Monströse Genealogie in der Melusine bei Thüring von Ringoltingen

Die Erzählung über die Schlangenfrau Melusine wurde aus einer französischen Vorlage adaptiert. Die bekannteste deutsche Fassung stammt von Thüring von Ringoltingen.1 Sie berichtet sowohl von Melusines Kindern, als auch von ihren Eltern. Dieser Blogbeitrag untersucht alle drei Generationen auf die Vererbung von Monstrosität hin. Zur Handschrift und Geschichte, der Figur der Melusine und zu weiteren grundlegenden Informationen s. den Blogartikel „Das christliche Monster: Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller.

Melusines Herkunft

Melusine ist ein Halbwesen aus Mensch und Wasserschlange. Diese Verfassung hat sie ihrer Mutter zu verdanken. In einer Höhle in einem Berg steht das Grabmal ihrer Eltern neben einer beschrifteten Steintafel.

Es war auch auff dem erhabenen koͤstbarlichen und schoͤnen Grab gehawen […] ein Koͤnig gewapnet und gekroͤnet also ligende und war darbey zu desselbigen Koͤniges Fuͤssen ein gehauwen Frauwenbild das hatte ein Taͤfelin in den Haͤnden darinnen stund geschrieben. Dieses ist der Durchleuchtig und großmaͤchtige Koͤnig Helmas mein allerliebster Gemahel der allhie begraben ligt.2

Melusines Eltern sind eine sogenannte Mahrtenehe3 eingegangen. Die Verbindung einer übernatürlichen Mahrte (mhd. mâra, vgl. engl. „nightmare“) mit einem Menschen steht meist unter einem Versprechen (z.B. ein Sichtverbot), an das der Mensch sich halten muss. Melusines Vater Helmas versprach Melusines Mutter Persine aus Awelon, sie nicht direkt nach der Geburt ihres Kindes aufzusuchen:

[Er] hatte mir geschworn […] das er sein lebtag die zeit und weil so ich in dem Kindtbett lege mich nimmer besuchen besehen […] in der zeit kein wissen haben noch durch niemandt anders erfahren wolte.4

Der Grund für die eheliche Verbindung mit einem Menschen ist meist der Wunsch nach einer eigenen Seele, die Mahrten von Natur aus nicht haben.5 Die Hoffnung auf die Seele liegt ganz beim menschlichen Gefährten. Durch einen Bruch des gegebenen Versprechens verdammt der Mensch seine Mahrte dazu, auf ewig unbeseelt zu bleiben. Der Bruch des Tabus ist auch ein bekannter Aspekt der Mahrtenehen.6 König Helmas hält sein Versprechen nicht. Es kommt zum Tabubruch, und Persine muss mit ihren drei Töchtern fliehen. 15 Jahre später rächen sich die Töchter, indem sie ihren Vater in den Berg einschließen. Dies wiederum rächt Persine durch die Auferlegung dreier Tabus. So wird das Tabu von einer zur anderen Generation weitergegeben.

Ich gabe ihn diese Gab darumb daß sie sich an ihrem Vatter von seiner Thorheit wegen die er dazumal an mir begienge so schwerlich recheten unnd ihn beschlossen in einen Berg unnd biß an sein end darinnen gefangen hielten denn wiewol er sich an mir ubergriffen hett dennoch war ich im von Hertzen sehr guͤnstig daß ich die Rach die mein Toͤchter vorgenennet von meinetwegen an ihm begiengen nit wolt noch mochte ungerochen lassen.7

Die älteste Tochter Meliora ist fortan dazu verurteilt, über ein Schloss zu wachen, und nur, wer ihren Sperber drei Tage und Nächte lang ununterbrochen im Auge behält, erobert die Jungfrau. Die zweite Schwester Palentina hütet den Familienschatz, bis einer sie aus dem Berg befreit und damit nicht weniger als „das gelobte Land“ und Jerusalem gewinnt. Die jüngste Tochter Melusine muss einen Mann finden, der sie an keinem Samstag aufsucht.

Doch so, wie Helmas das Tabu von Persine bricht, bricht Reymund später Melusines. Die Männer versagen, und die Frauen werden nicht erlöst. Susanne Knaeble führt das auf eine männliche „Unfähigkeit zum Kontrollverlust“ zurück.8 Die Männer der Familie halten die rationale Ungewissheit, derer es bedarf, um den Bitten der Frauen um Freiheit nachzukommen, nicht aus. Während der Phase im Kindbett bei Persine und während des Samstages bei Melusine9 müssen die Männer der Familie alleine zurechtkommen und dürfen vor allem ihre Frauen und deren Freiheit nicht infrage stellen. Dies bedeutet den Kontrollverlust, den die Männer in Mahrtenehen, die an eine Bedingung geknüpft sind, in den meisten Fällen nicht bewältigen können. So wie sich die monströse Genealogie in den Frauen weitervererbt, scheint sich in den Männern die Schwäche des Kontrollverlustes weiterzuvererben. Tatsächlich ist die Genealogie auf Persines Tafel festgehalten:

[…] Ich ließ im dieses Grab also machen und darauff seine gestallt hauwen darum das die so diese Tafel ansehen oder lesen sein eyngedenck werden denn dereyn da hat kein Mensch moͤgen kommen es were denn auch desselbigen geschlechts von mir oder von meinen Toͤchtern herkommen.10

Die Auflösung des Tabus kann somit nur aus der eigenen Familie kommen, doch diese versagt stets aufs Neue. Knaeble sieht in dem „wiederholte[n] Scheitern der männlichen Protagonisten und [der] Erlösungsbedürftigkeit der weiblichen Nachfolger der Linie11 eine „Art magischen Wiederholungszwang.“12

Dadurch, dass die Erlösung an das eigene Geschlecht gebunden ist, dieses jedoch zur selben Zeit sowohl die Aufgabe als auch das Scheitern an dieser weitervererbt, ist ein Durchbrechen des familiären Zyklus beinahe unmöglich.13 Auch Beate Kellner stellt in ihren Studien zum genealogischen Wissen zur Melusine fest:

„Schuld und Gewalt prägen die Familiengeschichte […] über Generationen hinweg. Gewalt wird mit Gewalt beantwortet […], der Schuldzusammenhang vererbt sich gewissermaßen in die nächste Generation.“14

Melusines Kinder

Melusine und Reymund haben zehn Söhne, die zunächst sehr anständig leben und „ihr Glück wie Märchenfiguren“15 machen. Sie alle entwickeln sich gut. Nur in ihrem Aussehen weichen sie von der Norm ab.

Da gebar sie einen Sohn den nennet sie Uriens der darnach zu großen Ehren kam […] Doch was sein Angesicht nicht schoͤn sondern einer seltzamen form unnd gestalt denn er war gar kurtz und breyt und flach unter den Augen und was im das ein Aug roth und das ander gruͤn. Er hett auch einen grossen weyten Mund und lang hangend Ohren. Aber von Leib und Beinen von Arm und Fuͤssen und aller Geschoͤpff was er gar gerad unnd wolgeschickt und Adelich gestalt.16

In dieser Verbindung von „nicht schön“ und doch „von adeliger Gestalt“ findet sich Melusines Wesen wieder, das sich auch zwischen Monstrosität und Religiosität bewegt. Alle Söhne weisen Abnormitäten auf. Gedes hat ein unheimlich-leuchtendes Gesicht, Gyot grotesk schiefe Augen, Anthoni wurde mit einem Muttermahl in Form einer Löwenpranke geboren und hat dazu Krallen und ein raues Fell, Reinhart trägt nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn, Goffroy hat einen Eberzahn, Freymund eine haarige Nase und Horibel drei böse Augen.17 Die beiden jüngsten Söhne Dieterich und Reymund liegen noch in der Wiege und werden nicht spezifischer beschrieben. Da die Kinder jedoch zu guten Menschen heranwachsen, scheint sich das Monströse in ihnen lediglich im Äußeren vererbt zu haben. Jedoch nur, solange der Vater sein Versprechen hält.

Mit dem Tabubruch, den Reymund an Melusine begeht, in dem er ihr doch an einem Samstag nachstellt und schließlich ihre Schlangengestalt im Bad erblickt, verliert Melusine ihre weibliche Gestalt und alle Hoffnung auf Erlösung aus ihrer Schlangenform. Der Tabubruch wirkt sich auch auf die Söhne aus, denn sie schlagen auf einmal in die Monstrosität um und begehen große Sünden. Als Vorahnung der monströsen Eigenschaften, die die Söhne geerbt haben, diente ihr merkwürdiges Aussehen, in dem sich die monströse Genealogie schon widerspiegelte. Bis zum Tabubruch ihres Vaters war die Prädestination unterdrückt gewesen, mit dem Tabubruch bricht jedoch auch die Monstrosität aus und die Kinder begehen Schandtaten, obwohl sie zuvor gut waren.

Die guten Taten

Zu Beginn sind Melusines und Reymunds Söhne auf dem besten Weg, ehrbare Ritter zu werden. Der älteste Sohn Uriens will ausfahren, um „hohe Ehre mit Kriegen18 zu erlangen. Das gefällt den Eltern sehr. Der Sohn Gyot hat dasselbe Ziel und hilft dabei, eine von heidnischen Feinden umlagerte Stadt zu befreien. Das Unternehmen gelingt und Uriens wird König von Cypern, Gyot König von Armenien. Beide heiraten standesgemäß und das ungewöhnliche Aussehen wird in der Fremde sogar bewundert. Sie bringen viel Ehre für die Familie ein.

Da ward Uriens von dem Cyprischen Volk gar sehr angesehen von der frembde wegen seines Angesichts […]19

Ein Sohn nach dem anderen macht sein Glück, und die Brüder verteilen sich äußerst erfolgreich nach Britannien, Luxemburg, dem Elsaß und in den heimischen Gefilden. Einer der Brüder, Freymund, hat keinen größeren Wunsch, als den, einem Kloster beizutreten und Mönch zu sein. Auch das wird nach einer kleinen Eingewöhnungsphase des Vaters (der die Ritterschaft vorgezogen hätte) in der streng gläubigen, christlichen Familie gerne gesehen.

Die bösen Taten

Reymund lädt mit seinem Tabubruch viel Schuld auf sich. Er bricht das Gelübde, das er seiner Frau geschworen hat, und verdammt Melusine dazu, für immer ein Schlangenwesen zu bleiben. Er hat ihr damit die Möglichkeit genommen, der Monstrosität zu entgehen. Das wirkt sich auch auf die nächste Generation aus. Goffroys „frembder wunderbarlicher unnd wilder Sinn“ ließ ihn den Kampf gegen den Riesen gewinnen:

Goffroy […] war auß dermassen ein starcker Mann unnd wolmuͤgendt seines Leibs unnd frembder wunderbarlicher unnd wilder Sinn hette er viel unnd noch viel mehr denn keiner seiner Bruͤder hette gehabt […]20

Doch nach dem Tabubruch schlägt dieser Charakterzug in die Todsünde Zorn (ira)21 um und treibt ihn dazu, das Kloster, in dem sein Bruder Freymund Mönch geworden ist, samt Bruder und 100 anderen Mönchen bis auf die Grundmauern niederzubrennen:

Goffroy was voll grimmiges Zorns unnd halff gegen ihn kein redt noch gut […] Also verdarbe sein leiblicher Bruder mit den andern Muͤnchen von Feuwers noth […]22

Der Brudermord geht auf die Bibel mit Kain und Abel zurück. Seine Ausübung ist eine große christliche Sünde. Des Weiteren rächt Goffroy den Verrat seines Vaters an seinem Onkel, ohne dessen Zweifel Reymund seiner Frau wahrscheinlich nie nachgestellt hätte (erst durch den brüderlichen Vorwurf der buͤberey sah Reymund sich dazu veranlasst, Melusine zu kontrollieren).23 In diesen Morden Goffroys spiegelt sich der Vatermord beider Eltern wider. Melusine schließt ihren Vater als Rache in den Berg ein, und Reymund ersticht seinen Ziehvater unbeabsichtigt bei der Jagd.24 Kellner stellt fest: „Im Ablauf der Generationen droht sich […] der Konnex von Schuld und Gewalt zu potenzieren.“25 Die Söhne wiederholen die Schuldtaten der Eltern in noch größerem Umfang.

So muss ein weiterer Sohn, Horibel, wegen drohenden Unheils sogar getötet werden. Melusine selbst sagt seinen Mitmenschen eine sonst grauenvolle Zukunft voraus.

Die Herren unnd die Diener alle […] wolten fuͤrkommen das groß ubel so von Horibel ihrem Sohn aufferstehen solte unnd sie namen den Knaben […] unnd erstickten ihn in eim Keller zu todt.26

Der von Melusine im Falle eines Tabubruchs prophezeite Untergang des Geschlechts hat begonnen. Selbst die tiefe religiöse Verbundenheit, für die Melusine so umsichtig gesorgt hat, kann die genealogische Prädestination der Familie nicht mehr aufhalten.27

Conclusio

Die detaillierte genealogische Thematik der Melusinenerzählung zeigt die Wichtigkeit von Herkunft und Stand im Mittelalter. Melusines Familiengeschichte ist durchzogen von Gewalt, Schuld und Schandtaten. Dennoch wird sie als kein herkömmliches, gemeines Monster dargestellt, sondern weist viele christliche Tugenden und einen tief religiösen Glauben auf, zu dem sie sich trotz ihrer Herkunft bewusst entschieden hat (es kann eine gewisse Wertung des Stoffes angenommen werden, denn die Figur diente einem Adelsgeschlecht als Ahnherrin). Ihre Söhne treffen jedoch eigene Entscheidungen. Die Vererbung von den Großeltern über die Eltern zu den Kindern der Familie beinhaltet Schuld, Abhängigkeit und Schwäche. Durch diese verheerende Mischung wird die Thematik permanent wiederholt. Die Monstrosität ist fest mit der Familie verwoben und hat sich dadurch ihr Bestehen gesichert. Die Kinder erben die familiäre Schwäche, jedoch gleichzeitig auch die Stärke, die es ihnen erlaubt, wichtige Positionen erfolgreich zu bestreiten. Allerdings gelingt es keinem Familienmitglied, sich gänzlich aus den vererbten Strukturen zu befreien. Eine Loslösung von der Monstrosität findet nicht statt.


1 Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe [1587]. Stuttgart: Reclam-Verlag 2014.

2 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 105.

3 Röhrig, Lutz: Mahrtenehe. In: Enzyklopädie des Märchens, Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin: de Gruyter 1977–2015, Sp. 44–53.

4 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 105.

5 Röhrig, Lutz: Mahrtenehe, Sp. 45 und 51.

6 Ebd.

Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 107.

8 Knaeble, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“ in der Melusine des Thüring von Ringoltingen. In: Aventiure und Eskapade. Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne, hg. Von Jutta Eming und Ralf Schlechtweg-Jahn. Göttingen: V&R unipress Verlag 2017, S. 63–82, hier S. 67.

9 Reymund verspricht seiner Frau Melusine, sie an keinem Samstag anzuschauen, bricht sein Versprechen jedoch. Mehr dazu im Blogartikel „Das christliche Monster. Die Figur der Melusine zwischen Religiosität und Monstrosität bei Thüring von Ringoltingen“ von N. Müller.

10 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 106.

11 Knaeble, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“, S. 67.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 72.

14 Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München: Wilhelm Fink Verlag 2004, hier S. 451.

15 Ruh, Kurt: Die „Melusine“ des Thüring von Ringoltinen. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1985 (Heft 5), hier S. 7.

16 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 31.

17 Ebd., S. 31–32.

18 Ebd., S. 33.

19S. ebd., S. 37.

20 Ebd., S. 32–33.

21 Auch zu den Todsünden gibt es einen Abschnitt im bereits benannten Blogartikel.

22 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 82.

23 Ebd., S. 70.

24 „Die Verbrechen am Ursprung […] sind die schrecklichsten Gewalttaten, die sich in einer Gesellschaft denken lassen“, aus Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität, S. 451.

25 Ebd, S. 452.

26 Thüring von Ringoltingen: Melusine, S. 94.

27 Knable, Susanne: Erzählen von den „Abenteuern des Geschlechts“, S. 68.