Der Greif – epische Darstellung und Funktion

Im Mittelalter hielt man den Greif, ähnlich wie den Drachen, für ein real existierendes Lebewesen. Der Greif, ein tierisches Mischwesen aus Löwe und Adler lebt laut mittelalterlichen Quellen meist in Indien und hütet Gold.1 Der Rumpf ist der eines Löwen, das Vorderteil entspricht dem eines Adlers. Sein Kopf ist gefiedert und er hat einen kräftigen Schnabel. Er trägt Flügel, die ihn fliegen lassen und hat vier Beine, die mal einem Löwen und mal Adlerkrallen gleichen.2 Während der Greif in der Romanik das Böse in Gestalt von Löwe, Schlange oder Basilisk abwehrt und überwindet, wird der Greif in der Literatur des Mittelalters häufig als gewalttätiges Wesen dargestellt, dass Menschen und Tiere bestialisch tötet. Isidor von Sevilla schreibt in der Etymologie

Der Greif ist ein geflügeltes Tier mit vier Beinen. Diese wilde Tierart stammt aus dem hyperboreischen Gebirge. In allen Teilen seines Körpers gleicht er dem Löwen, nur sein Kopf und seine Schwingen gleichen dem Adler. Besonders feindlich ist er den Pferden. Wenn er Menschen sieht, will er sie in Stücke reißen. 3

Hildegard von Bingen geht sogar davon aus, dass der Greif auf Grund seiner Monströsität Menschen frisst:

De natura autem bestiarum homines comedit […]. Et caro eius ad esum hominis non valet, quia si homo de carnibus illius comederet, multum inde lederetur, quoniam ille nec pleniter naturam volucrum nec pleniter naturam bestiarum in se habet, sed in utraque natura defectum habet.4

Infolge der Bestiennatur aber frisst er Menschen. […]. Und sein Fleisch taugt nicht zur Speise des Menschen, denn wenn der Mensch von seinem Fleisch äße, würde er davon großen Schaden nehmen, weil jener weder vollständig die Natur der Vögel noch vollständig die Natur der Tiere enthält, sondern in jeder Natur einen Mangel hat.5

Hildegard von Bingen ordnet den Greif in die Gattung der Bestiarien ein, da er sich auf Grund seines Aussehens nicht eindeutig einer Gattung zuschreiben lässt.

Nachfolgend wird darauf eingegangen, wie der Greif in der mittelhochdeutschen Literatur dargestellt wird und ob Ähnlichkeiten in Kontext und Funktion eines Romans zu finden sind. Dazu wird näher auf die Greifenepisoden in der Kudrun und im Herzog Ernst eingegangen.

Die Greifenepisode in der Kudrun

Das Kudrunlied ist ein anonymes strophisches Heldenepos, das vermutlich um 1230/40 im bayrisch – österreichischen Raum entstanden ist und gilt neben dem Nibelungenlied als das zweite große Heldenepos der mittelalterlichen deutschen Literatur.6 Das Epos beinhaltet allerdings auch viele Elemente des höfischen Romans; d.h. höfisch – ritterliche Motive spielen in ihm eine große Rolle, z.B. bei der Schilderung zeremonieller Handlungen am Königshof, Verabschiedung und Begrüßung.2

Der erste Teil (Aventiure 1-4) handelt von Hagen, dem Großvater der Heldin Kudrun: Der „übele tieuvel […]/ sînen boten7 in Gestalt eines Greifs, dringt dort in die höfische Welt von König Sigebant und seiner Frau Ute ein, um deren siebenjährigen Sohn Hagen auf eine Insel zu entführen und dort zu töten. Die Greifeninsel befindet sich weit weg von der zivilisierten Gesellschaft und der höfischen Ordnung. Der Greif kommt aus solcher Höhe, dass sein Gefieder Schatten wirft. Der junge Prinz Hagen steht auf einem Turnierfest abseits der Menschenmenge mit seiner unerfahrenen Betreuerin und lauscht einem Gesangsvortrag.

Ez begunde schatewen dar sîn gevidere in truoc,
als ez ein wolken waere. starc was er genuoc.
Vor ir manigen freuden si nâmens war vil kleine.
Diu maget mit dem kinde stuont vor dem hûse vil eine. 8

Dort greift sich der Greif gezielt den Prinzen und umschließt ihn mit seinen Klauen „Der grîfe lie sich nidere und beslôz daz kindelîn / in di sîne klâwe.9 Er trägt ihn mit seiner Kraft hoch empor und schwingt sich auf in die Luft bis fern zu den Wolken „er truog ez harte hôhe mit der sînen maht. / dô kêrte er gegen dem lufte zuo den wolken verre,10 Der alte Greif bringt Hagen zu seinem Nest; die jungen Greife sollen ihn mit ihren Klauen zerreißen und fressen. Hagen ist dem „wilden grîfen11 scheinbar hilflos ausgeliefert, dennoch überlebt er den Angriff mit Gottes Hilfe. Später nimmt ein junger Greif Hagen in seine Klauen und fliegt von Baum zu Baum. Da die Kraft des Greifs nachlässt, fällt der junge Prinz in den Wald und ist zunächst auf wundersame Weise aus dem Horst des Greifs gerettet. Fast verhungert begegnet er drei Königstöchtern, die früher von dem Greif geraubt wurden, in einer Höhle. Nach anfänglicher Skepsis bleibt Hagen bei ihnen und sie kümmern sich um ihn, bis er groß ist. Lange Zeit später strandet ein Schiff auf der Greifeninsel. Der herangewachsene Hagen sieht, wie der alte Greif die Schiffsmannschaft für seine Jungen tötet und frisst. Voller Zorn nimmt Hagen das Kettenhemd eines auf der Insel gestrandeten, toten Kreuzritters und herumliegende Waffen und erschlägt, trotz geringer Kampferfahrung, die Greifen. Er übt Vergeltung, für das ihm angetane Leid. Hagen bringt sich mit den gefundenen Waffen die Ritterkunst bei und kehrt anschließend in seine Heimat zurück. Dort heiratet er die älteste und schönste der drei Königstöchter.

Die Greifenepisode erhält durch die Entführung von Hagen eine besondere narrative Funktion: Hagen steht kurz davor, in die höfische Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Durch die Entführung wird die gerade angelaufene Aufnahme Hagens in die höfische Welt unterbrochen und es folgt eine Aufnahme in die heroische Sphäre auf der mythischen Greifeninsel.12 Somit schafft die Greifenepisode eine regelrechte Zäsur innerhalb des Romans. Mit diesem Szenario bricht die wilde, unzivilisierte Welt in die höfische Welt ein und schafft dort Unordnung. Die wilden Greife stehen in ihrer Darstellung für Unzivilisiertheit, Primitivität und Gottlosigkeit. Ihr Leben spielt sich außerhalb eines zivilisierten Raumes ab. 13 Durch die Kollision beider Welten werden unterschiedliche kulturelle Paradigmen betrachtet. Die Dämonisierung des Greifen und die damit stilisierte Opposition zum Christentum, der Zusammenstoß heroischer und höfischer Elemente sowie die Gegenüberstellung der zivilisierten Welt des Hofes und der wilden Insel der Greifen zeigen diese „Virulenz des Mythischen“ auf. 14 Allerdings scheint die narrative Funktion des Greifenkampfes eng mit der Heldenfigur Hagens zusammen zu hängen.

Die Greifenepisode im Herzog Ernst

Herzog Ernst ist die Titelfigur des gleichnamigen mittelalterlichen Abenteuerromans, der seinen Ursprung um 1180 hat.15 Herzog Ernst wird zunächst als Mitglied der höfischen Welt beschrieben. Durch seine Herkunft, seine standesgemäße Ausbildung und seine Tugenden entspricht er dem Ideal eines höfischen Vorbilds. Nach dem Kampf gegen die Grippianer flieht Herzog Ernst mit seinen Männern ins Lebermeer, wo sich auch der Magnetberg befindet. Dort verhungert die gesamte Mannschaft, lediglich sieben Männer überleben. Herzog Ernst muss mit ansehen, wie die Toten von den Greifen für ihre Jungvögel fortgetragen werden.

Die andern truoc ein grîfe dan
zeinzigen sô sie sturben.
die lebendigen alsô wurben:
swelhen ie der tôt nam,
den truogen die helden lobesam
ûz dem schiffe schiere.
in leiten die degen ziere
obene ûf des schiffes bort:
daz habt ir dicke gehôrt
sagen vür ungelogen.
die grîfen kâmen dar geflogen
und fuortens hin zir neste.16

Graf Wetzel, ein enger Vertrauter Herzog Ernsts, verfolgt den Plan, die Männer in Meerrinderhäute einzunähen und sich dann von den Greifen davon tragen zu lassen.

„ich hân an disen stunden
uns einen list ervunden
daz uns niht bezzer darf wesen.
suln wir immer genesen,
daz muoz gwislîch dâ von geschehen
daz wir suochen unde spehen,
ê daz wir erwinden,
unz wir in den scheffen vinden
etelîcher hande hiute,
und sliefen wir ellende liute
in unser guoten sarwât.
sô man uns dan vernaet hât
in die hiute“, sprach der degen,
„sô suln wir uns danne legen
vor ûf daz schif sâ.
sô nement uns die grîfen dâ
und füerent uns von hinnen.“17

Herzog Ernst entkommt den Greifen, trauert aber um die verbliebenen Toten seines Gefolges.  Anders als Hagen in der Kudrun durchläuft Herzog Ernst keine Krise, vielmehr durchläuft er ein persönliches Weiterkommen. Seine Reise ist geprägt von Misserfolgen und falschen Einschätzungen, bei denen die meisten seines Gefolges sterben. Er gerät in eine Krise und durch seine falschen Einschätzungen ist er gezwungen Buße zu tun. Die Greifenepisode wird hier weniger ausführlich dargestellt. Anders als in der Kudrun werden die Greife nicht als bestialisch mordend beschrieben, sondern eher als Aasfresser, die ihren Gewohnheiten nachgehen. Es sollte auch erwähnt werden, dass Herzog Ernst es nicht für notwendig erachtet die jungen Greife zu töten, sondern sie am Leben lässt.

dieandern wurden z`âsen
den grîfen und den jungen.
in was dicke alsô gelungen
an liuten genuogen
die sie von dannen truogen
zir neste nâch gewonheit18

Zu den Greifenepisoden der oben aufgeführten Beispiele finden sich zahlreiche Parallelen in der mittelalterlichen Literatur. Claude Lecouteux schreibt in seinem Aufsatz „Die Sage vom Magnetberg“ von einem Motivkomplex in der erzählenden Literatur um 1200:

Vom Magnetberg angezogen, retten sich Seeleute, indem sie sich in Tierhäute einnähen, die dann Greifen bis ans Festland oder auf eine andere, aber bewohnte Insel forttragen. 19

Auch in Werken mittelalterlicher Literatur sind deutliche Parallelen zu erkennen. Das Einnähen in Tierhäute und die Rettung durch Greifen, ist auch für die Protagonisten im Böhmischen Volksbuch [Vgl. Claude Lecouteux: `Herzog Ernst`. Das böhmische Volksbuch von Stillfried und Bruncwig und die morgenländischen Alexandersagen. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 108 (1979), S. 306 – 322. Der böhmische Fürst Bruncwig lässt sich in eine Pferdehaut einnähen und von einem Greif forttragen. Nach seiner Befreiung erschlägt Bruncwig den Greif.[/note], in der Virgilius – Sage des Wartburgskriegs20, sowie in Esclarmonde21die Rettung aus der unzivilisierten Welt zurück in die höfische Welt.

Fazit

Der Greif ist in seiner literarischen Darstellung ein äußerst ambivalentes Wesen: Er beeindruckt durch seine imposante Größe und seine majestätische Ausstrahlung. Er wird in der mittelalterlichen Literatur als räuberisch, dämonisch, böse und als eine Gefahr für die Gesellschaft dargestellt.22 Es ergeben sich durchaus Überschneidungen zwischen der naturkundlichen und fiktionalen Betrachtung angesichts der monströsen bzw. exorbitanten Physis des Greifs. Gerade die beschriebene Menschenfeindlichkeit lässt sich in der mittelalterlichen Literatur mehrfach wiederfinden. Der Greif scheint in der Literatur eine Symbolfigur zu sein, die bei dem Helden einen biografischen Wendepunkt herbei führen soll. Er reift vom Kind zu einem Mann. Als Stellvertreter des Guten kämpft er gegen das symbolische Böse, um die höfische Ordnung wieder herzustellen. Ähnlich wie der Drachenkampf, hat die Begegnung mit einem Greif eine narrative literarische Funktion; die Störung der höfischen Ordnung. Er schafft ein kulturelles Paradigma zwischen der zivilisierten, höfischen Gesellschaft und der wilden, mythischen Insel des Greifs.23 Andererseits dient der Greif in der Literatur als Transportmittel, das zwar die Toten frisst, ansonsten aber keine monströsen Eigenschaften beinhaltet. ,Der Lebensraum der Greife lässt sich als Ort der Strafe, der Bewährung, des Existenzkampfes und der Buße erklären. Es ist ein Ort außerhalb der Zivilisation von dem schreckliche Gefahren ausgehen. Die Protagonisten sind isoliert und auf sich selbst gestellt. Die vermeidlichen Helden müssen sich durch Bußfertigkeit beweisen. Einfach fortgehen scheint unmöglich, es wird immer ein Transportmittel benötigt. Da im Zusammenhang der Magnetbergsage die Schiffe zerstört sind oder in Kudrun kein Schiff vorhanden ist, bedienen sich die Protagonisten der Greifen.

dâ von die helde gemeit,
der herzoge und sîne man,
ze lande kâmen wider dan.24

In der Kudrun wird die Greifenepisode ausschweifend erzählt. Hagens Situation wird damit scheinbar noch dramatischer und aussichtsloser dargestellt. Möglicherweise lässt sich dadurch auch eine größere Zeitspanne erklären, in der Hagen zu einem jungen Mann heranwächst und seine Wut auf das Wilde steigt. Im Herzog Ernst erhalten die Greife eine durchaus eindrucksvolle Rolle, da sie die Not und Hilflosigkeit der Gestrandeten verstärken, jedoch werden sie nicht als bewusst mordende Kreaturen dargestellt. In beiden Erzählungen scheint das Ziel der Reise ein Lernprozess der Protagonisten zu sein. Beide Helden wachsen durch ihre Erfahrungen auf der Greifeninsel heran, gewinnen an Erkenntnis und Bußfertigkeit. Letztendlich wird dann mit Gottes Hilfe die höfische Welt wieder hergestellt und somit die wilde, unzivilisierte Welt verdrängt.

Die Kranichschnäbler im Herzog Ernst B: Hybridwesen zwischen Bewunderung und Bestialität

Auf ihrer Reise nach Jerusalem verschlägt ein Sturm den Herzog Ernst und seine Gefährten in die wundersame und prächtige Stadt Grippia. Die Episode in Grippia und die Begegnung des Herzogs Ernst mit den dort ansässigen Kranichmenschen nimmt im Herzog Ernst B beinahe ein Drittel des gesamten Versromans ein und ist daher von besonderer Bedeutung. Die Stadt Grippia befindet sich am Rand der bekannten Welt und bildet einen topographischen Übergangsraum zwischen dem rîche und dem Orient,[1] der Bekanntes und Fremdes, Vertrautes und Unvertrautes wie in einem Mosaik vereint. Ebenso verhält es sich mit den Bewohnern und Erbauern der Stadt, den Kranichschnäblern. Sie sind biform,[2] ihre Körper sind menschlich, ihre Hälse und Köpfe sind jedoch die von Kranichen. Ihre Lebensform ist höfisch und sie tragen prachtvolle Kleidung. Die Stadt Grippia, ausgestattet mit Bädern, Kunst und Reichtum, ist Zeugnis der zivilisatorischen Errungenschaften der Kranichmenschen, die im Verlauf der Geschichte mit maßloser Gewalt und sexualisierter Bestialität kontrastiert wird. Im Folgenden soll die ambige Hybridität der Kranichmenschen näher beleuchtet werden, deren Einordnung sich im Verlauf der Episode zusehends vom menschlichen Spektrum ins tierisch-monströse verschiebt. Diese Verschiebung wird besonders anhand ihres Umgangs mit der geraubten Menschenprinzessin aus India sichtbar. Die Behandlung der christlichen Prinzessin und ihre folgende ‘Erschnäbelung‘ löst eine Verschiebung in der Wahrnehmung der Kranichmenschen vom kultivierten Exoten ins Bestialische aus.

It’s a trap! Die Kranichmenschen und ihre fabelhafte Stadt

Die in Grippia beheimateten Kranichschnäbler sind das erste Wundervolk, denen Herzog Ernst auf seiner Orientreise begegnet. Der Herzog und seine Ritter werden nach einem heftigen Sturm ausgehungert im paradiesisch anmutenden Land Grippia angespült. Auf der Suche nach Nahrung betreten sie die schönste Stadt, die die Welt je gesehen hat: „Ez wart nie burc sô maere/ Geworht ûf dirre erden/ Noch nimmer kunde werden/ Erbûwen alsô schône“.[3] Sie entdecken gedeckte Tische, speisen erlesen und decken sich vor der Rückkehr auf ihr Schiff mit Lebensmitteln ein. Zurück an Bord, beschließt der Herzog gemeinsam mit dem Grafen Wetzel die Stadt noch ein weiteres Mal zu erkunden. Die folgende Beschreibung der Stadt erstreckt sich über weite Teile der Grippia-Episode und ist eine faszinierende „visuelle tour de force“,[4] die das Exotische mit dem Bekannten vereint:

“The topography of the city displays perfect order and suggests recognition, but reveals simultaneously an unknown component. The city appears beautiful and exotic.”[5]

Spiegelbildlich zur Stadt verhält es sich auch mit ihren Bewohnern, die gerade von einem Raubzug aus India zurückkehren und Wetzel und Ernst bei der Stadtsichtung überraschen. Sie verstecken sich daraufhin in der Stadt und beobachten die Kranichschnäbler fasziniert. Die unermesslichen Reichtümer und die Schönheit der Stadt passen zur Schönheit und Wohlgestalt ihrer Bewohner:

di wâren an îe lîben,
sie waeren junc oder alt,
schoene unde wol gestalt
an füezen und an henden
in allen enden schoene liute und herlich,
wan hals und houbet was gelîch
als den kranichen getân. [6]

Der einzige Makel an ihren sonst stattlichen Körpern, sind ihre langen Hälse und Köpfe.[7] Trotz der körperlichen Seltsamkeiten entdecken Wetzel und Ernst, dass die gesellschaftliche Organisation der Kranichschnäbler ihnen bekannten feudalen Mustern folgt. Sie haben einen König, edle Leute, pflegen einen höfischen Lebensstil und scheinen sich durchaus auch kriegerisch zu betätigen. Zwar wirken die Kranichmenschen insgesamt seltsam[8] und wunderlich, durch ihre hochentwickelte Urbanität werden sie jedoch eindeutig im menschlichen Spektrum als liute[9] verortet. Der zivilisatorische Entwicklungsgrad ist es auch, der die Kranichschnäbler von anderen monströsen Rassen abhebt. Diese halten sich für gewöhnlich eher in der Wildnis auf, statt sich in einem komplexen städtischen Umfeld zu bewegen,[10] in dem man sich wohlerzogen verhält und vor dem Essen sogar die Hände wäscht.[11]

Ein weiterer Indikator dafür, dass sie sich trotz ihrer Tierköpfe zunächst eher als menschlich denn als Tiere wahrgenommen werden, ist zum einen ihre kostbare Kleidung, die äußerst detailliert und im Ton der Bewunderung beschrieben wird. Weiterhin ist noch ihre Bewaffnung zu nennen: Sie tragen Pfeil und Bogen mit edler Verzierung und aus feinem Material. Aufgrund ihrer distinguierten Aufmachung, aber auch aufgrund ihrer zierlichen Hälse, werden sie von Ernst und seinen Rittern daher zunächst nicht als bedrohlich oder gar als wilde Monster wahrgenommen. Vielmehr sind sie ein Faszinosum: „Much like their city, they are fascinating to stare at, but potentially dangerous. They, too, may seem to be one thing, but are in fact another.”[12]

An der Charakterisierung der Grippianer fällt auf, dass sie zunächst keinem religiösen Kontexte zugeordnet werden. Vielmehr werden die Kranichschnäbler als draufgängerische Genussmenschen charakterisiert, ihr festlicher Lebensstil wird als „vîl vermezzen […] stolz und gemeit[13] beschrieben. Durch die im Herzog Ernst bekannte kompromisslose Kreuzzugsmentalität[14] „erhält auch die Faszination der Christen angesichts der orientalischen Pracht der Residenzstadt des fremden Landes ein deutlich negatives Vorzeichen“.[15]

Von fabelhaft zu schnabelhaft: Die Verschiebung der Einordnung ins Monströse

Als Ernst und Wetzel die Kranichmenschen zum ersten Mal in Augenschein nehmen, befinden sich diese in Vorfreude auf ein Festmahl. Der König der Kranichschnäbler möchte die aus Indien entführte Menschenprinzessin, die nur aufgrund ihrer einzigartigen Schönheit überleben durfte, zur Frau nehmen. Bemerkenswert ist auch die Beschreibung der indischen Prinzessin, die mit weißer Haut und blondem Haar[16] europäische Schönheitsideale bedient und damit für Ernst und Wetzel im eigenen, christlichen, Kosmos zu verorten ist. Die Ausgelassenheit und Freude der Kranichschnäbler steht in krassem Gegensatz zur Trauer der verängstigten Prinzessin, für die, wie auch für Ernst und Wetzel, die Sprache der Kranichschnäbler ein furchterregendes Krächzen bleibt.[17] Die nicht-menschliche Sprache der Kranichschnäbler ist der Menschenprinzessin ebenso fremd wie die Küsse des Königs von Grippia: „als dicke er sie kuste, sen snabel stiez er ir in den munt. / solh minne was ir ê unkunt.[18]

Der Schnabel, unfähig der menschlichen Sprache, lässt die Kranichschnäbler trotz ihrer Kultiviertheit zusehends als unmenschlich erscheinen. Beim Akt des Kusses gewinnt der Schnabel des Königs zudem eine phallische Komponente und der Kuss selbst die Qualität einer symbolischen Vergewaltigung.[19] Beim sexuellen Übergriff durch den Kranichkönig zieht Ernst eine eindeutige Grenze zu den Fremden. Die Beobachtung dieser Szene und das offensichtliche Unglück der Prinzessin führt in Ernst zu dem unheilvollen Entschluss, die Prinzessin gewaltsam und zur Rettung ihrer Ehre[20] aus der inkompatiblen Verbindung zu befreien. Die Küsse des Königs sind auch ein Wendepunkt in der Wahrnehmung der Kranichschnäbler. Waren diese zuvor seltsame Exoten, werden sie mit dem symbolischen sexuellen Übergriff auf die Prinzessin, eindeutig als Feinde wahrgenommen und zusehends entmenschlicht. Interessant ist hier, dass sich Ernst zur Rechtfertigung von Waffengewalt auf Gott beruft[21] und die Grippianer damit auch eindeutig als religiös anders einstuft. Wetzel geht sogar noch einen Schritt weiter:  Er fühlt sich den Kranichschnäblern nicht nur militärisch und moralisch überlegen, sondern klassifiziert sie auch als Tiere, die er plant zu schlachten wie Vieh: „wir slahens als das vihe nider. […] wir trenkens mit ir bluotes flôz.[22]

Es gelingt Ernst und Wetzel zwar, den König und einige Treuen noch vor dem eigentlichen Vollzug der Ehe in den Brautgemächern zu erschlagen, die Prinzessin indes können sie nicht retten, da ihr Plan entdeckt wird. Einige Kranichschnäbler, in der Vermutung dass Ernst und Wetzel ebenfalls aus India stammen, erstechen die Prinzessin daraufhin unerwartet brutal mit ihren Schnäbeln. Durch den Gewaltausbrauch des ‘Erschnäbelns‘, die Tötung der Prinzessin mit dem Schnabel und nicht etwa durch kultiviert erscheinenden Waffengebrauch, werden die Kranichschnäbler, anders als zuvor, stark im tierischen Spektrum verortet. Die Erschnäbelung der Prinzessin vollendet zudem die penetrierenden Küsse des Königs der Kranichschnäbler in einem rachelüsternen gang rape, was den Kranichschnäblern Eigenschaften wie Unbeherrschtheit, Bestialität und brutaler Rohheit zuweist.

Im darauffolgenden verlustreichen Kampf gegen die für Ernst „ungetoufte liute und ahtent nicht ûf got“,[23] gelingt es Ernst und seinen Gefährten unerwartet vielen Kranichschnäblern mit ihren Schwertern die Hälse zu durchtrennen. Das Abschneiden der Hälse steht hierbei nicht nur für die bloße Tötung im Kampf, sondern ist die Parade sexuell konnotierter Gewalt. Das Durchschneiden des langen schmalen Halses als der Verlängerung des Schnabels, der Phallus und Mordinstrument zugleich ist, gleicht einer symbolischen Kastration. Die Entmannung und Entwaffnung der monströsen Kranichschnäbler bleibt jedoch partiell.  Nur wenige von Ernsts Gefährten überleben den Kampf gegen die zahlenmäßig überlegenen Kranichschnäbler und müssen unter enormen Verlusten aus Grippia auf ihr Schiff fliehen.

Die Wahrnehmung der Kranichschnäbler erlebt während des Grippia-Aufenthalts von Herzog Ernst und seinen Rittern eine signifikante Verschiebung. Zu Beginn der Episode werden sie trotz ihrer Biformität als vortreffliche Baumeister und kultiviertes Volk bewundert. Sie sind nicht nur märchenhaft reich und in ihrer Hybridität faszinierend schön, in ihrer Urbanität und zivilisatorischen Entwicklung sind sie den Reisenden sogar um einiges überlegen. Hinter der Pracht und Kultur, tritt der animalische Teil der Kranichschnäbler daher in der Wahrnehmung zunächst stark zurück. Die Bewunderung und Faszination für die Kranichschnäbler schlägt jedoch in Verachtung und Vernichtungswillen um, als der König der Kranichschnäbler der christlichen Prinzessin den Mund mit seinem Schnabel penetriert. Beim folgenden Gewaltexzess, bei der die Kranichmenschen ihren Schnabel als phallisches Tötungsinstrument verwenden, werden die heidnischen Kranichschnäbler vom fabelhaften Wundervolk zu „oriental monsters“ [24] deklassiert.


[1]Vgl. zu den biformes Lazda–Cazers, Rasma (20): Hybrity and Liminaltiy in Herzog Ernst B. In: Daphnis 33 (1-2), 2004, S. 79–96 (hier S.79).
[2] Vgl. Stock, Markus: Knowledge, Hybridity, and the King of the Crane-Heads. In: Daphnis 45 (3-4), 2017 S. 391–411 (hier S. 410).
[3] Sowinski Sowinski, Bernhard (Hg.): Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek, 8352),  2015, V. 2785–2788; im Folgenden zitiert unter der Sigle HE.
[4] Bowden, Sarah (2013): A false Dawn. The Grippia Episode in Three Versions of Herzog Ernst. In: Oxford German Studies 41 (1), 2013, S.15–31 (hier, S. 20).
[5] Lazda–Cazers 2004, S. 88
[6] HE   V. 2852-2859.
[7] Vgl. HE V 2872-2875.
[8] HE V. 2880.
[9] HE V. 2880.
[10] Zu Otherness und der Orientalisierung der Kranichschnäbler Vgl.  Bowden 2013, S. 24 und  Stock 2017, S. 403 und 409-10.
[11] Vgl. V. 3175-3182 und 2225-26.
[12] Bowden 2013, S 25.
[13] HE V. 2884-2885.
[14] Vgl. HE V. 3765.
[15] Goerlitz, Uta: »… Ob sye heiden synt ader cristen …«. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (4), 2009 S. 65–104 (hier S.89).
[16] Vgl. HE V. 3098-3102.
[17] Zur Kommunikation der Kranichmenschen, siehe den Artikel zur Kultur im Herzog Ernst.
[18] HE V. 3244-46.
[19] Laszda-Cazers erkennt zwischen der symbolischen Vergewaltigung der Prinzessin eine Reflexion von Ernsts vorangegangener Penetration der Stadt: „In an act of mimicry, he must see his own deeds reflected, as he himself turns into the king of the crane beaks and the unprotected city turns into the princess, unable to escape penetration.” Lazda–Cazers 2004, S. 89.
[20] Vgl. HE V. 3330.
[21] Vgl. HE V. 3286.
[22] HE V. 3295-97.
[23] HE V. 3753.
[24] Stock 2017, S. 410.

Ein Blick ins wunderbare Fremde – Eine Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen Kultur und dem Monströsen im Herzog Ernst

Der folgende Eintrag beschäftigt sich mit den Begegnungen mit Wundervölkern im Herzog Ernst, genauer mit den Grippianern und den Arimaspi bzw. Einsternen. Die Frage, unter der diese Begegnungen untersucht werden sollen lautet: Inwiefern spielt das Monströse und das Kulturelle der Wundervölker eine Rolle im Kontakt mit diesen und wie ist die Gewichtung dieser im Herzog Ernst? Hierbei wird ein Blick auf Schilderungen der Kultur und Monstrosität der Wundervölker geworfen, um zu sehen, ob und wie diese beiden Themen den Kontakt mit dem Unbekannten beeinflussen. Aus dieser Untersuchung heraus wird geschlussfolgert, ob es sich bei der Darstellung von Monstern um eine Legitimierung dieses Weltbildes handelt. Ausgehend von diesem Ausgangsziel, wird die Einstellung Ernsts dem Fremden gegenüber nicht in den Fokus genommen.

Eine Definition des Begriffes Kultur

Für diesen Blogeintrag wird die folgende Kulturdefinition Heringers verwendet:

Eine Kultur ist eine Lebensform. […] Wie Sprache ist sie eine menschliche Institution, die auf gemeinsamen Wissen basiert. Kultur ist entstanden, sie ist geworden in gemeinsamem menschlichen Handeln. Nicht, dass sie gewollt ist. Sie ist vielmehr ein Produkt der Unsichtbaren Hand. Sie ist ein Potenzial für gemeinsames sinnträchtiges Handeln. Aber das Potenzial zeigt sich nur in der Performanz, im Vollzug. Und es ist entstanden über Performanz. [2]

Potenzial beinhaltet für Heringer Wissen, Haltung, Sprache, Sitten und Gebräuche sowie Werte. Performanz ist die Realisierung, Aktivierung und das Handeln nach jenem Potenzial, welches sich als Produkt in Artefakten, Literatur, Musik, Kunstwerken und Bauten wiederspiegelt. Auch anzumerken ist, dass „Kultur uns Menschen selbstverständlich, im Handeln nicht bewusst [ist]. […] Bewusst wird sie uns, wenn wir mit einer anderen Kultur in Berührung kommen.“ [3] Die Ableitung von Werten aus den Beschreibungen der Wundervölker und ihrer Städte ist demnach durchaus möglich. Dies ist jedoch sehr spekulativ und kann schnell zu einer Überinterpretation führen. Um dies zu vermeiden, wird der Blick demnach eher auf die Wertung des Erzählers, gerichtet. So wird erlaubt zu untersuchen, ob und wie diese Wertungen in den Verlauf des Werkes bzw. den Kontakt mit den Wundervölkern einfließen, um darauf aufbauend eine Interpretation zu ermöglichen.

Grippia

De erste Kontakt zwischen dem Herzog und den Grippianern ist bemerkenswert gestaltet. Anstatt den Herzog von vornherein mit den Grippianern in Kontakt treten zu lassen, wird durch die Abwesenheit der Grippianer aus ihrer Stadt und die Erforschung dieser durch Herzog Ernst der Fokus komplett von der Monstrosität ihrer Bewohner genommen und auf ihre kulturellen Errungenschaften gerichtet. Ihre Abwesenheit dient weiterhin als Einführungspunkt in die Monstrosität der Wesen, mit dem Hintergrund ihres Potenzials. Damit ist gemeint, dass mit der ersten Begegnung beider der Fokus sofort auf die sprachliche Barriere gelernt wird:

Dô sie daz wunder gar gesâhen,
dô hôrten sie in allen gâhnen
ein wunderlîchen stimme,
starc unde grimme
vor der bürge an dem gevilde,
ob ez kraniche wilde
bevangen haeten über al,
alsô ungefügen schal als ie man vernam.[4]

Um zu sehen, ob der Konflikt mit den Grippianern aufgrund der Sprachbarriere zustande kommt, muss erst geklärt werden, wie Grippa und ihre Produkte, sowie die Grippianer und ihre Potenziale, hier besonders ihre Sitten und Gebräuche, vom Erzähler dargestellt werden. Dies ermöglicht zu sehen, wie nahe ihre Kultur an der europäischen ist. Gleich zu Anfang wird die kulturelle Nähe der Grippianer angedeutet. Das Mosaik der Stadtmauern, zeigt „maniger hande bilde, beide zam und wilde“[5], die sogleich das Fremde, aber auch das Vertraute dieser orientalischen Stadt in den Vordergrund stellt. In der Anlegung der Stadt, besonders der Wehranlangen, ihrer Bäder und dem Reinigungssystem der Straßen sind diese Fremden den Europäern technisch gesehen mindestens gleichauf. Die Handwerkskunst und die Pracht der Stadt beeindrucken den gebildeten, im Kontakt mit anderen Kulturen stehenden Ernst sehr: „des fröwete sich der helt guot, Ernst der recke vil gemeint.[6] Mit dem Auftritt der Grippianer nach der Nächtigung in der Burg wird diese Vermutung weiter ausgeführt. Bei ihrem Auftritt wird ihre Kleidung bis ins kleinste Detail beschrieben, besonders die Hosen werden verglichen mit der heimischen Mode sie sind „zerhouwen wol nâch hübeschen siten.“[7] Ihr Verhalten wird als höfisch dargestellt: „ir zuht und ir gebaere die herren dûht vil lobelîch.“[8] Die Grippianer beerdigen ihre Toten: „dô truogen sie die tôten und begruoben sie vil drâte“ [9] und kümmern sich um ihre Kranken: „und gewunnen arzâte die heilten die wunden.“[10] Sie wählen, in Anlehnung an das Heilige Römische Reich, einen neuen König: „unde welten zuo den stunden ze ir rîche einen andern man“[11] All das tun sie, obwohl „sie wâren kranichen ouch gelîch.“[12]

Die Einführung der Grippianer ist dichotomisch. Die Betrachtung der Stadt bringt ein zivilisiertes Bild mit sich, dass in vielen Belangen einer höfischen Gesellschaft stark ähnelt. Gleichzeitig wird jedoch die Fremdartigkeit der Bewohner durch ihre Monstrosität wiedergespiegelt. Das Schicksal der Prinzessin ist dabei eine Metapher dieser Problematik und bildet den Kern des misslungenen Kontaktes. Die Verfehlung der Grippianer, die diese in Konflikt mit Ernst bringt, ist in ihrem Verhalten bedingt und wird durch ihre anatomischen Differenzen ins Groteske geführt und löst so den Konflikt aus. Die Grippianer entführen die Prinzessin, nachdem sie das Schiff ihres Vaters, dem König Indiens, überfallen und alle an Bord töten; lediglich sie wird wegen ihrer Schönheit verschont. Hierbei ist anzumerken, dass die Kraniche anscheinend das gleiche Schönheitsideal wie die Europäer besitzen. Aus dem Monolog der Prinzessin geht hervor, das ihre größte Klage sich in der bereits angesprochenen Sprachbarriere findet. Dies, zusammen mit der Übertretung im Sinne der Luxuria, der Wolllust, und dem Fehlen einer höfischen Minnevorstellung, die diese animalisch darstellt und so mit ihrem tierischen Kopf korrespondiert, ist der Grund für den Konflikt zwischen Ernst und den Grippianern. Der Kuss mit dem Schnabel sowie die Ermordung der Prinzessin durch die Schnäbel der Grippianer bringt eine starke phallische Konnotation mit sich, die das animalisch-sexuelle Verhalten der Grippianer im Gegenteil zu den Europäern, die sich auf einem Kreuzzug und so auf „heiliger Mission“ befinden und dem christlichen Weltbild:

als dicke er sie kuste,
den snabel stiez er ir in den munt.
solh minne was ir ê unkunt
die wîl sie was in Indîâ. […]
mit den snebelen sie sie stâchen
allenthalben durch den lîp.[14]

Dies wird bei Sivri weiter unterstrichen. Er schreibt, dass die körperliche Hässlichkeit der Grippianer, bzw. der türkischen Truppen, die er in den Grippianern identifiziert, im Gegenteil zur fast vollkommenen Schönheit der Stadt steht. [15] Dies spiegelt die moralische Verfehlung der Grippianer wieder, die sich mit dem Gedanken der Spiegelung innerer Schönheit im Äußeren deckt. Hier kann bereits festgestellt werden, dass der Konflikt bedingt wertebasiert ist. Bei den Grippianern handelt es sich um Heiden, die die christlichen Wertevorstellungen nicht teilen und so den Konflikt kulturell erscheinen lassen. Dies legt eine Wechselbeziehung zwischen Monstrosität, Konfliktpunkt und der moralischen Verfehlung nahe.

Arimaspi

Im starken Kontrast zu den Vorgängen in Grippa steht die Arimaspi-Episode. Der Kontakt mit den Einsternen verläuft friedlich, Ernst erlernt die Sprache der Wesen und schafft es sogar zum Vasallen des dortigen Königs zu werden und darf ein Stück Land verwalten. Der Kontakt ist erfolgreich. Es soll nun herausgefunden werden, warum.

Das Monströse der Einsterne besteht darin, dass diese bloß ein Auge besitzen:

die liute wâren wunderlîch
die daz lant heten besezzen.
sie wâren vil vermezzen:
des mugen wir niht gelougen.
Sie heten niht wan ein ouge
vorne an dem hirne. [16]

Dies wird bloß ein einziges Mal zu Anfang erwähnt. Sie scheinen abgesehen davon gar nicht monströs und werden auch nicht so dargestellt. Tatsächlich könnte man glauben, Ernst würde sich wieder in Europa befinden, auch wenn über die Kultur der Einsterne, im Vergleich zu Grippia, relativ wenig Information gegeben sind.  Auch sie sind, wie die Grippianer und die Europäer, feudal organisiert, was sich an der Beschreibung der Titel sehen lässt: „grâven vor der bürge tor, der mit rittern da vor.“[17] Auch hier gibt es eine sprachliche Barriere „ir sprache was in unbekant“[18] und sie verhalten sich nach höfischen Normen tadellos „der grâve was ein gouter man“[19] und scheinen ähnliche Ideale wie die Europäer zu haben. Dies wird offensichtlich sobald Ernst und sein Gefolge dem König der Arimaspi vorgeführt werden. Der König, die Fremden nicht verstehend, lässt ein Pferd herbeiholen, um zu sehen, „welher der tiurste waere.“[20] Dies setzt eine starke kulturelle Nähe voraus. So können beide Parteien durch ihre gemeinsame kulturelle Nähe nonverbal durch höfisches Zeremoniell und Taten miteinander kommunizieren. Diese nonverbale Verständigung ist wahrscheinlich, neben der Tatsache, dass die Sprache der Einsterne erlernt werden kann, der Grund für den Erfolg der Kommunikation zwischen den beiden Parteien.  Dies ist auch der Grund, warum die Forschung die Arimaspi-Episode als Analogie zum rîche sehen und sie als metaphorische Aufarbeitung des Reichkonflikts betrachten.[21] Die kulturelle Nähe zu den Einsternen, erlaubt es ihm die soziale Position einzunehmen, die ihm im rîche zustehen würde.[22]

Der Sinn des Ganzen

Der Kontakt mit den Wundervölkern ist hier nun durch ihre Kultur und ihre Monstrosität definiert, wobei die Gewichtung dieser Werte im Folgenden noch etwas genauer zusammengefasst werden soll.  Hierfür wurde versucht den Blick auf die Wertungen und Vergleiche des Erzählers über die Kulturen der Wundervölker aus dem Werk herauszufiltern, um zu sehen, wie nahe der Erzähler diese an Europa verortet. Zum anderen wurde ein Blick auf die Natur und Wertung der Monstrosität der Wundervölker durch den Erzähler geworfen, um dort einen möglichen Grund zu finden. Das Ergebnis dieser kurzen Untersuchung scheint auf zwei Dinge hinzudeuten. Zum einen scheint das Fremde nicht zu fremd, da der Erzähler viele Bezüge zur heimischen europäisch-feudalen Kultur herstellt. Zum anderen scheint hier eine Wechselbeziehung zwischen Kultur und Monstrosität zu bestehen. Die Einsterne besitzen ein Auge, sind jedoch in ihren sonstigen Merkmalen menschlich und dies spiegelt sich in der Beschreibung und Interaktion mit diesen Wesen wieder. Sie besitzen keine Verfehlungen, wie die Grippianer und werden durch den Erzähler nicht verunmenschlicht. Sie sprechen eine fremde, aber erlernbare Sprache. Die Grippianer besitzen durch ihren Kranichkopf eine unmenschliche, animalische Komponente, die dem Herzog und seinem Gefolge im Sinne des exklusiven Weltbildes des Mittelalters einen Rechtsanspruch gegenüber diesen Wesen gibt, der ultimativ zu Ernst‘ superbia, d.h. seinem Hochmut gegenüber den Grippianern führt.[23] Ihre Sprache wird als Gekrächze beschrieben und ihre animalisch-sexuellen Triebe der Prinzessin gegenüber sowie der Blutdurst im Kontakt mit den Indern stehen im Spannungsverhältnis zum kirchlich geprägten Weltbild des Mittelalters, genauer der Keuschheit[24] bzw. der Sanftmütigkeit.[25] Somit lässt sich weiterführend die Frage eröffnen ob und inwiefern der hier ausgeblendete Blick Ernstes ins Fremde durch das Werk bearbeitet und bewertet wird; besonders unter dem Gesichtspunkt des Erfolges mit den Einsternen.


[2]     Heringer, Hans Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Tübingen: A. Francke Verlag 2014, S.110.

[3]     Ebd.

[4]     Herzog Ernst. Ein mittelalterliches Abenteuerbuch. Mhd./Nhd. Hg. v. Bernhard Sowinski. Stuttgart: Reclam, 1998, S. 161 V.2817-2825. (Hier die Fassung B)

[5]     Herzog Ernst B: V. 2225f.

[6]     Ebd. V. 2598f.

[7]     Ebd. V. 3006.

[8]     Ebd. V. 3054f.

[9]     Ebd. V. 3874.

[10]   Herzog Ernst B: V. 3876.

[11]   Ebd. V. 3879.

[12]   Ebd. V. 3055.

[14]   Ebd. V. 3245f u. V. 3426f.

[15]   Vgl. Sivri, Yücel: Mittelhochdeutsche Orientliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. ‚Graf Rudolf‘ und ‚Herzog Ernst‘. Ein Beitrag zur interkulturellen Auseinandersetzung im Hochmittelalter. Frankfurt a. M.: Peter Lang Edition 2016, S.121.

[16]   Herzog Ernst B: V. 4514-4519.

[17]   Ebd. V. 4530.

[18]   Ebd. V. 4539.

[19]   Ebd. V. 4543.

[20]   Ebd. V. 4606.

[21]   Siehe Sivri: Orient S.166.

[22]   Siehe Sivri: Orient S.166.

[23]   Der Begriff der Exklusivität im interkulturellen Kontext bezeichnet einen Absolutheitsanspruch der eigenen religiösen bzw. philosophischen Weltanschauung. Dies findet sich besonders im Kontakt mit den Grippianern bei Ernst wieder und entwickelt sich später. Siehe: Yousefi, Hamid Reza: Grundbegriffe der interkulturellen Kommunikation. Konstanz [u.a.]: UVK [u.a.] 2014, S. 97.

[24]   Siehe Hauser, Richard: Keuschheit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie online. Basel: Schwabe AG 1976, unter: https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav#__elibrary__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.keuschheit%27%5D__1531323687194 [letzter Zugriff 11.07.2018].

[25]   Siehe HWPh online unter: https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav#__elibrary__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.zorn%27%5D__1531473501153 [letzter Zugriff 11.07.2018].