hippocentaur), seltener eines Esels (Onocentaur), auf. Zudem werden ihnen aufgrund antiker Mythen Eigenschaften wie Wildheit, Trunkenheit, sexuelle Aggressivität und Kampfeslust nachgesagt.10 Friedrich beschreibt sie als stereotype Mischwesen mit einem undurchdringlichen Fell und meist unritterlichen Waffen wie Speer, Bogen und Feuer. In antiken Mythen war ihr Ansehen positiv, in der mittelalterlichen höfischen Literatur dagegen negativ, denn die Funktion ihrer Gestalt wurde je nach Bedarf variiert: germanisch-heldenepisch (Tier), exotisch-ethnographisch (wilder Reiterkrieger) oder christlich-dämonisch (Teufel).11

 Die Kynocephalen werden als eine „Rasse von Menschen mit Hundeköpfen [beschrieben], die sich durch Bellen verständigen.“12 Isidor von Sevilla bestimmt Indien als ihren Geburtsort.13 Das fehlende Sprachvermögen der sogenannten Hundsköpfigen führte dazu, dass ihre Menschlichkeit in Frage gestellt wurde.14 Auch Isidor schreibt sie durch diesen Umstand eher der Tier- als der Menschenwelt zu.15 Ihr Bellen und die Tatsache, dass sie zu den Anthropophagen (Menschenfresser) gezählt werden,16 scheint die Zuordnung in das Reich der Tiere zu bekräftigen, andererseits werden sie als streitsüchtige Menschen und Verräter17 bezeichnet, was dem vehement widerspricht. Interessant ist, das Wirnt gerade diese beiden Wesen, die doch so unterschiedlich zu sein scheinen,  zu einer Lebensform vereint, wie Antunes darstellt:

„Da der menschliche Kopf [der Kentauren] den animalischen Unterkörper beherrscht, wird er als ein zum Denken fähiges und die Bekehrung suchendes Wesen aufgefasst, im Gegensatz zu den Kynocephalen, die einen vom Tierkopf beherrschten Menschenkörper besitzen und infolgedessen oft als unzivilisiert gelten.“18

Was auch immer Marrien ist, es stecken menschliche und tierische Eigenschaften in dem fremdartigen Wesen. In dieser Doppelnatur sieht Gottzmann die Versinnbildlichung von „Häresie und Lasterhaftigkeit“.19 Auch Lohbeck sieht – neben unbändiger, roher Gewalt – verschiedene Laster, die durch die Mischung aus Fischschuppen, Hund und Pferd entstehen: Neid, Zorn und Unreinheit.20 Als vâlant (V. 6976) und tievel (V. 7001) bezeichnet, wird Marrien somit „deutlich zum Funktionselement des Teufels: nunmehr ausgerüstet mit ‚infernalischem‘ Feuer.“21

Als „Hüter der teuflischen Herrschaft“22 fungiert Marrien als ein Hindernis, dem sich der Held auf seinem Weg stellen muss. Als „Helfershelfer“23 unterstützt Marrien das diabolische Vorhaben Roaz‘, der „als heide […] zur dämonischen, fremden Gesellschaft jenseits der Christenheit [gehört].“24 Da die Christen über die  Heiden siegen, sterben  auch  die Widersacher, gegen die sich  Wigalois zur Wehr setzen muss.

Fazit

Die Überlieferungen von Tieren, Mischwesen und besonders Monstern dienten im Mittelalter als Instrumente für das Verständnis von Gottes Schöpfungsplan, heizten die Unsicherheit und Befremdung über die – nach dem mittelalterlichen Weltbild ursprünglich meist orientalischen – Monster aber auch weiter an. „Um Laster und Tugenden begrifflich und inhaltlich vorstellbar zu machen, kombiniert die Scholastik ganz rational Montagen aus Tieren und Menschen.“25 Überwiegend wurde dieses Wissen in einem theologischen Rahmen verarbeitet. Die christliche Ausrichtung des Wigalois spiegelt sich kontinuierlich im Text wieder. Friedrich bemerkt ebenfalls, dass die „poetische Funktion weitgehend vom theologischen Diskurs absorbiert“26 wird. „Aufgrund dieser Beobachtung kann vermutet werden, dass, wenn der Verfasser des Wig[alois] ein orientbezogenes Szenario als Schauplatz für einen großen Teil seines Romans wählte […], Teile der Monstertradition aufgenommen wurden.“27

Die Verwendung von Monstern, die entweder menschliche oder tierisch-menschliche Merkmale vorweisen, erhält damit eine zugeschnittene Funktion: „Das Monströse [dient] als Definition des Anderen, des Fremden.“28 Marriens monströses Aussehen macht es unmöglich, es als ein bestimmtes Wesen zu identifizieren, besonders wegen der Vermischung von Merkmalen mehrerer sehr unterschiedlicher Monster. Außerdem benutzt Marrien magische Utensilien wie das Zauberfeuer, und schließt sich durch die Verbindung zu Roazʻ Teufelsreich selbst aus dem Christenreich aus.

Doch die theologische Perspektive auf Monster wie Marrien ist auch zweckmäßig: Das (je nach Funktion) interpretierte Wissen um ihre Existenz, der Kampf mit ihnen und ihre Überwindung, stellen Hindernisse dar, die der Romanheld auf seiner heiligen  Mission  überwinden muss. Und  nicht  zuletzt dadurch  erweisen  sich  diese Hindernisse als eine Belehrung.29 Diese Belehrung ist auf dem Bewährungsweg des christlichen Helden überaus wichtig, denn „die Beseitigung der Teufelsherrschaft heidnischen Unglaubens ist ständig von der Möglichkeit eines Scheiterns begleitet […].“30 Es ist allein der unerschütterliche Glaube an Gott, der Wigalois auf seinem scheinbar aussichtlosen Weg bekräftigt. Und dieser Weg wird bewacht von dem absonderlichen Monster Marrien, das durch seine dämonische Codierung als „Repräsentan[t] des Teufels“31 fungiert.