Drachen im Mittelalter und The Complete Book of Dragons von Cressida Cowell – ein Vergleich

Drachen waren im Mittelalter ebenso reale Tiere wie zum Beispiel Biber oder Löwen.[1] Sie tauchen in so genannten Bestiarien auf, mittelalterlichen Schriften, die den Anspruch haben, die Fauna ausführlich darzustellen. Doch solche Bestiarien sind längst kein Genre der Vergangenheit mehr. In der modernen Literatur greifen Autoren oft auf solche Werke zurück, um eine imaginierte Tierwelt abzubilden und für den Leser zugänglich zu machen.

The Complete Book of Dragons von Cressida Cowell ist ein solches Bestiarium der Neuzeit. Es handelt sich bei dem Buch um ein Werk in ihrer Buchreihe „How to Train Your Dragon“, die sich um den Wikinger „Hicks“ dreht. Dieser freundet sich den Traditionen seines Stammes zum Trotz mit den Drachen an und beginnt damit, Nachforschungen über die Lebewesen anzustellen. The Complete Book of Dragons ist ein Nachschlagewerk, welches Hicks verfasst, um seine Drachenforschungen und Erkenntnisse festzuhalten. Das Buch ist als Zusatzwerk zu How to Train Your Dragon, einer Kinderbuchreihe aus der mittlerweile ein erfolgreiches Franchise von Dreamworks entstanden ist, erschienen. Für diesen Artikel soll das Interesse auf die Bücher, oder spezifischer auf das Bestiarium, fokussiert werden.

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob oder inwiefern sich mittelalterliche Drachendarstellungen in dem modernen The Complete Book of Dragons wiederfinden lassen. Diese gründet sich in der Tatsache, dass sich die Wikingerzeit in dem grob als „Mittelalter“ definierten Zeitraum vom sechsten bis zum fünfzehnten Jahrhundert befindet. How to Train Your Dragon und damit auch das The Complete Book of Dragons lassen sich also vom Handlungszeitraum her in das Mittelalter einordnen. Fraglich ist, inwieweit die Darstellungen von Drachen ebenfalls mittelalterliche Bezüge aufweisen.

Hierzu soll zunächst die These aufgestellt werden, dass in The Complete Book of Dragons für die Drachen ähnliche äußerliche Attribute finden lassen, wie in mittelalterlichen Bestiarien. Durch religiöse Einflüsse ist aber der Umgang mit den Reptilien im Mittelalter ein anderer. In vielen mittelalterlichen Geschichten sind die Drachen die Antagonisten. Ein ähnliches Bild kann also in Bestiarien erwartet werden. Das ist in dem The Complete Book of Dragons anders. Es reiht sich in das How to Train Your Dragon Franchise ein, in dem Drachen sich eher wie Haustiere verhalten. Aus diesem Grund wird hier eine positive Einstellung zu Drachen erwartet.

The Complete Book of Dragons

In diesem Bestiarium sind ausschließlich Drachen vermerkt. Insgesamt werden über 80 verschiedene Drachenarten aufgezählt. Im Vorwort liefert der fiktive Autor Hicks verschiedene Gründe für das Verfassen des Buches. Es geht ihm zum Beispiel darum, zu erklären wie man Drachen findet und wie man sich um ihre Eier und die Drachenjungen kümmert.[2] Außerdem möchte er Ratschläge geben „on how to ride and train them, or deal with them if they attack.“[3] Er bezeichnet Drachen als wundervolle Kreaturen, die aber trotzdem sehr angsteinflößend sein können. Dabei ordnet Hicks diese in Kategorien wie Mountain Dragons[4] oder Cave Dragons[5] ein. Jedem Drachen werden Punkte auf fünf verschiedenen Skalen zugeteilt: Angstfaktor, Angriff, Schnelligkeit, Größe und Ungehorsam[6]. Aufgrund der bloßen Anzahl der Drachen sind Aspekte wie das Aussehen in eigenen Kapiteln zusammengefasst, zu jedem einzelnen Drachen gibt es Zeichnungen in ihrem jeweiligen Eintrag. Im allgemeinen Teil findet man jeweils eine Doppelseite zu Drachenaugen, Drachenzungen und der Anatomie von Drachen. Drachen besitzen in der Welt des The Complete Book of Dragons meist sowohl einen Röntgenblick als auch die Fähigkeit Wärmesignaturen wahrzunehmen. Eine spezielle Drachenart sei sogar in der Lage, in die Zukunft zu blicken und telepathisch zu kommunizieren. Die Anzahl der Augen, die sie haben, variiert, aber jede Art hat genau drei paar Augenlider. Auch die Menge an Zungen, die Drachen haben ist spezifiziert. Der „Woden’s Nightmare“ hat bis zu dreißig Zungen, die alle in der Lage sind, verschiedene Geschmäcke wahrzunehmen. Hicks erklärt zudem, dass einige Töne in „Dragonese,“[7] also der Sprache, die die Drachen sprechen, nur mit einer Drachenzunge geformt werden können. Außerdem existiert beispielsweise eine Drachenart namens „Breathquencher“, die nicht über Füße verfügt und ihre Opfer erwürgt.[8] Alle Drachen haben im Rachen kleine Löcher, durch die sie Feuer oder giftiges Gas ausatmen können. Es gibt Drachen, die Winterschlaf halten, und so genannte Evergreens[9] die dies nicht tun. Während ihrer Hibernation, also einem Schlafzustand, seien die Geschöpfe am leichtesten einzufangen. Auch die Gefahren, die von den Drachen ausgehen, sind zahlreich: „They are, for example, poisonous, shoot flames, rocks, spears, lightning, laser beams or electric bolts.“[10] Neben den Beschreibungen der einzelnen Drachenspezies gibt es auch Kapitel, die erklären, wie man Drachen trainiert, oder wie man auf ihnen fliegt.

Mittelalterliche Quellen

Eines der wohl bekanntesten naturwissenschaftlichen Werke der Mediävistik ist Etymologiae Isidors von Sevilla. Der elfte Band dieser Schrift trägt den Namen Vom Menschen und von Monstern. Das dritte Kapitel heißt Von den Missgeburten (Potenta) und befasst sich mit jenen Wesen, die nach der Meinung Isidors von Sevilla entgegen der bekannten Natur existieren. Er berichtet in diesem Teil des Buches von Wesen wie Giganten und Sirenen, nicht aber von Drachen. Diese finden erst im zwölften Buch Von den Tieren Erwähnung. Das vierte Kapitel handelt Von den Schlangen (Serpentes) in deren Gattung Isidor auch die Drachen einordnet.[11] Schlangen, zu deren Spezies der Drache hier gehört, würden von Heiden für Schutzgottheiten gehalten werden. In diesem Sinne kommt ihnen eine doppelte Bedeutung zu: einerseits die der Schutzgottheit, einem positiv konnotierten Begriff, andererseits werden sie ausschließlich von Heiden für solche gehalten. Diese Erwähnung weist die Auffassung der Schlange als Schutzgottheit im christlich orientierten Mittelalter als Irrglaube zurück.[12] Schlangen sind nach Isidor von Sevilla Lebewesen, die keine Beine haben, sondern sich durch Kriechbewegungen mit Hilfe ihrer Schuppen fortbewegen.[13] Weiterhin habe der Drache einen „Kamm auf dem Kopf, ein kleines Gesicht und dünne Röhren, durch welche er den Atem einzieht und die Zunge bewegt.“[14] Schlangen verfügen über nur eine Zunge, die sie aber außergewöhnlich schnell bewegen können. Gefährlich sei vor allem der Schwanz, nicht aber die Zähne. Wie eine Würgeschlange umschlinge er seine Opfer, darunter auch Elefanten. Giftig ist er nicht, oder zumindest sind seine Gifte nicht gefährlich. Der Drache sei in Indien oder Äthiopien „im Feuer ewiger Hitze“[15] geboren. Er hält sich oft in Höhlen auf, von denen aus er sich in die Luft stößt und diese „erregt.“[16] Alle Schlangen, so auch der Drache, hätten keine besonders guten Augen Gemessen an der Tatsache, dass der Drache in dem Buch Von den Tieren und nicht in dem vorigen Vom Menschen und von Monstern genannt wird, kann man davon ausgehen, dass Isidor von Sevilla ihn nicht als Monster, sondern als normales Tier gesehen hat. Tatsächlich verfügt der Drache in den Etymologiae über keine besonderen Fähigkeiten. Im Gegensatz zu dem der Schlangen ist sein Gift wirkungslos.[17] Ob er fliegen kann, wird aus dem kurzen Abschnitt ebenfalls nicht klar, Isidor erwähnt nicht, ob der Drache über Flügel verfügt. Zumindest aber kann er sich „in die Luft verziehen,“ [18] was zumindest eine Art von elementarer Verbundenheit impliziert.

Auch Konrad von Megenberg hat ein naturwissenschaftliches Werk, Das Buch der Natur, geschrieben, welches sich im dritten Kapitel mit den Tieren befasst. Er hält sich maßgeblich an andere Schriften, weswegen bei ihm viele Übereinstimmungen mit solchen zu finden sind.[19] Auch er behandelt den Drachen in dem Abschnitt, der sich mit den Schlangen beschäftigt, nennt den Drachen eines der größten Tiere der Welt und merkt an, dass er nicht giftig ist, es sei denn, er hat vorher etwas giftiges gefressen. Auch das Aussehen des Drachen, das  Konrad von Megenberg beschreibt ähnelt den Ausführungen von Isidor von Sevilla: Der Drache hat eine Krone, ähnlich einem Kamm, auf dem Kopf. Die meisten Drachen haben keine Füße und ihre Schwänze sind tödlicher als ihre Bisse, die hingegen kaum schädlich sind. Das Buch der Natur bezieht sich auf Aristoteles, wenn es erklärt, dass Drachen lange Zeit nichts zu sich nehmen, aber dann umso hungriger sind, oder auf Augustinus, wenn er auf den Wohnraum der Drachen in tiefen Abgründen eingeht. Die Drachen, über die Konrad von Megenberg schreibt, verfügen über Flügel, die denen von Fledermäusen ähneln. Sein Atem ist tödlich. Aus seinem Gehirn kann man, wenn der Drache während des Prozesses der Entnahme noch am Leben ist, einen Stein schneiden, der außergewöhnliche Fähigkeiten hat. Dieser Prozess kann am einfachsten erfolgen, wenn der Drache sich sonnt. Seine Galle und Zunge werden als Medizin verwendet und das Drachenfleisch wirkt kühlend. Mit einer Größe von zwanzig Ellen werden Drachen „so groß, dass er einen Menschen, der auf ihm sitzt, weit wegtragen kann.“[20]

In der Edition des Physiologus hat der Drache keinen eigenen Eintrag. Er wird ausschließlich in Bezug auf andere Tiere genannt. Der Physiologus beschreibt weder Aussehen, noch Wohnort oder andere Eigenschaften des Drachen, sondern ausschließlich sein Gefahrenpotenzial gegenüber anderen Tieren. Die Drachendarstellungen des Physiologus gründen, wie auch viele andere Schriften des Mittelalters, auf einer „heilsallegorisch ausgelegte Tierwelt.“[21] Die Erkenntnisse, die jene Werke vermitteln sollten, basierten zwar auf naturwissenschaftlichen Beobachtungen, wurden aber verfälscht, so dass sie sich in das religiöse Weltbild einfügen oder diesem zumindest nicht widersprechen.[22] Im neuen Testament wird der Drache in der Offenbarung des Johannes mit dem Teufel gleichgesetzt: „

And the great dragon was thrown down, that ancient serpent, who is called the devil and Satan, the deceiver of the whole world he was thrown down to the earth […].“[23]

Dies geschieht an keiner anderen Stelle der Bibel in diesem Ausmaß, dennoch ist das Bild des Drachen ein durchweg negatives.

Ergebnisse

Es lassen sich schnell mehrere Unterschiede in den Drachendarstellungen finden. Zunächst fällt auf, dass die mittelalterlichen Bestiarien stets über eine einzige Gattung von Drachen berichten. Konrad von Megenberg bricht damit, wenn er schreibt, dass Drachen selten Füße haben.[24] Er impliziert, dass es zumindest zwei verschiedene Arten von Drachen geben muss – eine mit und eine ohne Füße –auch wenn er nicht explizit von mehreren Drachenarten spricht. Cressida Cowell erwähnt in ihrem Buch weit mehr als nur eine Drachenspezies. Ein weiterer Unterschied liegt in den Gefahren, die von dem Geschöpf ausgehen. Die mittelalterlichen Bestiarien sind sich einig, dass Drachen nicht giftig sind, und die Hauptgefahr vom Schwanz ausgeht. In The Complete Book of Dragons gibt es beispielsweise den giftigen „Venomous Vorpents,“[25] und es gibt Drachen, die über keinerlei Gifte verfügen. Autoren im Mittelalter beschreiben Drachen oft als Geschöpfe ohne Beine. Das The Complete Book of Dragons greift eine so große Varietät an Drachen auf, dass es hier Exemplare mit vier Beinen, acht Beinen, komplett ohne Beine, oder weitere Versionen gibt. Zudem existiert eine Drachenart, die ähnlich der Drachen im Mittelalter nicht über Füße verfügt und ihre Opfer erwürgt,[26] der Großteil aller Drachen im The Complete Book of Dragons hat allerdings Füße und Flügel. Im Mittelalter wurde der „Drache in der Naturkunde fast ausschließlich […] als Tier wahrgenommen […].“[27], schreibt Timo Rebschloe. Der Drache kommt bei Isidor von Sevilla nicht in dem Kapitel über Monster, sondern in dem über Tiere vor und auch Konrad von Megenberg behandelt Drachen in dem Kapitel Von den Thieren im Allgemeinen. Hicks bezeichnet die Drachen in seinem Buch jedoch als „creatures,“[28] nicht als „animals“. Seine Einstellung zu den Reptilien ist dennoch eine positive. Er räumt ein, dass Drachen gefährliche, furchterregende Geschöpfe sind, beharrt aber trotzdem auf seiner Faszination ihnen gegenüber. Außerdem gibt er Hinweise darauf, wie man mit angreifenden Drachen umgehen sollte, erwähnt aber nichts, was mit der Tötung des Reptils endet. Stattdessen zielt er auf ein friedliches Zusammenleben ab. In mittelalterlichen Bestiarien ist dies ähnlich. Weder Isidor von Sevilla noch Konrad von Megenberg sprechen die Tötung eines Drachens aufgrund seines Gefahrenpotentials an. Megenberg beschreibt aber, dass einige Innereien der Geschöpfe als Nahrung oder Medizin zu verwenden sind. Der Stein, der aus dem Gehirn eines lebendigen Drachen geschnitten werden muss, bringt aber die Tötung desselben mit sich. Megenberg erwähnt, dass man einen, sich sonnenden Drachen, erschlagen, und den Stein entnehmen solle, so lange das Tier noch lebt. Im Physiologus werden keine direkten Hinweise auf die Hinrichtung geliefert. Das Gefahrpotential, beziehungsweise die Antagonistenfunktion wird dennoch deutlich gemacht, da der Drache ausschließlich als Gegner in den Artikeln anderer Tiere Erwähnung findet. Die Einstellung den Drachen gegenüber ist in mittelalterlichen Bestiarien eine andere, als im The Complete Book of Dragons. Zwar stellen zumindest Isidor von Sevilla und Konrad von Megenberg den Drachen nicht als Feind dar, gehen aber auch nicht den Schritt wie Hicks, sie als faszinierend zu bezeichnen und mit ihnen zusammenleben zu wollen. Die Darstellung im Physiologus ist die, eines Antagonisten. Das Buch der Natur und die Etymologiae geben keine Wertung über die Natur des Drachen hinsichtlich Gut und Böse ab. Sie schreiben lediglich, dass Drachen gefährlich sind, was Hicks bestätigt. Über die Natur des Drachen sind sich die Bestiarien, mit Ausnahme des Physiologus, nicht uneinig, aber der Ursprung der Gefahr ist abweichend.

Fazit

Auf den ersten Blick unterscheiden sich die mittelalterlichen und neuzeitlichen Drachendarstellungen im The Complete Book of Dragons in mehreren Punkten. Der größte Unterschied liegt in der Zahl der Drachenarten, durch die auch eine größere Variation im Aussehen und Verhalten zustande kommt. Es sind sich alle einig, dass Drachen – oder im Falle des The Complete Book of Dragons die meisten Drachen – Schuppen haben. Bei der Frage nach Flügeln spalten sich die Meinungen bereits im Mittelalter. Auch die Auffassung des Drachen als Antagonisten lässt sich nur im Physiologus finden. Die Anfangsthesen lassen sich teils bestätigen. So ist die Darstellung von Drachen in mittelalterlichen Bestiarien weniger negativ als vermutet. Nur im Physiologus sind Drachen als ausschließlich böse Geschöpfe genannt. Synonym hierzu ist das Drachenbild im The Complete Book of Dragons kein durchweg positives. Hicks sieht zwar in den Drachen keine Feinde, warnt aber dennoch wiederholt vor den Gefahren, die von den Wesen ausgehen und bringt immerhin auch den Angstfaktor als Kategorie an. Die äußerliche Ähnlichkeit ist aufgrund der Anzahl der Drachen im The Complete Book of Dragons vorsichtig zu bestätigen. Zwischen den über 80 Drachenarten gibt es einige, die weder über Beine, noch Füße verfügen. Ein spezifischer Drache erfüllt sogar die würgeschlangenähnlichen Eigenschaften des Drachenbildes im Mittelalter.

 

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[1] Vgl. Rebschloe, Timo: Der Drache in der mittelalterlichen Literatur Europas. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2014, S. 101.

[2] Vgl. Cowell, Cressida. The Complete Book of Dragons. New York: Little, Brown and Company 2014, S.6.

[3] Cowell, S. 6.

[4] ebd., S. 158.

[5] ebd., S. 24.

[6] Vgl. Cowell, S. 26

[7] Cowell, S. 116.

[8] Vgl. ebd, S. 57.

[9] ebd., S. 21.

[10] ebd., S. 11.

[11] Vgl. Rebschloe , S. 111.

[12] Vgl. ebd., S. 111.

[13] Vgl. Isidor von Sevilla: Etymologiae. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008, S. 463.

[14] ebd., S. 463.

[15] ebd., S. 463.

[16] ebd., S. 463.

[17] Vgl. Rebschloe, S. 111.

[18] Isidor von Sevilla, S. 463.

[19] Vgl. Rebschloe, S. 120.

[20] Konrad von Megenberg,Das Buch der Natur. Greifswald: Julius Abel 1897, S. 228.

[21] Febel, Gisela/Maag, Georg: Einleitung. In: Bestiarien im Spannungsfeld zwischen Mittelalter und Moderne. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1997, S. 7-12. S.7

[22] Vgl. ebd., S. 7

[23] Bibelwissenschaft.de. https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/english-standard-version/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/76/120007/120007/ch/159a44ebbc3177663f8c084f7dad039b/ [gesehen am 08.09.2018]

[24] Vgl. Konrad von Megenberg, S. 227.

[25] Cowell, S. 90.

[26] Vgl. ebd, S. 57.

[27] Rebschloe, S. 364.

[28] Cowell, S. 7.

Kleider machen Leute – Die Symbolik der Kleidung Cundrîes in Wolframs von Eschenbach Parzival

Die Beschreibung der Kleidung, die sogenannte Gewanddescriptio, einzelner Figuren spielt in der Literatur des Mittelalters eine zentrale Rolle. Der Parzival Wolframs von Eschenbach nimmt die Stellung eines der kompliziertesten, facettenreichsten und vielschichtigsten Werke der höfischen Klassik ein und weist komplexe und symbolträchtige Gewanddarstellungen auf.[1]

Cundrîe, die Gralsbotin und Vermittlerin zwischen der Grals- und Artuswelt, ist eine für die Handlung entscheidende Figur, da sie Parzival zunächst verflucht (bei Pappas Verfluchungsepisode genannt[2]) und ihn schließlich zum Gralskönig macht (bei Pappas Berufungsepisode genann[3]). Cundrîe ist rätselhaft, widersprüchlich und grotesk. Ihr monströs-hässlicher Körper und ihr anmaßendes und aggressives Verhalten in der Verfluchungsepisode stehen in starkem Kontrast zu ihrer Bildung und ihrer vornehmen, wertvollen Kleidung.

Da Kleidung im Mittelalter nicht nur zur Bedeckung des Körpers diente, also zum Schutz vor Witterung und unziemlichen Blicken, und nicht nur ästhetischen bzw. modischen Charakter hatte, sondern vielmehr etwas über den gesellschaftlichen Stand und die Gesinnung des Trägers aussagte, war es tabu, gegen die Kleiderordnung zu verstoßen. Das Gewand verfügte dementsprechend über eine soziale Dimension, die stärker ins Gewicht fiel als seine reine praktische Zweckmäßigkeit.[4] Wolfram gibt der Beschreibung von Cundrîes Kleidung viel Raum, was womöglich auf einen großen Symbolgehalt schließen lässt und im Folgenden näher betrachtet wird.

Cundrîes erster Auftritt – Verfluchnung

Cundrîe taucht im VI. Buch völlig überraschend mit ihrem Maultier auf, grüßt niemanden, beschimpft und verflucht Parzival und die anderen Angehörigen des Artushofes und reitet, ohne sich zu verabschieden, fort. Parzival sei aufgrund seines Verhaltens nicht würdig, Mitglied der Tafelrunde des König Artus zu sein. Doch vor ihrem Verschwinden zeigt sie ihre Traurigkeit und Verzweiflung:

„Cundrîe was selbe sorgens pfant.
al weinde si die hende want,
daz manec zaher den andern sluoc:
grȏz jâmer se ûz ir ougen truoc.
die maget lêrt ir triuwe
wol klagen ir herzen riuwe.
wider für den wirt si kêrte,
ir mær si dâ gemêrte.“[5]

Und weiter heißt es: „Cundrîe la surziere, diu unsüeze un doch diu fiere.“[6] Trotz ihres unangenehmen Verhaltens und ihrer körperlichen Hässlichkeit verfügt Cundrîe über Adel und triuwe. Triuwe ist in der Literatur des Mittelalters – insbesondere im Kontext höfischer Romane bzw. Ritterromane – der Sammelbegriff für gute Eigenschaften: Treue, Zuverlässigkeit, Liebe und Ehrgefühl.[7] Es ist nicht klar, warum Cundrîe sich anmaßt, Parzival zu verfluchen. Der Erzähler sagt nicht, dass der Gralskönig sie schickt. Sie handelt wahrscheinlich eigeninitiativ.[8] In Bezug auf ihren Körper wird sie beschrieben als Mädchen, das anders aussieht als andere schöne und feine Damen: Ihr langer Zopf ist schwarz und borstig wie die Rückenborsten einer Sau, die Augenbrauen sind zu Zöpfen geflochten und stehen ab, ihr Gesicht ist stark behaart. Cundrîes Gesicht, Zähne, Ohren, Haut und Hände ähneln denen wilder Tiere.[9] Durch ihre äußerliche Andersartigkeit bzw. ihre Mischung aus menschlichen und tierischen Attributen ist sie nach mittelalterlicher Weltanschauung den monströsen Lebewesen zuzuordnen.[10]

Cundrîe kommt als überaus gebildete Person daher. Sie spricht mehrere Sprachen und ist bewandert in Dialektik, Geometrie und Astronomie. Zudem bezeichnet Wolfram sie mehrfach als „Cundrîe la surziere“[11], was mit Zauberin übersetzt werden kann. Der Name Cundrîe bedeutet allerdings auch „Kundige“, „Wissende“ und „Künderin.“[12] Die Kleidung der Gralsbotin ist ausgesprochen edel, kostbar und bemerkenswert. Sie trägt einen blauen Umhang mit französischem Schnitt, darunter Seide und einen Pfauenhut mit Borte aus London, der mit golddurchwirkter Seide gefüttert ist:

„ein brûtlachen von Gent,
noch plâwer denne ein lâsûr,
het an geleit der freuden schûr:
daz was ein kappe wol gesniten
al nâch der Franzoyser siten:
drunde an ir lîb was pfelle guot.
von Lunders ein pfæwin huot,
gefurriert mit einem blîalt
(der huot was niwe, diu snuor niht alt),
der hieng ir an dem rücke.“[13]

Diese Art der Kleidung ist im Mittelalter Adligen vorbehalten.[14]

Cundrîes zweiter Auftritt – Berufung

In der Berufungsepisode im XV. Buch gibt sich Cundrîe versöhnlich und demütig. Sie wirft sich Parzival zu Füßen, bittet um Entschuldigung[15] und verkündet, dass er Herr des Grals werden soll.[16] Bezüglich ihres Äußeren, teilt Wolfram dem Leser mit, ist sie unverändert:

„si fuorte och noch den selben lîp,
den sô manc man unde wîp
sach zuo dem Plimziœle komm.
ir antlütze ir habt vernomn:
ir ougen stuonden dennoch sus,
gel als ein thopazîus,
ir zene lanc: ir munt gap schîn
als ein vîol weitîn.“[17]

Die Bildung Cundrîes wird in dieser Szene dadurch thematisiert, dass sie Französisch spricht[18] und ihr astronomisches Wissen durch die Erläuterung der Planeten kundtut.[19] Die Kleidung ist genauso herausragend schön wie in der Verfluchungsepisode. Ihr Umhang ist aus schwarzem Samt, „noch swerzer denn ein gênît.“[20] In den Umhang sind mit arabischem Gold viele Turteltauben eingewebt. Ihr Kopfputz ist hoch, strahlend weiß und mit Schleiern besetzt, die ihr Gesicht zunächst verhüllen.[21] Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass sich das Verhalten und das Gewand Cundrîes verändert haben, das Gewand insbesondere in Bezug auf die Farben und Bilder.

Farbsymbolik

Wie bereits einleitend erläutert, hat das Gewand in der Tradition des Mittelalters eine Signalwirkung bezüglich des Standes und der inneren Haltung des Trägers. Nach Raudszus illustriert die Gewandbeschreibung den Charakter einzelner Personen und deren epischen Stellenwert in der Handlung.[22] Ausschlaggebende Kriterien zur Beurteilung der Kleidung sind das Material, der Schnitt, die Bilder und die Farben. Cundrîe trägt bei ihrem ersten Auftritt einen blauen „brûtlachen“[23] aus Gent nach französischem Schnitt, was einem kostbaren Wollstoff aus der belgischen Stadt entspricht. Gent war im Mittelalter berühmt für seine Webereien.[24] Der französische Schnitt steht für modische Raffinesse, denn der französische Hof hatte im Mittelalter eine starke Vorbildfunktion.[25] Die Farbe Blau verkörpert in der Überlieferung des Mittelalters das Himmlische. Sie ist das Symbol für Treue, Dauer und Festigkeit und ist als Farbattribut in ikonographischen Darstellungen Maria, der Mutter Gottes, zuzuordnen.[26] Bei ihrem zweiten Auftritt trägt Cundrîe einen schwarzen Umhang. Schwarz hatte im Mittelalter eine polyvalente Symbolik. Schon Isidor von Sevilla widmete sich in seinen Etymologien dem Thema Kleidung und schreibt schwarzer Kleidung den Ausdruck von Trauer zu.[27] Ferner kann die Farbe auch für Wut, Beleidigung, Kränkung oder allgemein für problematische Umstände stehen[28] sowie für soziales und topographisches Außenseitertum.[29] Schwarz war als dunkelste aller Farben relativ aufwändig herzustellen und markiert in jedem Fall das Besondere. Die Kopfbedeckung Cundrîes ist hoch und weiß. Die Farbe Weiß steht für Keuschheit, für Offenbarung und das Zugeständnis von Liebe, die erste Zuneigung und deren Erwiderung.[30]

Bildsymbolik

Cundrîe trägt in der Verfluchungsszene einen Pfauenhut. Im Medieval Bestiary wird der Pfau folgendermaßen beschrieben:

„The hard flesh of the peacock represents the minds of teachers, who remain unaffected by the flames of lust. The fearful voice of the peacock is like the voice of the preacher who warns sinners of their end in hell. The ‘eyes’ on the peacock’s tail are to signify the ability of the teachers to foresee the danger we all face in the end. The raising of the peacock’s tail when it is praised should remind us to not let pride from praise affect us, so we do not expose our ugly vanity.”[31]

Demzufolge werden dem Pfau, neben Keuschheit, die Fähigkeit zur Warnung vor Gefahren und vor den Folgen begangener Sünden zugeschrieben.

Im Buch der Natur von Conrad von Megenberg, der ersten mittelalterlichen Enzyklopädie in deutscher Sprache, heißt es weiter, der Pfau sei von sich eingenommen. Zudem ist das Tier Sinnbild frommer Prälaten, die sich durch geistliche Würde und fromme Werke auszeichnen. Ergänzend zur Bildsymbolik wird auf die Farbsymbolik eingegangen: „Die Pfauen haben saphirblaue Brüste und Hälse, das Sinnbild festen Glaubens und der Beständigkeit, da sie eine rechte Himmelsfarbe ist.“[32]

Bei ihrem zweiten Auftritt sind Turteltauben, das Wahrzeichen des Grals, in Cundrîes prächtigen Umhang eingewebt. Die Turteltaube wird in der Enzyklopädie Isidors beschrieben als scheuer Vogel, der den Menschen aus dem Weg geht.[33] Conrad von Megenberg bezeichnet die Turteltaube als keusch und schamhaft. Sie ist treu und geduldig, rein und bieder. Durch das Blut des rechten Flügels der Turteltaube können kranke Augen geheilt werden, denn die Kranken erkennen mittels des eingeriebenen Blutes ihre Sünde und ihr unsittliches Wesen.[34]

Fazit

Die Gewänder Cundrîes verleihen ihr einen besonderen Status, da sie sich durch Auffälligkeit, Kostbarkeit und einen hohen Symbolgehalt auszeichnen. Das Blau ihres Capes und ihres Pfauenhutes ist Sinnbild ihrer absoluten Treue gegenüber der Gralsgesellschaft. Durch den Vergleich mit der Farbe Marias wird die Keuschheit und Reinheit der Gralsbotin deutlich, der trotz ihres schlechten Benehmens in der Verfluchungsepisode Jungfräulichkeit[35] und triuwe[36] zugeschrieben werden. Der Pfau steht für ein weises, vorausschauendes Wesen, was Cundrîes Vorwürfe gegenüber Parzival und der Artusgesellschaft erklärt. Der Pfauenhut hat jedoch auch eine negative Konnotation, denn der Pfau ist von sich eingenommen. Dieses Attribut spiegelt Cundrîes superbiaHochmut in der Verfluchungsepisode wider, da sie nicht auf Anweisung des Gralskönigs, sondern wie es scheint, eigenmächtig handelt.[37] Der schwarze Umhang in der Berufungsepisode steht für die Reue und die Demut Cundrîes. Nachdem sich Parzival nun grundlegend gewandelt und für die Rolle des Gralskönigs qualifiziert hat, entschuldigt sie sich für ihr schlechtes Benehmen bei ihrer ersten Begegnung, was durch die Farbsemantik verstärkt wird. Ihr weißer Kopfputz unterstreicht abermals ihre jungfräuliche Keuschheit und ihre Liebe zur Gralsgesellschaft. Das Bild der Turteltauben auf ihrem Umhang ist einerseits Ausdruck für die isolierte Stellung der Gralsgesellschaft, andererseits für die unbedingte Integrität Cundrîes. Das Blut der Turteltaube, das Kranke und Verblendete heilt, steht für die vorausschauende Kompetenz der Botin. Durch ihren Gesinnungswandel in der Berufungsepisode wird klar, das Cundrîe zwar äußerlich, d. h. körperlich, hässlich, aber innerlich schön ist. Das widerspricht der höfischen, mittelalterlichen Auffassung, dass äußere Hässlichkeit mit innerer Hässlichkeit einhergeht.[38] Die Gewänder der Gralsbotin verstärken ihr schönes Inneres. Sie symbolisieren jederzeit den hohen Stand der Cundrîe als Mitglied der Gralsgesellschaft und ihre Gesinnung als kompromisslos treue Person voller triuwe.


[1] Vgl. Raudszus, Gabriele: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. Hildesheim: Georg Olms 1985, S. 100.

[2] Vgl. Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 158.

[3] Vgl. ebd., S. 167.

[4] Vgl. Keupp, Jan: Mode im Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, S. 11.

[5] Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2003: 318, 5-12.

[6] PZ: 319, 1-2.

[7] Hennnig, Beate: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 324-325.

[8] Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler 2004, S. 76.

[9] Vgl. PZ 313, 13-30; 314, 1-10.

[10] Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 17-18.

[11] PZ: 312, 26; 319, 1, 19.

[12] Vgl. Bräuer, Rolf: Die arthurische Dämonologie. Umdeutung eines archaischen Mythos zu einem mythischen Teilsystem ritterlich-höfischer Utopie. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. Mittelaltermythen Band 2. St. Gallen: UVK 1999, S. 85.

[13] PZ 313 4-13.

[14] Vgl. Oster, Carolin: Die Farben höfischer Körper. Farbattribuierung und höfische Identität in mittelhochdeutschen Artus- und Tristanromanen. Berlin: De Gruyter 2014, S. 63.

[15] Vgl. PZ: 779, 22-26.

[16] Vgl. PZ: 781, 16.

[17] PZ: 780, 15-22.

[18] PZ 779, 11.

[19] PZ: 786, 1-21.

[20] PZ: 778, 20.

[21] PZ: 778, 21-30.

[22] Vgl. Raudszus, S. 138.

[23] PZ: 313, 4.

[24] Vgl. Martin, Ernst (Hg.): Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Zweiter Teil: Kommentar. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 266.

[25] Vgl. Raudszus, S. 127.

[26] Vgl. Raudszus, S. 128.

[27] Vgl. Müller, Mechthild / Babin, Malte-Ludolf / Riecke, Jörg (Hg.): Das Thema Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Summarium Heinrici 1. Berlin: De Gruyter 2013, S. 356.

[28] Vgl. Oster, S. 67.

[29] Vgl. ebd., S. 245.

[30] Vgl. ebd., S. 67.

[31] The Medieval Bestiary. Animals in the Middle Ages. Stichwort: peacock. Unter: http://bestiary.ca/beasts/beastalphashort.htm [gesehen am 01.07.2018].

[32] Conrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Greifswald: Julius Abel 1897, S. 177.

[33] Isidor von Sevilla: Etymologiae. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008, S. 485.

[34] Vgl. Conrad von Megenberg, S. 187-188.

[35] PZ: 312, 6.

[36] PZ: 318, 9.

[37] Vgl. Pappas, S. 169.

[38] Vgl. Bumke, S. 76-77.

Der Drache Pfetan in Wirnts von Grafenberg Wigalois

Wirnts von Grafenberg Roman Wigalois hat seinen Ursprung um 1210/1220 und gehört zu den wichtigsten Artusromanen des Mittelalters.1 Gabriela Antunes betont die herausragende Stellung in der mittelalterlichen deutschen Literatur und seine enorme Bedeutung für die Entwicklung des Artusromans.2 Wigalois ist Ritter der Tafelrunde und der Sohn Gaweins. Im Verlauf der Erzählung soll Wigalois das Land Korntin von teuflischen Kreaturen befreien. In einem Kampf besiegt er den Drachen Pfetan. Als christlicher Held vertraut er dabei auf die Unterstützung von Gott und wird so zum Gottesstreiter.3Der Drache Pfetan wird in Wirnts von Grafenberg Wigalois als deheine crêature4 dargestellt. Für den Verlauf der Geschichte steht er in einem direkten Zusammenhang mit der Befreiung Korntins, denn Pfetan repräsentiert das Chaos und das Böse, welches die Gesellschaft in seiner Ordnung bedroht. Ihn zu bezwingen gilt als Bekämpfung des Bösen – Wigalois, von Gott auserwählt, bezwingt den Drachen und ist in der Lage die (höfische) Ordnung wieder herzustellen.5

Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, wie der Drache Pfetan als teuflische Kreatur oder gar als Teufel selbst dargestellt wird.

Definition

Der Definition nach ist ein Drache

„zumeist […] von echsenartiger, mit Schuppen bedeckter Gestalt mit fledermausartigen Flügeln und zwei oder vier raubtierartigen Krallenfüßen, […] er kann mehrköpfig sein, […] speit Feuer, hat einen giftigen Atem und den bösen Blick.“ 6

Dem Drachen werden durchaus auch positive Attribute zugeschrieben, so erzählt Hildegard von Bingen, dass das Drachenblut eine heilende Wirkung besitzt7 und ein Drachenherz, welches im Ackerboden vergraben wird, vor Schaden bewahrt.8 Allerdings gilt er in der abendländischen Tradition „als Verkörperung von Zerstörung und Chaos“9, als „die Inkarnation des Bösen in der Welt, des Teufels Gesellen“.10Claude Lecouteux definiert einen Drachen als jedes Wesen, dass im Originaltext als Drache bzw. mit einem synonymen Begriff, wie Wurm, Wyrm, Draca, Lint, Lintdrache, Lintwurm oder dergleichen bezeichnet wird.11

Darstellung des Drachens im Wigalois

In Wirnts von Grafenberg Wigalois wird der Drache Pfetan detailliert und facettenreich beschrieben.
Er wird als riesenhafte Gestalt dargestellt; die Haut seines Körpers ist geschuppt, Kopf und Beine sind behaart. Vom Kopf bis zum Schwanz sitzt eine scharfe, gelbe, feste Schuppenreihe, die laut Erzähler an die Gestalt eines Krokodils erinnert. Eine weitere Darstellung seines Äußeren vervollständigen das Bild des Drachen: Er trägt einen Hahnenkamm, hat Greifenbeine, Flügel, die wie Pfauenfedern schillern und die Ohren eines Maultiers. Sein Leib ist kerzenförmig, sein Hals knorrig und er besitzt einen langen Schwanz, der drachenspezifische Eigenschaften aufweist, auf die Isidor von Sevilla näher eingeht.

einen kamp hêt er als ein han,
wan daz er ungevüege was;
sîn bûch was grüene alsam ein gras,
diu ougen rôt, sîn sîte gel;
der wurm der was sinwel
als ein kerze hin zetal;
sîn scharfer grât der was val;
zwei ôren hêt er als ein mûl;
sîn houbt was âne mâze grôz,
swarz, rûch; sîn snabel blôz,
eins klâfters lanc, wol ellen breit,
vor gespitzet, unde sneit
als ein niuwesliffen sper;
in sînem giele hêt er
lange zene als ein swîn;
breite schuopen hürnîn
wâren an im über al;
von dem houbet hin ze tal
stuont ûf im ein scharfer grât,
als der kokodrille hât,
dâ er die kiele kliubet mit12

Laut Claude Lecouteux sind die an Pfetan beschriebenen Maultierohren ein eher untypisches Drachenattribut, werden jedoch in der Teufelsdarstellung angewendet und könnten ein Indiz dafür sein, dass Pfetan eine Teufelsfigur darstellen soll.13 Lecouteux betont, dass die umfangreiche Beschreibung Pfetans nicht nur einmalig für die mittelhochdeutsche Literatur sei, sondern überdies auch an den naturkundlichen Quellen von Isidor von Sevilla14, Hildegard von Bingen15 und Konrad von Megenberg 16 anzuknüpfen scheint.17Der Drache Pfetan ist durchaus als Schlüsselfigur im Wigalois zu betrachten. Der tapfere Held Wigalois befreit die Menschheit von dem Bösen, das durch den Drachen Pfetan verkörpert wird. Der Drache scheint zunächst unverwundbar und ist nur mit Hilfe von magischen Hilfsmitteln zu besiegen.18Der faulige Atem des Drachens ist sogar in der Lage ein ganzes Heer zu vernichten und verdeutlicht die von Pfetan ausgehende Gefahr. Dazu steht im Wigalois von sînem stanke verdürbe ein her der im ûz dem halse gêt“19Pfetan wird an mehreren Stellen als Verbündeter des Teufels „tievels bot“20 oder sogar als der „tievel“21 selbst begriffen. Stephan Fuchs bezeichnet den Drachen als „Wurzel des Chaotischen“22, was er unter anderem damit belegt, dass Roaz selbst den Drachen nicht vernichten kann und auch Wigalois durch den Drachen in einen (vorübergehenden) chaotischen, ungeordneten, außergesellschaftlichen Urzustand geworfen wird.23

Darstellung des Drachens in der christlichen Überlieferung

Schon im neuen Testament finden sich Hinweise auf den Drachen als ein Bote des Teufels.
Dort wird er in der Offenbarung des Johannes als Wesen mit sieben Köpfen und zehn Hörnern beschrieben.24 Auf jedem Haupt sitzt eine Krone. Durch seine Zerstörung schlägt er mit seinem Schwanz ein Drittel aller Sterne vom Himmel auf die Erde.25
Es wird von einem Drachen berichtet, der am Himmel erscheint und das Kind einer gebärenden Frau verschlingen will. Mit Gottes Hilfe gelingt es der Frau jedoch, sich zu retten und einen Sohn zu gebären, dem die Herrschaft über alle Völker verheißen ist. Doch währenddessen entbrennt im Himmel ein Kampf zwischen dem bedrohlichen Drachen und dem Erzengel Michael und seinen Engeln, infolgedessen der Drache zur Erde gestürzt wird.

Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten und verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt, und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.26

Diese Passage ist prägend für das europäische Drachenverständnis, da der Drache hier mit der Figur des Teufels in Verbindung gebracht wird.
Die Offenbarung wird als Endzeitgeschichte dargestellt.Auch im Wigalois ist eine deutliche Verbindung zwischen dem Weltlichen und Geistlichen zu finden ist.  Als Wigalois den Drachen sieht, betet er zu Gott, er möge ihm helfen:

nu hilf, keiser, herre got,
daz mich dirre tievels bot
iht scheide vin dem lîbe,
daz ich dem süezen wîbe
erledige ir gesellen.
du solt den tievel vellen,
wand er der werlte schaden tuot.27

Der Drachenkampf steht hier sinnbildlich für die Auseinandersetzung mit Satan, dem Bösen schlechthin. Der Sieg über ihn wird gleichgesetzt mit dem Sieg über alles Lebens- und Gottesfeindliche. Andreas Hammer bezeichnet Wigalois als einen vollkommenen Held, der in seinem eigenen Seelenheil unerschütterlich wirkt. Weiter bemerkt Hammer, dass die starke Besinnung auf christliche Symbole im Wigalois, die sich auch im Aufgreifen der Zweifelsthematik zeigt, die Identifikation des Drachen mit dem Teufel im Sinne der biblischen Offenbarung oder der mittelalterlichen Tierallegorien gestattet.28Allerdings darf dabei die Bedeutung und Herkunft der Schlangen nicht außer Acht gelassen werden, da die Schlange als biblisches Geschöpf eine besondere Stellung einnimmt. Auch im alten Testament dient sie als Instrument des Teufels, indem durch sie durch Hinterlist und Tücke die Menschen aus dem Paradies treibt.29

Darstellung des Drachen bei Isidor von Sevilla

Isidor von Sevilla versucht zunächst eine neutralere Betrachtung des Drachen; so bezeichnet er in seinen Etymologiae Drachen als eine Unterart der Schlangen (serpentes).30 Damit erhalten sie den Stellenwert eines real existierenden Lebewesens, das mit einer Seele ausgestattet ist.8Laut Isidor von Sevilla ist ein Drache gewaltig und mit seinem Schwanz in der Lage Elefanten zu töten, indem er sie damit umwickelt, um sie dann zu strangulieren.31
Hier findet sich eine deutliche Parallele zu Pfetan, der seine Beute ähnlich zu jagen scheint.

der wurm hêt nâch wurmes sit
einen zagel langen;
dâ mit hêt er bevangen
vier rîter lussam,
die er vor dem walde nam,
als im diu vrouwe hêt geseit
durch die er nâch dem wurme reit.
vil kûme hêten si ir leben;
der zagel was umb si gegeben
wol mit drin valten;
sus hêt er si behalten,
als er si ezzen wolde32

Im Hinblick auf Isidor von Sevilla ist lediglich das christliche Drachenbild negativ in seiner Darstellung und basiert auf den Überlieferungen der Bibel. Naturkundlich betrachtet, wird der Drache ausschließlich als Tier wahrgenommen und nicht als böse.33 Denn obwohl Isidor von Sevilla den Begriff „monstrum“ nicht in Verbindung mit dem Drachen verwendet, impliziert er durchaus monströse Eigenschaften, indem er von der physischen Exorbitanz des Drachen spricht.34

Fazit

Viele der genannten Textstellen identifizieren den Drachen Pfetan mit dem Teufel. Da die mittelalterliche Literatur von einem starken christlichen Einfluss geprägt ist, scheint dies auch im Sinne der biblischen Offenbarung zu sein.35
Es ist anzunehmen, dass der Drache nicht für das absolute Böse, für den Teufel steht, sondern als ein Teufel zu betrachten ist, der durchaus auszutauschen oder zu ersetzen ist. Sabine und Ulrich Seelbach sehen im Wigalois eindeutige Parallelen zwischen Pfetan und dem Teufel, die durch das Gesamtkonzept des Romans unterstützt werden. Dabei ist zu bedenken,

dass der Roman sowohl „das Problem des Zweifels [als] Zentrum menschlicher Entwicklung und Bewährung“, wie es typisch für die Literatur im Grenzbereich zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre ist, als auch die axiomatische Ethikkonzeption, wie sie an den dilemmatischen Situationen der Artusromane chretienscher Prägung präsent ist, kennt und beartet.36

Der Drache Pfetan scheint folglich eine literarische Rolle einzunehmen; der vermeidliche Held der Geschichte muss sich seinem übermenschlichen Gegner, der hier als Drache dargestellt wird, stellen und besiegen. Durch den Sieg erlangt der Held eine neue heldenhafte Identität und steigt in seinem Ansehen. Durch die detaillierte, furchteinflößende Beschreibung seines Aussehens, wirkt Pfetan noch bedrohlicher und mächtiger. Diese Attribute vervollständigen auch das Bild des vollkommenen Helden Wigalois. Schlussendlich ist dem Drachen Pfetan durch die Zuordnung zur Gattung der Schlangen, der Verbindung zum Christentum und der sprachlichen Zuordnung im Wigalois zwar eine begriffliche Nähe zum Teufel zuzusprechen, jedoch weist er am Ende keine dämonischen Eigenschaften auf, da er von Wigalois in einem ritterlichen Kampf bezwungen wird;37 Wigalois, der verschiedene Hilfsmittel zur Drachenbekämpfung mit sich führt, die zum einen aus übernatürlichen, christlichen Dimensionen zum anderen aus weltlichen Dimensionen bestehen, besiegt Pfetan nicht durch übernatürliche Kräfte, sondern mit dem Stich seiner Lanze.38