Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs?

„Monster. Substantiv, Neutrum – furchterregendes, hässliches Fabelwesen, Ungeheuer von fantastischer, meist riesenhafter Gestalt.“[1] Das ist laut dem Duden Online-Wörterbuch im 21. Jahrhundert ein Monster: furchterregend, hässlich, riesenhaft – ein Ungeheuer. PONS fügt noch ein weiteres entscheidendes Merkmal hinzu: Bei einem Monster handelt es sich um „ein Fantasiewesen in der Gestalt eines schrecklichen Ungeheuers“[2]. Der Begriff des Monsters referiert in der modernen Gesellschaft also auf ein Wesen, das mit einem Menschen wenig gemein hat. Ein Monster ist riesenhaft, furchterregend, schrecklich und vor allem eines: ein Fantasiewesen. Monster existieren in der Welt der Filme und Bücher, in der Fantasie, aber nicht im realen Leben. Und Monster sind nicht menschlich. Oder womöglich doch? Es existiert aber auch noch eine andere Bedeutungsebene des Begriffs ‚Monster‘: eine metaphorische. Und in dieser Hinsicht können sehr wohl auch Menschen Monster sein. Googelt man die Begriffe ‚Monster‘ und ‚Mensch‘ gemeinsam, stößt man unter anderem auf eine Videoreihe der Fernsehproduktionsfirma Spiegel-TV mit dem Titel „Monster oder Mensch“[3]. Thematisiert werden z.B. der Frauenmörder Frank Gustl, der Entführer und Vergewaltiger von Natascha Kampusch und das „Inzestmonster“[4] Joseph Fritzl.

Dieser Blog beschäftigt sich mit Monstern in der mittelhochdeutschen Literatur. Doch galten im Mittelalter dieselben Vorstellungen davon, was unter einem Monster zu verstehen ist, wie im Jahr 2018? Um die Hürde der Alterität bei der Lektüre, Analyse und Interpretation überwinden zu können, ist zunächst wichtig, welche Vorstellungen des Monströsen den mittelalterlichen Autoren vor Augen standen bzw. vor Augen stehen konnten. Dieser Beitrag beschäftigt sich daher einleitend mit der Frage, was im Mittelalter als Monster oder als monströs galt. Genauer lässt sich fragen: Wann galt ein Mensch im Mittelalter als monströs? Fabelwesen und tierische Ungeheuer werden hier ausgeklammert und in einem anderen Beitrag thematisiert.

Zum Begriff des ‚Monsters‘: Etymologie und terminologische Vielfalt in der mittelhochdeutschen Literatur

Zunächst einmal stellt sich die Frage, was der Terminus ‚Monster‘ überhaupt bedeutet, woher der Begriff etymologisch betrachtet kommt und wie bzw. ob er im Mittelalter verwendet wurde. Die letzte Frage lässt sich schnell und einfach beantworten: ‚Monster‘ ist die in das Neuhochdeutsche eingebürgerte und angepasste Form des lateinischen ‚monstrum‘ und wurde in dieser Form erst im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache eingeführt.[5] Im Mittelalter wurde also entweder der lateinische Terminus Monstrum verwendet oder gänzlich andere Termini zur Beschreibung des Monströsen. Doch zunächst zurück zum lateinischen monstrum. Es verweist auf die antike Verbindung des Monstrositätskonzeptes mit der Bedeutung von Zeichen, Mahnzeichen und Wundern. Monstrum leitet sich von dem Verb monere (= mahnen, warnen, erinnern) ab und macht deutlich, dass Monstra in der Antike nicht bloß als zufällige Laune der Natur wahrgenommen wurden, sondern als Warnungen: als Zeichen im negativen Sinn.[6] In mittelhochdeutschen Texten wurden viele verschiedene Begriffe verwendet, um monströse Menschen zu bezeichnen: am häufigsten wunder oder das davon abgeleitete Adjektiv wunderlich, welches sowohl den Sinn vom lateinischen mirabilia als auch von miraculum übernimmt und Einzigartigkeit ausdrückt.[7] Zudem wurden die Termini ungehiure und ungehiurlich verwendet, um Monstrosität von Wesen zu beschreiben; beide Ausdrücke beziehen sich auf den Terminus ‚geheuer‘, dessen Bedeutung ‚vertraut‘, ‚heimlich‘ ist[8]. Die Verneinung dieses Wortstammes weist also auf etwas Unvertrautes, Fremdes hin und ist ein Hinweis darauf, dass Ungeheuerlichkeit und Fremdes gedanklich verknüpft waren.[9] Die Termini creatiure (= Kreatur, Geschöpf) und kunder (= lebendes Wesen, Tier, Geschöpf) fanden an Stellen Verwendung, an denen der menschliche Status des Geschöpfes zweifelhaft oder sogar ausgeschlossen ist, bleiben dabei aber wertungstechnisch weitestgehend neutral. Anders gestaltet sich dies bei unkunder (= Ungetüm, Monstrum), welches eine starke Negativität impliziert.[10] Es gibt laut Antunes im Mittelhochdeutschen „trotz Terminuspluralität tatsächlich kein Wort […], das dem Sinngehalt des lateinischen monstrum mit ungefährer Genauigkeit entspricht.“[11] Die vielen dafür eingesetzten Bezeichnungen geben den damit bezeichneten Wesen unterschiedliche Wertstellungen.

Monstrosität als Äußerlichkeit: Schönheit und Hässlichkeit im Mittelalter

Monstrosität war im Mittealter eine primär äußere Erscheinung: Ein (menschliches) Monster konnte sich nicht verstecken: Es war entstellt, sichtbar fremd und anders. Das heißt aber nicht, dass das Innere der Monstren in der Regel als schön und edel angenommen wurde. Vielmehr galten im Mittelalter ganz bestimmte Vorstellungen von Schönheit, Hässlichkeit und ihrem Verhältnis zum inneren Wesen einer Person, die im Folgenden kurz expliziert werden sollen. Nach Hans Robert Jauss verbinden sich in der mittelalterlichen Ästhetik die antike und die christliche Auffassung von Schönheit und Hässlichkeit.[12] Für die antike Auffassung war das Ideal der Kalokagathia maßgebend: Nach diesem gehen Inneres und Äußeres aller Erscheinungen ineinander auf. Das Hässliche wird mit dem Niedrigen gleichgesetzt und das Schöne automatisch mit dem Guten. Das hässliche oder entstellte Äußere eines Menschen verwies also auf seinen verdorbenen Charakter, während die wahre Schönheit in der Antike mit der Schönheit von Geist und Seele einherging.[13] Diese „Deckungsgleichheit von Scheinen und Sein“ hatte auch noch im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur Geltung.[14] Dem gegenüber stand die theologische Auffassung des Mittelalters: Eine Dichotomie von Hülle und Kern muss demnach für alle Erscheinungen der sichtbaren Welt angenommen werden und alles auf seinen verborgenen geistigen Inhalt hin untersucht werden. Hässliches wie Schönes können nach dieser Vorstellung gleichermaßen Akzidenzien des Guten sein[15]. Es gab sogar einen Streit, worin das Wirken Gottes stärker zum Ausdruck komme: in der irdischen Schönheit als Abbild der Schönheit Gottes oder im Hässlichen, das deutlich mache, dass alles Irdische, Sichtbare nur Zeichen auf ein Höheres sei.[16]

Mittelalterliche Konzepte des monströsen Menschen

Vor allem aus dem antiken Verständnis des Verhältnisses von äußerer, körperlicher Hülle und dem Inneren, der Persönlichkeit, ergibt sich, wodurch menschliche Monstrosität im Mittelalter im Wesentlichen konstituiert wurde: ein entstelltes Äußeres. Der monströse Mensch war also oft ein Körperbehinderter, eine sog. Missgeburt.[17] Der Status von Missgeburten war auch noch im Mittelalter wesentlich von antiken Vorstellungen geprägt. Im antiken Weltbild galten missgebildete Nachkommen, wie sich in der Bezeichnung niederschlägt, als Mahnung und Warnzeichen. Sie wiesen auf einen Bruch der kosmischen Ordnung hin und galten als Bedrohung für die Beständigkeit von Staat und Gesellschaft.[18] Obwohl im Mittelalter sowohl für exotische Menschenvölker als auch für Missgeburten die lateinischen Termini ‚monstrum‘ und ‚mirabilia‘ gebraucht wurden, wurde zwischen beiden Formen des monströsen Menschen durchaus eine Unterscheidung gemacht. Während man erstere als Zeichen dessen betrachtete, was alles möglich ist, wurden letztere in den Texten von Chronisten häufig erwähnt und meist gemäß der antiken Vorstellung als Mahnzeichen bevorstehenden Unglücks oder als göttliche Strafe interpretiert.[19] Dies lässt sich auch in der Literatur wiederfinden. Im ‚Alexanderroman‘ deutet die Geburt eines missgestalteten Wesens den bevorstehenden Untergang sowohl des Helden als auch seiner Herrschaft voraus.[20] Ein weiteres Monsterkonzept, das die Schwelle des Menschlichen oftmals schon weit überschreitet, ist der Tiermensch: ein Mischwesen aus Mensch und Tier. Foucault definiert das Monster vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein konzeptuell als Mischwesen der Bereiche des Menschlichen und des Animalischen. In seinem ontologischen Status verweist der Tiermensch dabei auf einen widerrechtlichen und widernatürlichen Zeugungsakt zwischen einem Tier und einer Menschenfrau.[21] Das Konzept des Tiermenschen existierte im Mittelalter aber nicht nur auf der Ebene des körperlich Hybriden, sondern war auch bei der kulturellen und gesellschaftlichen Grenzziehung relevant. Jenseits dieser Grenzen befanden sich der Wilde Mann und die Wilde Frau, die als Asoziale in der Wildnis lebten und auf gesellschaftliche und höfische Regeln verzichteten. Sie werden herkömmlicherweise durch Merkmale wie starke Körperbehaarung, Nacktheit, prekäre Lebensbedingungen und Entfernung von der Zivilisation charakterisiert.[22] Auch Wundervölker sollen bei mittelalterlichen Konzepten des monströsen Menschen nicht unerwähnt bleiben. Als Beispiel kann hier das Volk der hundsköpfigen Menschen genannt werden, die Kynocephalen, bei denen sich zwei Konzepte überlappen:  jenes des exotischen Menschenvolkes, das vor allem durch seine Fremdheit monströs erscheint,[23] und das Konzept des Monsters als Mischwesen von Mensch und Tier. Wundervölker waren den abermals von der Antike geprägten mittelalterlichen Vorstellungen gemäß an den Rändern der Welt angesiedelt wie auch mittelalterliche Weltkarten verdeutlichen.[24]

Fazit: Vergleich zu modernem Menschenmonster

Wann also galt ein Mensch im Mittelalter als monströs? Ein Mensch wurde durch seine äußere Gestalt zum Monstrum. Entweder war diese missgebildet oder derart fremd und andersartig, dass sie als monströs wahrgenommen wurde. Die Reaktionen auf die Erscheinung solcher missgestalteten Menschen, z.B. die Geburt eines körperbehinderten Babys, waren überwiegend negativ, da dies als Warnung und Mahnzeichen Gottes gedeutet wurde. Auf der anderen Seite jedoch gab es vor allem von Seiten der Kirche die Aufforderung sich gegenüber Missgestalteten karitativ zu verhalten[25] und menschliche Monster wurden als Zeichen der Schöpfungsmöglichkeiten Gottes gesehen. Interessant erscheint nun abschließend ein kurzer Vergleich zu den eingangs erwähnten modernen Populärkonzepten von menschlichen Monstern, die in das Konzept von Foucaults Sittenmonster passen.[26] Die Diskrepanz zwischen mittelalterlichen und modernen Vorstellungen des monströsen Menschen erscheint immens. Heutzutage werden große gesellschaftliche Bemühungen angestrengt, geistig und körperlich behinderte Menschen in die Gesellschaft einzugliedern, eine Bezeichnung derselben als monströs erschiene skandalös und menschenverachtend. Die Menschenmonster der Moderne sind vielmehr unsichtbar: Ihre Monstrosität liegt im Verborgenen und zeigt sich erst durch ihre monströsen Gräueltaten, die mitunter nie ans Licht kommen.

 


[1]Monster. In: DUDEN Online-Wörterbuch, unter: https://www.duden.de/suchen/dudenonline/monster[gesehen: 06.07.2018, 11:34].

[2]Monster. In: PONS Online-Wörterbuch, unter: https://de.pons.com/übersetzung?q=Monster&l=dede&in=&lf= [gesehen: 06.07.2018. 11:48].

[3]Vgl. SPIEGEL.TV: Monster oder Mensch 1, unter: https://www.spiegel.tv/videos/128004-monster-oder-mensch-1[gesehen: 06.07.2018, 12:08].

[4]Vgl. Parr, Rolf: Monstrosität, „das große Modell aller kleinen Abweichungen“. In: ApuZ 52 (2013). S. 7-10 (hier: S. 9).

[5]Vgl. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in der mittelhochdeutschen Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2013, S. 36.

[6]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 34f.

[7]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 36f.

[8]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 37.

[9]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 37f.

[10]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 38.

[11]Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 38.

[12]Vgl. Jauss, Hans Robert: Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur. In: Ders. Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-76. München: Wilhelm Fink Verlag, S. 385-411.

[13]Vgl. Pappas, Katherine: Die hässliche Grasbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer Schurken Magier. St. Gallen 2001. S. 157-172 (hier: S. 159).

[14]Pappas: Die hässliche Gralsbotin Cundry, S. 159.

[15]Vgl. Pappas: Die hässliche Gralsbotin Cundry, S. 160.

[16]Vgl. Pappas: Die hässliche Gralsbotin Cundry, S. 160.

[17]Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Monster: Eine Einführung. In: ApuZ 52 (2013). S. 11-17 (hier: S. 14f.).

[18]Vgl. Friedmann, John Block: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought [1981]. Syracuse 2000, S. 179.

[19]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 43f.

[20]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 43f.

[21]Vgl. Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-75). Textauszüge. In: ApuZ 52 (2013). S. 3-7 (hier: S. 4f.).

[22]Vgl. Antunes: An der Schwelle des Menschlichen, S. 49f.

[23]Vgl. Pochat, Götz: Das Fremde im Mittealter. Darstellung in Kunst und Literatur. Würzburg: Echter 1997.

[24]Vgl. Schmitz-Emans: Monster, S. 13.

[25]Vgl. Schmitz-Emans: Monster, S. 15.

[26]Vgl. Foucault: Die Anormalen, S. 5-7.