Unschuldig schuldig oder warum ist Cundrîe so hässlich?

Die Gralsbotin Cundrîe spielt eine entscheidende Rolle im Parzival Wolframs von Eschenbach: Aufgrund seiner Verfehlungen verflucht sie Parzival zunächst[1] und beruft ihn nach seiner Wandlung zum Gralskönig.[2] Cundrîe besticht durch ihre unbedingte triuwe gegenüber der Gralsgesellschaft,[3] für die sie Parzival und den anderen Mitgliedern der Tafelrunde sehr couragiert gegenübertritt und auf deren Fehlverhalten aufmerksam macht.[4] Cundrîe ist zudem äußert gebildet und weise.[5] Ihr Gewand ist kostbar und symbolträchtig.[6] Ihre Integrität und Kleidung kontrastieren stark mit ihrer körperlichen Hässlichkeit. Doch die Gralsbotin ist mehr als hässlich, sie ist monströs verunstaltet. Cundrîes Haare gleichen den Rückenborsten einer Sau, ihr Mund einer Hundeschnauze, ihre Zähne Eberzähnen, ihre Ohren Bärenohren, ihre Hände Affenhänden und ihre Fingernägel Löwenkrallen. Ihre Augenbrauen sind übermäßig lang und geflochten, ihr Gesicht stark behaart.[7] Durch das prinzipiell menschliche Aussehen, das mit tierischen Attributen gepaart ist, ist Cundrîe nach mittelalterlichem Weltbild in die Kategorie der Monster einzuordnen.[8] Zu den Elementen des Monströsen im äußeren Erscheinungsbild siehe den Artikel „Die Figur der Cundrîe zwischen Monster und Verführerin“ von J. Kühn.

Bemerkenswert ist, dass sich Cundrîe ihrer Monstrosität bewusst ist:
„ich dunke iuch ungehiure, und bin gehiurer doch dann ir.“[9]

Mit dieser Aussage betont sie ihr Selbstbewusstsein und ihren Mut trotz Hässlichkeit. Die höfische Gesellschaft im Mittelalter ging davon aus, dass ein äußerlich hässlicher Mensch auch innerlich hässlich ist, also über einen schlechten Charakter verfügt und vice versa. Durch diese Widersprüchlichkeit bei Cundrîe wird diese Kongruenz von äußerer und innerer Schönheit bzw. Hässlichkeit hinterfragt.[10] Zur Schönheit und Hässlichkeit im Mittelalter siehe den Artikel „Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch als monströs?“ von N. Dobers.

Doch warum ist Cundrîe so hässlich? Dieser Beitrag möchte die Frage untersuchen, warum die Gralsbotin in Bezug auf ihr Äußeres so monströs dargestellt wird und auf welchen Quellen die Begründung für ihre Verunstaltung beruht. Wolfram von Eschenbach legt die Antwort Cundrîes Bruder Malcrêatiure, der ebenso monströs wie seine Schwester aussieht, in den Mund:

Unser vater Adâm,
die kunst er von gote nam,
er gap allen dingen namn,
beidiu wilden unde zamn:
er rekant ouch ieslîches art,
dar zuo der sterne umbevart,
der siben plânêten,
waz die krefte hêten:
er rekant ouch aller würze maht,
und waz ieslîcher was geslaht.
dô sîniu kint der jâre kraft
gewunnen, daz si berhaft
wurden menneschlîcher fruht,
er widerriet in ungenuht.
swâ sîner tohter keiniu truoc,
vil dicke er des gein in gewuoc,
den rât er selten gein in liez,
vil würze er se mîden hiez
die menschen fruht verkêrten
unt sîn geslähte unêrten,
‘anders denne got uns maz,
dô er ze werke übr mich gesaz,‘
sprach er. ‘mîniu lieben kint,
nu sît an sælekeit niht blint.‘
diu wîp tâten et als wîp:
etslîcher riet ir brœder lîp
daz si diu werc volbrâhte,
des ir herzen gir gedâhte.
sus wart verkêrt diu mennischeit:
daz was iedoch Adâme leit,
doch engezwîvelt nie sîn wille.“[11]

Cundrîe und Malcrêatiure sind demzufolge Nachfahren Adams und Evas. Ihre Mutter war eine jener ungehorsamen Töchter, die sich nicht an die Mahnung ihres Vaters Adam hielten und während der Schwangerschaft Kräuter aßen, die zu monströsen Verunstaltungen bei den Kindern führten. Sie waren gierig und begingen wie Eva eine Sünde, weil sie ihre Gier nicht im Griff hatten. Es handelt sich um eine Art „zweiten Sündenfall.“[12] Um nachvollziehen zu können, warum Cundrîes Makel auf eine Sünde im biblischen Sinne zurückzuführen ist, wird im Folgenden das Menschenbild im Mittelalter angerissen.

Der Mensch des Mittelalters war über die Maßen fromm. Das Christentum erlebte in dieser Zeit einen epochalen Aufstieg.[13] Die Religion durchdrang durch alle Stände hinweg sämtliche Lebensbereiche. Der Mensch definierte sich quasi ausschließlich durch seine Religiosität und orientierte sich an den Aussagen und Schriften der Theologie, allen voran der Bibel.[14] Die Bibel galt als höchste Autorität auf intellektueller und geistiger Ebene; treuer Gehorsam war Gesetz.[15]

Die Besessenheit vom Gedanken an die Sünde war charakteristisch für den mittelalterlichen Menschen. Ziel des Menschen war es, keine Sünde zu begehen, d. h. sich nicht dem Teufel hinzugeben, indem man Lastern unterliegt. Diese Laster konkretisierten sich in Form der sieben Todsünden Hochmut, Habsucht, Gier, Wollust, Wut, Neid und Faulheit.[16]

Lucidarius und Wiener Genesis als Quellen Wolframs

Ausgangspunkt für die theologischen, literarischen und künstlerischen Bearbeitungen des Themas Sündenfall waren biblische Berichte über die Erschaffung und den Sündenfall der ersten Menschen, die ca. im Jahr 950 v. Chr. verfasst wurden. Hierauf aufbauend entstanden im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Genesis-Berichte.[17]

Der deutsche Lucidarius ist eine im 12. Jahrhundert entstandene mittelhochdeutsche Enzyklopädie anonymen Autors, die das damalige theologische und naturwissenschaftliche Wissen zusammenfasste.[18] Im Lucidarius ist wie im Parzival Wolframs explizit von Adams Töchtern die Rede:

Adam waʒ der wiʃeʃte man, der ie geborn wart. Do er uʒ dem paradiʃo cam, do ercander die wurʒen alle, die der nature warunt, ʃwel wib die eʒe, daʒ die geburt dauon verwandelt wurde. Do warnete er ʃine dothere, daʒ ʃi der wurʒe nith eʒen. Do gewunnen die wip fúrwiʒ, wie eʒ umbe die wurʒe ʃtuͤnde, vnde aʒent alle die wurʒen, die in ir uatir hete verboten. Die kint, die do uon den wiben wurden geborn, die uerwandeltin ʃich nach den wurʒen vnde miʃʃerietent alʃe ich vor geʃeit han.[19]

Die Enzyklopädie beantwortet somit die Frage nach dem Warum der Hässlichkeit mit der Abstammung von den Töchtern Adams, die durch den Verzehr der Kräuter Sünderinnen wurden und missgebildete Kinder gebaren.[20]

Eine weitere Quelle Wolframs ist die aus dem 11. Jahrhundert stammende Wiener Genesis, deren Autor ebenfalls unbekannt ist.[21] Die Wiener Genesis ist eine von drei Handschriften, die die so genannte Frühmittelhochdeutsche Genesis überliefert. Diese beruht auf der biblischen Genesis und hat die Erschaffung der Welt, den Sündenfall, die Geschichte von Kain und Abel, Abraham, Isaak und dessen Söhne bis zum ägyptischen Joseph zum Inhalt. Teilweise folgt die Erzählung der Wiener Genesis der Bibel, teilweise tauchen paraphrasierende Übersetzungen, gekürzte und ausführliche Beschreibungen und allegorische Deutungen auf.[22]

So handelt es sich bei den Sünderinnen in der Wiener Genesis nicht um die Töchter Adams, sondern um die Töchter Kains, des ersten Mörders in der Menschheitsgeschichte. Die sündhaften Töchter ignorieren die Warnungen ihres Großvaters Adam:

er [Kain] lerte siniu chint die zŏber die hiute sint. dů wurten die scuzlinge glich deme stamme: ubel wůcher si paren, dem tiuele uageten. Adam hiez si miden wurze, daz si inen newurren an ir geburte. sîn gebot si uerchurn, ir geburt si flurn.[23]

Trotz der thematischen Übereinstimmung zwischen Wiener Genesis und Parzival mit Blick auf den verbotenen Verzehr der Kräuter bevorzugt Nellmann den Lucidarius als Quelle Wolframs, weil der Text in der Wiener Genesis Cundrîe zum Nachkommen des ersten Mörders auf der Erde überhaupt und Brudermörders macht, was inakzeptabel wäre.[24] Denn die Verwandtschaft mit einem Menschen, der moralisch gesehen derart verwerflich handelt, würde einen Schatten auf Cundrîes Integrität werfen und sie als Mitglied der Gralsgesellschaft womöglich unglaubwürdig machen.

Schlussbetrachtung

Der Mensch des Mittelalters war in höchstem Maße religiös und lebte nach der Bibel bzw. nach ihren Versionen und Auslegungen. Irritierende Phänomene wie körperliche Verunstaltungen bei Menschen wurden nicht nach naturwissenschaftlichen, sondern nach biblischen Maßstäben erklärt. Demzufolge wird das hässlich-monströse Äußere der Gralsbotin Cundrîe mit dem Sündenfall der Nachkommen Adams und Evas erklärt. Cundrîes und Malcrêatiures Hässlichkeit ist eine Sichtbarmachung der Ursünde. Sie haben keine Sünde begangen, haben lediglich die Sünde ihrer Vorfahren geerbt und sich dadurch schuldig gemacht. In gewisser Weise sind sie unschuldig schuldig.[25]

Diese Art der Erklärung bei Wolfram von Eschenbach ist kein Einzelfall in der Literatur des Mittelalters. In der altenglischen Dichtung Beowulf, dem ältesten vollständig erhaltenen germanischen Heldenepos,[26] wird das Monster Grendel in das Geschlecht Kains eingereiht. Durch den Mord an seinem Bruder Abel verbannte Gott Kain aus dem Menschengeschlecht. Grendel ist ein Monster, weil er von Kain abstammt.

Biblische Berichte wurden im Mittelalter als Erklärung für unverständliche, von der Norm abweichende Erscheinungen herangezogen. Aufgrund der strengen Gläubigkeit der Menschen und der Anerkennung der Bibel als höchste theologische Instanz waren diese Erklärungen für den Menschen des Mittelalters plausibel und unantastbar.[27]


[1] Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2003: 316.

[2] Vgl. PZ: 781.

[3] Vgl. ebd.: 318, 5-12.

[4] Vgl. ebd.: 314, 29-30; 315, 7-9.

[5] Vgl. ebd.: 312, 19-27; 322, 13-30.

[6] Vgl. ebd.: 313, 1-13; 782, 14-30.

[7] Vgl. ebd.: 313, 17-30; 314: 1-10.

[8] Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 17-18.

[9] PZ: 315, 24-25.

[10] Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler 2004, S. 76f.

[11] PZ: 518, 1-30; 519, 1.

[12] Vgl. Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 166.

[13] Vgl. Le Goff, Jacques (Hg.): Der Mensch des Mittelalters. Frankfurt/Main: Magnus 2004, S. 8.

[14] Vgl. Le Goff, S. 10.

[15] Vgl. ebd., S. 44.

[16] Vgl. ebd., S. 36.

[17] Vgl. Hubrath, Margarete: Eva. Der Sündenfall und seine Folgen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 243.

[18] Vgl. Gottschall, Dagmar / Steer, Georg (Hg.): Der deutsche ‚Lucidarius‘. Band 1. Kritischer Text nach den Handschriften. Tübingen: Max Niemeyer 1994, S 25.

[19] Gottschall / Steer (Hg.), S. 25, 4-11.

[20] Vgl. Nellmann, Eberhard: Der ‚Lucidarius‘ als Quelle Wolframs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 122. Band (2003), S. 54-55.

[21] Vgl. Hamano, Akihiro: Die frühmittelhochdeutsche Genesis. Synoptische Ausgabe nach der Wiener, Millstätter und Vorauer Handschrift. Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. XIX.

[22] Vgl. ebd., S. XI-XII.

[23] Ebd., S. 120, 1282-1291.

[24] Vgl. Nellmann, S. 55.

[25] Vgl. Pappas, S. 166.

[26] Vgl. Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Stuttgart: Reclam 2004,  S. 3.

[27] Vgl. Le Goff (Hg.), S 44.

Die thematische Opposition im Beowulf – Ein Blick auf die Grendel-Figur und ihre Opposition zum Guten

Die thematische Opposition Grendels – Die methodische Vorgehensweise

Dieser Artikel widmet sich der thematischen Opposition der Grendel-Figur.[1] Die Untersuchungsgegenstände dieses Artikels sind Robert Zemeckis 2007 erschienener Film Die Legende von Beowulf und der altenglische Primärtext Beowulf. Untersucht werden beide Gegenstände unter folgender Frage: Inwiefern unterscheidet sich die thematische Opposition der Grendel-Figur im altenglischen Beowulf vom im Jahr 2007 erschienenen Film Die Legende von Beowulf? Es wird postuliert, dass Grendel ein thematisches Gegenstück im Film sowie im Primärtext darstellt. Diese Antibeziehung unterscheidet sich jedoch stark im Film und Buch. Im Primärtext stellt Grendel das Gegenstück zur christlichen Ordnung der Dänen dar und ist somit die Verkörperung der metaphysischen Abwesenheit des Guten.[2] Dieses metaphysisch-theologische Konzept der Grendel-Figur wird im Film in eine postmoderne Interpretation übertragen. Grendel stellt somit im Film die Schattenseite der menschlichen Seele, genauer der Seele Hrothgars, dar. Um dieses Postulat zu untersuchen muss zuerst die Abstammungsgeschichte der Grendel-Figur in beiden Werken genauer dargelegt werden. Der Fokus der Untersuchung im Primärtext liegt dabei auf der Dichotomie der Dänen und ihren Werten, wohingegen in der Analyse des Films der Fokus auf die Dichotomie zwischen Hrothgar und Grendel gerichtet wird.

Grendel und Kain – Grendel als Verkörperung der Abwesenheit des Guten im Beowulf

Die Einführung der Grendel-Figur bringt bereits viele Hinweise auf die dämonische Natur Grendels. Grendel sei „ein Feind aus der Hölle“[3], ein „grimmer Geist“[4] und ein „gräßlicher Markgänger“ [5] . Die Abstammungslinie der Grendel-Figur geht im Primärtext direkt auf Kain zurück, jedoch nicht auf die vorsintflutlichen Giganten.[6] Orchard weist in seinen Studien des Manuskriptes darauf hin, dass der Verfasser des Werkes diese Unterscheidung bewusst gewählt hat. Jesaja 26,14 gigantes non resurgent (The Giants shall not rise again) ist dabei die Bezugsstelle des Verfassers, die das Weiterexistieren vorsintflutlicher Giganten verneint und die vom Verfasser des Textes übernommen wurde.[7] Tatsächlich handelt es sich bei Grendel vielmehr um einen antitypischen Abkömmling Kains, da Grendel ebenso wie Kain, ein Mal trägt:

In Beowulf we are told that Cain went ‚guilty‘ or ‘marked’ (fag) into the wastes […] Grendel too, of course, is fag and is explicitly described as the ‘enemy of mankind’ (feond mancynnes; mancynnes feond), shortly after each of the passages on Cain (lines 164 and 1276), so underlining the parallel still further.[8]

Die Abstammung von Kain erklärt jedoch nicht, warum Monster wie Grendel weiterhin die Erde heimsuchen und wie genau die Abstammung Grendels nach der Flut gesichert ist. Ein Hinweis findet sich in der Abstammung des Schwertes, welches Beowulf in der Unterwasserhöhle Grendels und seiner Mutter findet und mit dessen Hilfe er die beiden erschlagen kann. „Ein scharfes altes Schwert von Riesenhand“ [9] deutet auf die Geschichte Hams hin, einem der biblischen Söhne Noahs. Ham wird laut Orchard immer wieder in verschiedenen altenglischen Texten und theologischen Auseinandersetzungen als „zweiter Kain“ und als Grund für das Weiterexistieren des Bösen in der Welt gesehen.[10] Durch ihn überlebten die verdorbenen Künste der Giganten und so wurde auch er von Gott verflucht. Es gibt jedoch noch deutlich mehr Abstammungsgeschichten, auf die sich der Verfasser des Beowulf bezieht, auf die hier nicht weiter eingegangen werden.

Grendel stammt also vermutlich von Kain bzw. Ham ab. Diese Genealogie Grendels, die der Verfasser des Textes direkt mit der Einführung der Figur vollbringt, stellen diesen in ein oppositionelles Verhältnis mit den Dänen und Gauten, Nachkommen Japhets. Der Verfasser hört jedoch hier nicht auf und führt dieses Verhältnis im Verlauf des Werkes weiter aus, um zu unterstreichen, dass Grendel mehr als nur ein Antityp ist, denn Grendel ist die dichotomische Gegenposition zum Guten schlechthin und seine Opposition zu den Dänen ist eine Weiterführung des Kampfes Kains gegen Gott.[11]  Die erste Erwähnung Grendels bringt diesen in die thematische Opposition zum „hellen Gesang des Skops“,[12] einem Gesang über die Erschaffung der Welt, der Menschen und eine Lobpreisung Gottes. „Grollend erduldete“ [13] Grendel, „der in der Finsternis hauste“[14], dieses Lied, was ihn in Opposition zum „lauten Jubel“[15] und dem „fröhlichen Treiben“[16] der Dänen setzt. Seine Aversion der Sonne gegenüber wird hier auch erklärt, da diese als Siegeszeichen Gottes gesetzt wurde.[17] Das darauffolgende kannibalistische Massaker Grendels wird von Anderson als Weiterführung dieser thematischen Opposition gesehen. Denn nachdem die Dänen ihr eigenes Festmahl bei Anbruch der Nacht beendeten, fing Grendel seines an.[18] Das Massaker sowie die nächtliche Besetzung der Halle durch Grendel sieht Anderson als Grendels thematische Opposition zum dänischen Hof: „light versus darkness, joy versus misery, music versus noise, companionship versus slaughter, sleep versus night-stalking, feasting versus cannibalism, community versus solipsism.”[19] Ein weiteres Beispiel für die thematische Opposition findet sich in Beowulfs Kampf mit Grendel. Der Kampf mit Beowulf zeigt seine thematische Opposition zum nordischen Ideal des ehrenhaften Kampfs und der Tapferkeit. Grendels Immunität Waffen gegenüber ist magischer Natur; er verzauberte sich selber mit einem Schutzzauber. Dies ist außerdem ein Hinweis auf die verbotenen Künste der Giganten.[20]  Dieser Mangel an Ritterlichkeit bringt ihm nur Spott von Seiten Beowulfs ein.[21]  Doch sobald der Zweikampf zwischen ihm und Beowulf ausbricht und Grendel feststellen muss, dass Beowulf ihm gleichauf ist, verfällt dieser in Panik und flieht, nicht interessiert und zu feige für einen Kampf auf Augenhöhe.[22]

Grendel und Hrothgar – Grendel als Verkörperung des Bösen im Menschen

Robert Zemeckis Film präsentiert eine andere, postmoderne Interpretation der Grendel-Figur. Die männliche Abstammungslinie Grendels geht in Zemeckis Film nicht auf Kain, sondern auf Hrothgar, den dänischen König, zurück:

Wealthow: […] Grendel. Our curse. He is my husband’s shame.
Beowulf: Not a shame, but a curse.
Wealthow: Shame. Hrothgar has no…other sons…
And he will have no more, for all his talk. [23]

Dieser Unterschied hat auf die thematische Opposition Grendels einen starken Einfluss. Anders als im Primärtext ist Grendels thematische Opposition nun nicht der externe Kampf zwischen Gutem und Bösem. Es ist nun vielmehr ein interner Kampf. Aus diesem Grund soll sich in diesem Abschnitt der Fokus auf die thematische Opposition und Überspitzung der schlechten Eigenschaften Hrothgars in der Grendel-Figur richten. Die erste Konfrontation zwischen Grendel und Hrothgar findet ebenso wie im Primärtext aufgrund der Geräusche aus der Festhalle Heorot statt. Anders als im Primärtext jedoch ist es nicht der „Gesang des Skops“ dessen Inhalt Grendel aus seiner Höhle lockt, sondern der Lärm eines ausschweifenden Festes.[24] Hrothgar wird hierbei als nackter, maßloser Saufbold dargestellt, dessen Überspitzung im darauffolgenden kannibalischen Festmahl des ebenfalls nacktem Grendels seine Spiegelung findet.[25] Das Motiv des kannibalischen, nächtlichen Festmahls wurde aus dem Primärtext übernommen und transponiert. Die charakterlichen Oppositionen hören dort jedoch nicht auf. Die Lärmempfindlichkeit Grendels und die Lautstärke Hrothgars stellen eine weitere Opposition dar: er wird direkt mit seiner lauten Stimme vorgestellt: „The King is happy, shouting loudly enough to be heard by the furthest dog” [26] und “ Hrothgar is laughing loudly at some dirty joke.”[27] Besonders der letzte Abschnitt deutet bereits auf die nächste Opposition hin; das Kleinkindlich-Unschuldige Grendels versus das Alte-Verruchte Hrothgars:

While Grendel is not human, if he were human, he would be retarded, perhaps brain-damaged. He is honestly a sweet and gentle person, except in the matter of eating people, and then only when driven mad with noise.
Grendel begins to play with the spear (and the head on it) as if it were a puppet. [28]

Dieses Kindlich-Unschuldige Grendels bringt eine dichotomische Spannung zwischen seiner Asexualität, er wird ohne Geschlechtsteile dargestellt, und der Hypersexualität der Mutter Grendels samt Verführung Hrothgars. An verschiedenen Punkten im Film wird gezeigt, dass in der Beziehung zwischen Hrothgar und Wealthow kein sexueller Verkehr stattfindet. Der Grund hierfür scheint der Betrug an seiner Frau mit Grendels Mutter zu sein. Eine Deutung in diesem Sinne, könnte die asexuelle Natur Grendels mit der Beziehung Hrothgar-Wealthow in Verbindung bringen.[29]

Monster und der kulturelle Perspektivenwechsel auf diese

Die zeitgenössische Aufarbeitung mittelalterlicher Texte und derer Monster muss zwangsweise eine neue Sichtweise mit sich bringen. In diesem Artikel wurde versucht dies an der Grendel-Figur im Beowulf zu untersuchen. In beiden Versionen der Sage, stellt Grendel eine Hürde und eine thematische Opposition dar, jedoch ist diese Hürde in beiden Werken anders verortet. Der Primärtext des Beowulfs scheint das Monströse als thematische Opposition zum Guten zu sehen. Die Identität Grendels als Troll ist dabei nebensächlich.[30] Er wird nicht durch das charakterisiert, was er ist, sondern durch seine Opposition zum Guten. Diese Darstellung des Bösen in personifizierter Form bildet im Primärtext ein Hindernis, das überkommen werden muss in der Aufgabe Beowulfs, einem Streben nach Ruhm und dem Heroischen. Risden beschreibt diese Suche nach Ruhm als externes Suchen nach Sinn, Anerkennung etc.[31] Das Monster ist so eine Repräsentation der Hürden, die der Mensch auf der Suche nach Sinn und nach einer Möglichkeit, etwas zu erschaffen, das größer als er selbst ist und seinen eigenen Tod überdauern kann, überwinden muss.[32] Dieser externe Fokus der Monster weicht der Freud’schen Revolution. Indem das christliche Motiv im Film aus dem Fokus genommen wird, erscheint die Opposition individuell.  Der Fokus der Monster rückt intern; epische Schlachtfelder weichen dem inneren Kampf der Psyche. Das Monster als Hürde bleibt bestehen. Die Untersuchung des Films Zemeckis scheint auf diesen Wechsel hinzuweisen. Nicht mehr nur als die Verkörperung des Bösen, das überwunden werden muss, wird die Grendel-Figur zur Charakterisierung der Schwächen Hrothgars und des Menschen verwendet. Seine Schwäche im Angesicht der verführerischen Mutter Grendels zeigt einen Kampf mit sich selbst und den Konsequenzen seines Handelns.


[1]     Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Lehnert, Martin (Hg.); Stutt-gart: Reclam 2004.

Sekundärliteratur

Anderson, Earl R.: Understanding Beowulf as an Indo-European epic: a study in comparative my-thology. Lewiston [u.a.]: Edwin Mellen 2010.

Becker, Ernest: The Denial of Death. New York: Simon & Schuster 1973

Gaiman, Neil & Avary, Roger: Beowulf. The Script Book. With in-sights form the authers, their early concept art, and the first and last drafts of the script for the film. New York: HarperCollins 2007.

Haydock, Nickolas; Risden, E.L.: Beowulf on Film. Adaptations and Variations. London: McFarland 2013

Orchard, Andy: Pride and Prodigies. Studies in the Monsters of the Be-owulf-Manuscript. Cambridge: Brewer 1995.

[2]     Diese Formulierung für das Wort „böse“ wird bewusst gewählt, da Böses im theologisch-mittelalterlichen Sinne nicht existiert, da man so unterstellen würde Gott könnte Böses erschaffen.

[3]     Siehe Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Lehnert, Martin (Hg.); Stuttgart: Reclam 2004, S.33. V. 101.

[4]     Beowulf V. 102.

[5]     Beowulf V. 103.

[6]     Vgl. Beowulf V. 103-108.

[7]     Orchard, Andy: Pride and Prodigies. Studies in the Monsters of the Beowulf-Manuscript. Cambridge: Brewer 1995, S.58.

[8]     Orchard 1995, S. 61.

[9]     Beowulf S.101 V. 1556.

[10]   Orchard 1995, S.70.

[11]   Anderson, Earl R.: Understanding Beowulf as an Indo-European epic: a study in comparative mythology. Lewiston [u.a.]: Edwin Mellen 2010, S.95.

[12]   Beowulf S.32 V. 90.

[13]   Beowulf S.32 V. 86.

[14]   Beowulf S.32 V. 87.

[15]   Beowulf S.32 V. 88.

[16]   Beowulf S.33 V. 99.

[17]   Vgl. Beowulf S.33 V. 94.

[18]   Vgl. Anderson, Earl R.: Understanding Beowulf as an Indo-European epic: a study in comparative mythology. Lewiston [u.a.]: Edwin Mellen 2010, S.93.

[19]   Anderson S. 93.

[20]   Vgl. Beowulf S.62f V. 798-804.

[21]   Vgl. Beowulf S.57f V. 681-685.

[22]   Vgl. Beowulf S.63 V. 813-821.

[23]   Gaiman, Neil / Avary, Roger: Beowulf. The Script Book. With insights form the authers, their early concept art, and the first and last drafts of the script for the film. New York: HarperCollins 2007, S.35 Szene 54.

[24]   Vgl. Beowulf Script: S.5 Szene 15.

[25]   Vgl. Beowulf Script: S.7 Szene 20.

[26]   Beowulf Script: S.1 Szene 1.

[27]   Beowulf Script: S.2 Szene 4.

[28]   Beowulf Script: S.25 Szene 41.

[29]   Beowulf Script: S.11 Szene 24, S.35 Szene 54, S.2 Szene 4.

[30]   Anderson S.94.

[31]   Haydock, Nickolas; Risden, E.L.: Beowulf on Film. Adaptations and Variations. London: McFarland 2013, S.6.

[32]   In diesem Kontext die Untersuchung des Heroismus in Becker, Ernest: The Denial of Death. New York: Simon & Schuster 1973. Diese Art des Heroismus wird bei Becker als individueller Heroismus beschrieben, in der der Mensch versucht, durch individuelle Handlung, ein Vermächtnis zu erschaffen das diesen überdauert. Dies steht im Gegensatz zum kulturellen Heroismus, in dem versucht wird, durch soziale Rollen, das Gleiche zu schaffen. S. 7-13.