Der monströse Teufel in der mittelalterlichen Hagiographie

„In jedem Monster steckt der Teufel, und umgekehrt kann der Teufel selbst jedes Monster sein.“[1] Monster, gerade die menschlichen Missgebildeten, wurden in Antike und Mittelalter ontologisch oft in den Einflussbereich des Teufels bzw. einer bösen widergöttlichen Macht gestellt.[2] Die Hässlichkeit von Monstern wurde vor allem als Ausdruck ihrer Widernatürlichkeit und Sündhaftigkeit sowie als sichtbares Zeichen ihrer Distanz zu Gott interpretiert.[3] Doch umgekehrt trägt auch der Teufel in seiner Darstellung in Kunst und Literatur oft monströse Züge oder tritt in Gestalt eines Monsters auf. Seine Monstrosität ist dabei vielschichtig begründet und besteht vor allem in seiner Wandelbarkeit und Differenzlosigkeit.[4] Zudem liegt sein monströser Schrecken darin, dass er jederzeit in die Alltagswelt des Individuums einbrechen kann und als dauerhaft schlummernde Gefahr gilt.[5] Dieser Artikel thematisiert den monströsen Teufel und seinen Darstellungsmodus in der mittelhochdeutschen Literatur. Dabei werden zunächst der Teufel und seine Monstrosität in der mittelalterlichen Gesellschaft sowie in der mittelhochdeutschen Hagiographie allgemein eingeordnet. Denn es sind vor allem hagiographische Texte, in denen der Teufel einen festen Platz beansprucht und in denen Monstrosität als dessen Darstellungsmodus fungiert.[6] Im Mittelpunkt steht darauffolgend die Analyse und Interpretation der Darstellungsmodi des Teufels in der Margaretenlegende des Passionals, einer Heiligenlegendensammlung aus dem 13. Jahrhundert. Interessant ist hier vor allem die Doppelrolle des Teufels, der zunächst in Gestalt eines Drachen und ein zweites Mal in der menschlichen Gestalt eines ansehnlichen Jünglings auftritt.

Der Teufel in der mittelalterlichen Gesellschaft und Literatur

Im christlich geprägten europäischen Mittelalter galt die ständige Omnipräsenz des Teufels analog zu der Allgegenwart Gottes als selbstverständlich.[7] Die communis opinio sowohl der meisten Gelehrten als auch des Gros der Bevölkerung bestand dabei in einer Art „Pandämonismus“: Der Teufel ist potenziell überall und auf jeden Fall in allem Schlechten, für das er grundsätzlich ursächlich verantwortlich ist.[8] Damit unterscheidet sich der Platz des Teufels im mittelalterlichen Weltbild deutlich von dem der meisten „normalen“ Monster des Mittelalters: Diese sind meist in Grenzgebieten, in der Wildnis abseits der Zivilisation oder an den Rändern der Welt verortet. Sie zeichnen sich durch Grenzerfahrung und Besonderheit aus und sind der Gegenentwurf zu alltäglich, normal, gewöhnlich.[9] Der Teufel jedoch hat seinen Platz in der Lebenswelt und im Alltag der Menschen, wenn er auch dort meistens verdrängt wird. Einer der Hauptaspekte seiner Monstrosität besteht darin, dass er jederzeit plötzlich und unvermutet in die persönliche Lebenswelt jedes Individuums einbrechen kann.[10] Die Rolle Satans im christlich-mittelalterlichen Weltbild ist dabei an einigen Punkten unklar und paradox. Zum einen kann er nicht als einfache Antwort auf die Theodizee-Frage fungieren, da er nicht als ebenbürtiger Gegner Gottes aufgefasst werden darf. Zum anderen ist er einerseits Diener und andererseits eben doch Widersacher Gottes, wenn diesem auch letztlich immer unterlegen.[11] In der Literatur hat der Teufel wenig überraschend in der Hagiographie, also den geistlichen Heiligenlegenden, seinen festen Platz. Seine Hauptfunktion besteht dabei in der narrativen Inszenierung der Standfestigkeit und Gottestreue der Heiligen, da diese ihre Tugenden am deutlichsten im Umgang mit dem Teufel unter Beweis stellen können.[12] Die mittelalterliche geistliche Literatur folgt bei der Darstellung des Teufels weitestgehend bekannten Stereotypen der kirchlich ikonografischen Tradition, in der die Monstrosität des Teufels die gesamte Spannbreite der sinnlichen Wahrnehmung umfasst.[13] Die Darstellungsweise des Teufels bildet dabei ein auffallendes Komplementär zu den klassischen Darstellungsattributen der Göttlichkeit. Während diese sich u.a. durch hellstrahlende unveränderliche Schönheit und Wohlgeruch auszeichnet, ist der Teufel durch Dunkelheit, Hässlichkeit und Gestank gekennzeichnet.[14] Konstitutiv für den Teufel und Hauptmerkmal seines monströsen Schreckens ist zudem „seine amorphe Gestalt, die ihn zu immer weiteren Metamorphosen befähigt“.[15] Er kann sowohl die Gestalt von gewöhnlichen oder besonders schönen Menschen oder sogar von göttlichen Wesen als auch die von Monstren und Ungeheuern annehmen. Seine unberechenbare Wandelbarkeit macht einen großen Teil seines Bedrohungscharakters aus und ist ein distinktives Kennzeichen gegenüber unwandelbar schönem Göttlichen und Heiligen.[16] Monströs ist dabei vor allem, dass das antike Ideal der Kalokagathia nicht mehr aufgeht, nach dem Inneres und Äußeres einander entsprechend und ein schönes Äußeres auf ein gutes Inneres verweist.[17]

Die Doppelrolle des Teufels in der Margaretenlegende des Passionals

Die monströse Wandelbarkeit des Teufels zeigt sich besonders deutlich in der Margaretenlegende des Passionals, einer Legendensammlung des 13. Jahrhunderts. Die fromme Jungfrau Margarete wird im Alter von 15 Jahren von dem heidnischen Edelmann Olybrius entführt, der sie bei einem Ritt durch die Felder entdeckt hat und zur Frau nehmen will. Dafür soll Margarete jedoch dem Christentum abschwören und sich von Gott abwenden. Als die fromme Jungfrau sich weigert, wird sie mit der Aussicht auf Hinrichtung in den Kerker geworfen.[18] Eines Tages betet Margarete dann zu Gott und bittet ihn, ihr ihren wahren Feind zu offenbaren:

do bat die iuncvrowe gut
uz ires herzen demut
den guten got, den wisen
daz er ir wolde wisen
den vient, der uf sie vechte 
(P, S. 330, V. 17-21).

Gott erhört ihr Gebet und sogleich erscheint ein riesiger, furchterregender Drache in Margaretes Verlies, der sie mit einem Mal vollständig verschlingt. Margarete erkennt in diesem dämonisch semantisierten Monster sofort den Teufel, bekreuzigt sich und das Ungeheuer bricht entzwei. Der Teufel ist nun voller „schande un unere“ (P, S. 330, V. 60) und macht einen zweiten Versuch die standhafte Jungfrau für sich zu gewinnen. Diesmal kommt er in Gestalt eines ansehnlichen Jünglings und umgarnt das Mädchen mit wohlklingenden Worten. Diese aber ringt ihn ohne zu zögern mit beiden Händen zu Boden, da sie an dem Inhalt seiner Rede erneut den Satan erkennt. Daraufhin stellt sie den Teufel zur Rede, warum er der Christenheit so viel Böses antut und dieser erklärt ihr ironischerweise die für ihn demütigenden Verhältnisse seit dem Luzifersturz und der Verbannung in die Hölle. Nachdem Margarete ihre Antwort erhalten hat, lässt sie den Teufel wieder ziehen. (vgl. P, S. 326-332)

Die Legende weist zunächst einmal die typische „holzschnittartige Schematik“ frühmittelalterlicher Heiligenlegenden auf: Die Heilige steht standhaft und unerschütterlich allen Listen, Verführungen und gewaltvollen Angriffen des Teufels zum Trotz auf der Seite Gottes.[19] Dabei geht es nicht um den vielleicht schwankenden und ambivalenten innerseelischen Prozess, der eine Wendung zum Guten oder Bösen hervorbringt, sondern um die punktuelle Entscheidung für Gott oder den Teufel.[20] Interessant sind hierbei nun vor allem die Darstellungsmodi des Teufels. Dieser tritt ausdrücklich in zwei komplementären Gestalten mit differierenden Implikationen auf, die beide ihre ganz eigene teuflische Monstrosität offenbaren: Er versucht Margarete in Gestalt eines riesigen Drachens zu bezwingen und in menschlicher Gestalt eines schönen Jünglings zu verführen. Dies macht allein schon zwei Hauptaspekte des teuflischen Schreckens und der teuflischen Monstrosität aus: die amorphe Gestalt des Teufels, seine unberechenbare Wandelbarkeit.[21] Der zweite Hauptaspekt besteht darin, dass durch seine gestaltliche Wandelbarkeit und seine Fähigkeit äußerlich gewöhnliche oder gar schöne Formen anzunehmen, das antike Ideal der Kalokagathia nicht aufgeht.[22] In der Margaretenlegende wird dies beim zweiten Auftritt des Teufels deutlich: er „liez sich alda schowen/ als ein iungelinc gestalt,/ wand sin kunst ist manicvalt“ (P, S. 330, V. 66-68). Bemerkenswert ist auch, dass der Teufel als erstes nicht in Gestalt irgendeines Monsters in Erscheinung tritt, sondern als das Monster unter den Monstern: als Drache. Der Drache ist in der literarischen und kulturellen Tradition des Abendlandes von Beginn an in Analogie zu Hölle und Satan persönlich gesetzt.[23] Der Drache steht in der mittelalterlichen Hagiographie für eine „unpersönliche Präsenz des Bösen“.[24] Damit steht er im Gegensatz zu einer figuralen, personalen Imagination und Konfiguration des Teufels, hier dem Jüngling. Der Kampf mit dem Monster wird in der mittelalterlichen Hagiographie als Kampf mit dem Bösen, mit der Hölle, dem Teufel, verstanden.[25] Auffallend ist dabei die unterschiedliche Abwehr des Teufels je nach Erscheinungsform. Der Drache verschlingt Margarete sofort vollständig, körperlich hat sie also keine Chance. Gegen diese archaische Form des Bösen hilft dann nur noch die Bekreuzigung, die waffenlos exorzistisch wirkt. Das Zeichen des Kreuzes steht dabei pars pro toto für die Erlösungstat Christi.[26] Die menschliche Gestalt hingegen wird mit direkter körperlicher Gewalt überwunden und muss nach der Niederlage noch Rede und Antwort stehen. Teufel und Heilige stehen hierbei also in engem Kontakt: zunächst auf einer körperlichen dann geistigen Ebene. Ironisch ist nun hierbei, dass der Teufel das theologische Konzept der Engelschorlehre aufgreift – ausgerechnet er, der gefallene Engel, der den Aufstand gegen Gott verloren hat und mitsamt Gefolge in die Hölle verbannt wurde.[27] Damit bestätigt er den Status der Heiligen und manifestiert seine eigene Demütigung.

Fazit

Die teuflische Monstrosität besteht also zusammenfassend zum einen darin, dass dieser in der Kunst und Literatur des Mittelalters oft mit monströsen Attributen dargestellt wird oder vollständig in der Gestalt eines Monsters auftritt. Seine wahre Monstrosität, sein ultimativer Schrecken besteht jedoch in zwei Eigenschaften, die ihn von gewöhnlichen Monstern des Mittelalters eher abgrenzen. Zunächst einmal existiert der Teufel im mittelalterlichen Weltbild nicht (nur) in den Schwellenräumen, in den Randgebieten der bekannten Welt oder im Exil, sondern gerade und vor allem mitten in der Alltagswelt aller Menschen. Er kann jederzeit in das Bekannte und Alltägliche des Individuums einbrechen und ist gerade deswegen so bedrohlich. Keiner ist jemals sicher vor dem Teufel, außer er ist frommer Christ und steht stets an der Seite Gottes. Die zweite Eigenschaft, die die Monstrosität des Teufels konstituiert, besteht darin, dass er das antike Kalokagathia-Ideal ad absurdum führt, indem er jede denkbare Gestalt annehmen kann. Seine amorphe Gestalt birgt die Gefahr, dass in jedem und allem der Teufel stecken kann, sogar in dem schönsten, edelsten Körper. Dies zeigt sich auch in der Margaretenlegende des Passionals. Zunächst erscheint der Teufel in Gestalt eines Monsters und dann in Gestalt eines schönen Jünglings, womit er seine amorphe Gestalt bestätigt und das Kalokagathia-Ideal negiert.


[1]Hammer, Andreas: Ordnung durch Un-Ordnung. Der Zusammenschluss von Teufel und Monster in der mittelalterlichen Literatur. In: Geisenhanslüke, Achim/ Mein, Georg (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 221.

[2]Vgl. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2013, S. 68-70.

[3]Vgl. Haug, Walter: Der Teufel und das Böse. In: Ders. (Hg.): Strukturen als Schlüssel zur Welt: Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen: Niemeyer, 1989, S. 70.

[4]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220f.

[5]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 210f.

[6]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 209, 218.

[7]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 210f.

[8]Vgl. Dinzelbacher, Peter: Die Realität des Teufels im Mittelalter. In: Segl, Peter (Hg.): Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus maleficarium von 1487. Köln: Böhlau 1988, S. 153.

[9]Vgl. Schmitz-Emans, Monica: Monster: Eine Einführung. In: ApuZ 52 (2013). S. 11-17.

[10]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 210f.

[11]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 211-213.

[12]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 209f.

[13]Vgl. Brenk, Beate: Teufel. In: Kirschbaum, Engelbert (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Sp. 295-300.

[14]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 219 f.

[15]Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220.

[16]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220.

[17]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 225 f.

[18]Vgl. Das Passional. Eine Legendensammlung aus dem Dreizehnten Jahrhundert, hg. und mit e. Glossar versehen v. Friedrich Karl Köpke. Quedlingburg/ Leipzig: Basse 1852, S. 327; Im Folgenden zitiert unter P, alle Seiten- und Versangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

[19]Vgl. Haug: Der Teufel und das Böse, S. 70 f.

[20]Vgl. Haug: Der Teufel und das Böse, S. 71.

[21]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 220.

[22]Zum antiken Ideal der Kalokagathia vgl. Pappas, Katherine: Die hässliche Grasbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer Schurken Magier. St. Gallen 2001. S. 157-172

[23]Vgl. Joyce Tally Lionarons: The Medieval Dragon. The Nature of the Beast in Germanic Literature, Middlesex 1998, S. 17-21.

[24]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 230.

[25]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 231.

[26]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 230.

[27]Vgl. Hammer: Ordnung durch Un-Ordnung, S. 229.

Das Motiv des Drachen in der Legende des Heiligen Georg

Mit dem Passional liegt bis heute eines der umfangreichsten deutschsprachigen Werke des Mittelalters vor. Seine Entstehungszeit wird in das 13. Jahrhundert datiert, was es darüber hinaus zu einem der ältesten Legendare macht.[1] Als hauptsächliches Vorbild für das Passional, dessen Autor bislang unbekannt ist, gilt die auf Latein verfasste Legenda Aurea des Jacobus de Voragine, eines der erfolgreichsten Legendare des Mittelalters.[2] Das Passional kann somit als erste systematische Bearbeitung der Legenda Aurea gelten.[3] Insbesondere sei es vermutlich, so der aktuelle Forschungsstand, durch Mitglieder des Deutschen Ordens rezipiert und verbreitet worden; der Entstehungskontext ist jedoch noch unklar.[4] Das Passional ist in drei Büchern überliefert. Das Erste erzählt von dem Leben Marias, der Geburt Jesu und der Passionsgeschichte, das zweite beschäftigt sich dann mit Legenden der Apostel und der Erzengel. Das dritte Buch, mit dem in diesem Beitrag gearbeitet wird, führt in kalendarischer Reihenfolge 75 Heiligenlegenden an.[5] Im Passional sei, so Seidl, die Tendenz erkennbar, das „Geschehen narrativ auszuschmücken.“[6] Auch in der Legende, die hier zur Untersuchung herangezogen wird, kommt durch diese Tendenz einem speziellen Motiv mehr Aufmerksamkeit zu als in anderen Überlieferungen der gleichen Legende: dem Drachen.

Der Drache, dessen etymologischer Ursprung vermutlich nah bei dem griechischen drakon liegt, was sich als „der scharf/furchtbar Blickende“ übersetzen lässt, wird in der mittelalterlichen Literatur oft als Ungeheuer, Untier, Bestie oder ähnliches bezeichnet.[7] Verschiedene Drachenvorstellungen haben sich einander seit dem Mittelalter angenähert.[8] In der mittelalterlichen Literatur hält der Drache insbesondere als monströser Gegner mutiger Helden Einzug, so erscheint er häufig in der mittelhochdeutschen Heldenepik.[9] Auch im Kontext der Heiligenlegende taucht der Drache teilweise auf, so ist es hier ein Heiliger, bzw. eine Heilige, der/die den Drachen bekämpft.[10] Die bei weitem berühmteste Heiligenlegende, in der ein Drache und der damit verbundene Drachenkampf eine Rolle spielen, ist die Legende des Heiligen Georg.[11]

Wie wird eben dieses Drachenmotiv in der Georgslegende aus dem Passional zum Ausdruck gebracht? Um diese Frage zu beantworten, wird zunächst das Drachenbild herausgearbeitet, das die Dichtung entwirft. Anschließend soll erörtert werden, was für eine Funktion dem Drachen in dieser Heiligenlegende zukommt. Zwar gibt es noch weitere Drachenkampfdarstellungen in Heiligenlegenden, doch für diese Arbeit bleibt die Antwort begrenzt auf das Passional und seine wohl bekannteste Drachendarstellung, die in der Forschung bereits zu unterschiedlichen Interpretationen geführt hat.[12]

Der Drache in der Georgslegende

Die Legende des Heiligen Georg ist ursprünglich vermutlich um das 4. Jahrhundert in Kleinasien entstanden und berichtete zunächst ausschließlich von dem vorbildhaften Märtyrer Georg.[13] Erst sekundär soll das Drachenmotiv mit in die Legendentradition eingefügt worden sein, so ist es im Westen literarisch erst ab dem 12. Jahrhundert fassbar.[14] Insbesondere durch die Legenda Aurea soll dieser Teil der Legende Verbreitung erhalten haben. In diesen Zusammenhang wird aktuell auch die Ausgestaltung des Heiligen Georg zum Ritter eingeordnet.[15] Im Passional lässt sich die Legende in zwei Episoden aufteilen, so wird dem Märtyrerbericht die Drachenkampfpassage, welche für diesen Artikel bedeutend ist, vorangestellt.[16] Zunächst soll nun ein Blick auf die Darstellung des Drachen in dieser Passage geworfen werden.

Berichtet wird von der Hauptstadt Libyens[17], die sich in einer bedrohlichen Lage befindet: „dar quam ein wurm, ein trache / ungevuge unde starc. / von naturen was er arc / und dem lande ein schure“ (III 253, 23–27).[18] Die Rede ist von einem Drachen, bzw. einem „wurm“[19], der böser Natur ist und das Land bedroht. Dieser Drache klettert immer wieder an der Stadtmauer hoch und versetzt die Bewohner mit seinem bösartigen Blick in Angst und Schrecken (III 253, 30f.). Außerdem stößt er stinkenden, giftigen Atem aus (III 253, 33–35). Er wohnt in einem Teich, der nah der Stadt gelegen ist und schadet mit seiner Anwesenheit den Bewohnern und ihrem Vieh. Immer wenn er Hunger hat, kommt er zu der Stadt und bedroht sie mit seinem tödlichen Atem, damit sie ihm zu speisen geben (III 253, 37–51). Um größeren Schaden zu umgehen, werden dem Drachen zwei Tiere pro Tag gegeben, doch die Bewohner sind der Bedrohung seiner „vientliche[n] nature“ erneut ausgesetzt, als von dem Vieh schließlich nichts mehr übrig ist (III 254, 20–37, zit. nach 34). So wird entschieden, jeden Tag per Losverfahren einen Menschen aus der Stadt zu wählen, der dem Drachen geopfert wird (III 254, 45–55). Als das Los eines Tages auf die einzige Tochter des Königs der Stadt fällt, kommt es zu einer Reihe von Schilderungen, die für die Analyse des folgenden Abschnitts von Bedeutung sind.

Zunächst bleibt jedoch festzuhalten: Dargestellt wird der Drache in der Legende des Heiligen Georg als ein lebensbedrohlicher „wurm“, der die Menschen durch seine Bosheit in Angst versetzt. Nicht nur sein Atem ist tödlich, er bedroht die Stadt insbesondere durch seinen Hunger. Die nun herausgearbeiteten Attribute, die dem Drachen in dieser Legende zugeschrieben werden, entsprechen gängigen mittelalterlichen Mustern. Vor allem der giftige Atem, die bösen Augen und der Wohnraum am Wasser sind Elemente, die vielfach in der mittelhochdeutschen Heldenepik sowie auch teilweise in Heiligenlegenden auftauchen.[20] Im nächsten Schritt soll die Funktion des nun als durchaus typisch klassifizierten Drachen erörtert werden.

Die Funktion des Drachenmotives

Die Tatsache, dass die Tochter des Königs die einzige Thronnachfolgerin der Stadt ist, hindert die Bewohner nicht daran, sie ihrem durch das Los bestimmte Schicksal zu überlassen. So wird sie schließlich doch zu dem bösen Wesen geschickt (III 254, 63–255, 60). In diesem Moment jedoch „ein ritter quam geriten / […] / den unser herre sante“ (III 255, 67; 71). Es ist der heilige Ritter Georg, der von Gott gesandt wurde, um das durch den Drachen verursachte Leid der Bewohner zu beseitigen. Schließlich taucht der Kopf des „bosen wurmes“ aus dem Wasser hervor und Georg sieht jenen Drachen aus der Flut wandern (III 256, 71–85, zit. nach 71). Er bekreuzigt sich[21] und reitet dann in hohem Tempo auf den Drachen zu, um ihn niederzuschlagen. „Nach ritterlicher saze“ schlägt er ihn nieder und durchstößt mit voller Kraft seine Mitte (III 256, 89–97, zit. nach 95). Als der Drache dann stark verletzt zu Boden fällt, trägt Georg der Prinzessin auf, ihn mit ihrem Gürtel zu fesseln, denn er habe noch Großes mit ihm vor. Der Drache folgt ihnen „in demutiger sache, / als ein wolbedenc hunt, / deme alle erge ist unkunt“ (III 257, 24–26). In der Stadt verkündet Georg den Einwohnern dann, dass er von Gott gesandt worden sei, um das Land von dem Drachen zu befreien. Er stellt sie vor die Wahl: Er werde den Drachen töten, wenn die Einwohner sich von den „bosen abgoten“ abkehrten und sich taufen ließen (III 257, 61–63, zit. nach 63). Als die Menschen bekennen, dass sie Gottes Gebot halten und sich taufen lassen wollen, schlägt Georg den verletzten Drachen vor den Augen aller tot (III 257, 75–84).

Durch die hier dargestellte Handlung wird die Funktion des Drachenmotives in der Heiligenlegende deutlich. Das Befreiungsschema, das in dieser Legende durch die Rettung der Prinzessin Ausdruck findet, ist ein bekanntes Drachenkampfmotiv der mittelhochdeutschen Heldenepik. In dieser Legende dient es jedoch, im Gegensatz zur Heldenepik, nicht zwingend nur zur Ruhmerlangung des Ritters, sondern beinhaltet der Gattung entsprechend eine christliche Motivation.[22] Der von Gott gesandte Ritter befreit zunächst die heidnische Prinzessin, darüber hinaus aber auch die gesamte Stadt aus den Fängen des Drachen. Indem er dies tut, befreit er die Stadt von dem Bösen, welches der Drache hier allgemein unverkennbar verkörpert. Warum diese Stadt überhaupt durch einen Drachen in Not gerät, wird im Passional deutlich beantwortet:

Diz swerliche klagende we
dulten si von rechter schult,
wand die stat was gevult
mit abgoten vil genuc,
den man dienstlich opfer truc
und unsers herren vergaz;
hier von sie wol diz leit befaz. (III 254, 6–12)

Diese Verse werfen ein interessantes Licht auf das Drachenmotiv. Der Drache wird als Folge des heidnischen Glaubens und der falschen Opfer der Einwohner bezeichnet. Er wird deshalb auch durch die Opfer an ihn weder zufriedengestellt, noch besiegt. Das geschieht erst als Georg, der Gesandte Gottes, herbeigeritten kommt, um das Volk zu befreien. Der Drache wird also erst überwältigt, als das Volk sich dem christlichen Glauben zuwendet. Georg besiegt ihn, um das Volk vom heidnischen zum christlichen Glauben zu bekehren. Der Drache kann in dieser Legende folglich nicht nur als Verkörperung des Bösen oder der Strafe Gottes, sondern darüber hinaus als Allegorie für den heidnischen Unglauben der Bewohner interpretiert werden.[23]

Fazit

Der Drache wird in der Legende des Heiligen Georg als ein Wesen dargestellt, dem monströse Attribute zugeschrieben werden, die im Kontext der mittelalterlichen Literatur allgemein verbreitet waren. Während der Drache in der Heldenepik überwiegend als Gegner auftritt, der in einer Art Mutprobe besiegt werden muss, um die Prinzessin, Reichtum oder Ruhm zu erlangen[24], kommt ihm in dieser Heiligenlegende eine allegorische Funktion zu. Er fungiert zunächst als Verkörperung des Bösen, doch kommt hier eine christlich motivierte Spezifizierung des Bösen hinzu: Mit dem Bösen, Monströsen, ist in dieser Legende der falsche, teuflische Unglaube der Heiden gemeint, den es durch den christlichen Helden Georg zu besiegen und aus der Welt zu schaffen gilt. Der Drache wird also aktiv in den hagiografischen Kontext der Legende und des Passionals eingebunden.


[1]    Unter einem Legendar ist eine Sammlung von Heiligenlegenden zu verstehen. Vgl. Seidl, Stephanie: Blendendes Erzählen: narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters. Berlin [u.a.]: de Gruyter 2012, S. 41.

[2]    Hammer, Andreas: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 35.

[3]    Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 36.

[4]    Vgl. Seidl: Blendendes Erzählen, S. 46.

[5]    Ebd., S. 41.

[6]    Ebd., S. 42.

[7]     Vgl. Röhrich, Lutz: Drache, Drachenkampf, Drachentöter. In: EM 3. Berlin/New York: de Gruyter 1981, Sp. 787–820 (hier Sp. 789). Zur Etymologie dieses Wortes gibt es jedoch Meinungsverschiedenheiten, vgl. Seidl: Blendendes Erzählen, S. 51.

[8]    Ebd., Sp. 790.

[9]    Ebd., Sp. 797.

[10]   Ebd., Sp. 795.

[11]   Ebd.

[12]   Vgl. für einen Überblick der Forschung zu diesem Thema: Schwarz, Monika: Der Heilige Georg – Miles Christi und Drachentöter. Wandlungen seines literarischen Bildes in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. Köln-Sülz: Kleikamp 1972, S. 86–88.

[13]   Haubrichs, Wolfgang: Georg, Heiliger. In: TRE 12. Berlin [u.a.]: de Gruyter 1984, S. 380–385 (hier S. 380).

[14]   Haubrichs: Georg, Heiliger, S. 381; Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 370.

[15]   Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 370.

[16]   Ebd., S. 371.

[17]   Die Stadt wird im Passional, im Gegensatz zu der Legenda Aurea, nicht mit einem Namen versehen.

[18]   Es wird im Folgenden ausschließlich verwendet und zitiert nach: Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des 13. Jahrhunderts. Zum ersten Mal herausgegeben und mit einem Glossar versehen von Friedrich Karl Köpke. Quedlinburg/Leipzig: Gottfr. Basse 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen Nationalliteratur 32). Abgekürzt wird mit der Sigle „III“, es folgen Seiten- und Versangaben. Das originale „ſ“ wird in direkten Zitaten kontinuierlich durch ein „S“ ersetzt.

[19]   Vermehrt werden Drachen in der mittelhochdeutschen Literatur als wurm bezeichnet, etymologisch könnte dies noch aus dem Germanischen abgeleitet werden, wo das Wort wurm ein Sammelbegriff für Reptilien jeglicher Art war, vgl. hierfür: Röhrich: Drache, Sp. 789.

[20]   Vgl. Röhrich: Drache, Sp. 790.

[21]   Die Bekreuzigung führt in anderen Heiligenlegenden, wie bspw. in der Margaretenlegende, bereits zum Sieg über den Drachen, in der Legende des Heiligen Georg ist dafür jedoch der Kampf entscheidender. Vgl. für die Legende der Heiligen Margarete: Das Passional: Eine Legendensammlung des 13. Jahrhunderts, S. 326–332.

[22]   Seidl: Blendendes Erzählen, S. 53.

[23]   Vgl. für die Möglichkeit dieser Interpretation, sowie für weitere vertretene Ansätze: Schwarz: Der Heilige Georg, S. 86.

[24]   Vgl. Röhrich: Drache, Sp. 792–797.

Monstrosität bei Heiligen? – Die Riesenhaftigkeit des Heiligen Christophorus

In diesem Beitrag soll es um die Legende des Heiligen Christophorus gehen, welche Aspekte aufweist, die für die Thematik „Monster und Monstrosität im Mittelalter“ von Interesse sind. Bevor dies geschieht, gilt es jedoch, einen kurzen Blick auf die literarische Textgattung zu werfen, die hierbei untersucht wird: Die Heiligenlegende.
Das Ziel einer Heiligenlegende ist es, die Heiligwerdung literarisch darzustellen.[1] Der Heilige dient hier als Vorbild, da er auf seinem Weg in die Heiligkeit zum Nachahmer Christi wird. Die Menschen des Mittelalters sahen in dem Heiligen darüber hinaus einen Mittler zwischen ihnen und Gott, der durch Gebet erreicht werden konnte.[2] Heiligenlegenden sind dementsprechend stark idealisierend und meist strengen Konventionen unterworfen. Viele dieser Texte sind zudem aber von weiteren, nicht unbedingt hagiografischen Erzählmustern überlagert.[3] Diese Faktoren begründen, so Hammer, nicht unbedingt die Heiligkeit des Legendenprotagonisten, seien aber maßgeblich für seine Inszenierung.[4]

Auch die Legende des Heiligen Christophorus weist in der Form, in der sie seit dem 13. Jahrhundert in der Westkirche feststeht,[5] solche Faktoren auf, von denen einer im Folgenden untersucht werden soll. In fast allen Überlieferungen der Legende wird der Heilige vor seiner Heiligwerdung als heidnischer Riese dargestellt, der sich auf die Suche nach dem höchsten Herrn begibt, um in dessen Dienst zu treten.[6] Nach mehreren Stationen nimmt er einen Fährmannsdienst an.[7] Hier trifft er schließlich auf Christus, welcher seinen Dienst in Gestalt eines Kindes annimmt. Der Heide trägt Christus über den Fluss, Christus tauft den Riesen und es findet die Namensänderung vom Offerus zum Heiligen Christophorus statt. Es folgt die bereits seit der Antike bekannte passio des Heiligen,[8] in der er dann durch ein Martyrium in die Heiligkeit eingeht und seine Funktion als Vermittler erfüllt. Eben dieses „eigentümliche Charakteristikum“,[9] die Riesenhaftigkeit des Heiligen, soll nun thematisiert werden. Hierfür findet eine Beschäftigung mit dem mittelhochdeutschen Gedicht Christophorus A[10] statt. Wie wird die Riesenhaftigkeit des Offorus[11] in dieser Dichtung dargestellt? Was für eine Funktion kommt ihr zu? Durch das Heranziehen ausgewählter Textstellen soll eine Antwort auf diese Fragen verfasst werden.

Die Riesenhaftigkeit des Offorus

Im deutschsprachigen Raum ist die Legende des Heiligen Christophorus mehrfach überliefert. Die Gedichte unterscheiden sich im Detail durchaus stark voneinander, doch die Riesenhaftigkeit ist ein Aspekt, den sie alle anführen, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung.[12] Das in das 15. Jahrhundert datierte mittelhochdeutsche Gedicht Christophorus A, welches vermutlich die jüngste der drei überlieferten Versionen ist, behandelt die Riesenhaftigkeit des Christophorus in größerem Maße als es die anderen tun.[13] Die „Makrostruktur“ [14] der Handlung unterscheidet sich in diesem Gedicht bereits dadurch von den anderen Fassungen der Legende, dass der Suchgeschichte des heidnischen Riesen Offorus eine Geburts- und Kindheitsgeschichte vorangestellt wird. Der Fokus soll in diesem Abschnitt insbesondere auf eben diesem Teil liegen, da gerade hier viele Aspekte der Riesenhaftigkeit angeführt werden. Die Frage ist also zunächst, was für Eigenschaften dem Riesen hier zugeschrieben werden und wie diese zum Ausdruck gebracht werden.

Bereits kurz nach der Geburt des Offorus wird dieser als so groß wie ein einjähriges Kind beschrieben (A 152–55). Mit einem Jahr ist er bereits so groß wie ein 30-jähriger Mann (A 164–68). Auch über seine ausgewachsene Größe erfolgt eine ausführliche Beschreibung: Er sei folglich so groß und schwer, dass ihn kein Pferd tragen könne. Seine Größe ist so beachtlich, dass die Ritter, mit denen er sich umgibt, auf ihren Pferden mit ihren Köpfen bloß an seinen Gürtel reichen (A 214–16; 219–21). Durch Beschreibungen wie diese entsteht ein detailreiches Bild von der Größe des Riesen, doch auch seine damit einhergehende Kraft findet in diesen anfänglichen Passagen große Aufmerksamkeit. Als Sohn eines adeligen Herrn (A 47– 49) muss Offorus mit 20 Jahren eine Kampfausbildung machen, welche sich jedoch schwierig gestaltet. Den Bogen, den er benutzen soll, macht er schon beim Spannen mit einem Finger kaputt (A 189–92); die Steine wirft er so weit weg, dass keiner sie zurückholen kann (A 194–96). Die Art und Weise, auf die die Stärke des Riesen hier hervorgehoben wird, hat durchaus einen unterhaltenden Charakter. Eben diesen Charakter hat auch die nächste Eigenschaft, die hier angeführt werden soll. Mehrmals wird im Verlauf der Erzählung der Hunger des Heiden erwähnt. Wie auf seine Größe, wird auch auf den Hunger bereits früh eingegangen. Seine Bedürfnisse seien als Kind so groß, dass er trotz zehn Ammen immer noch nach mehr weinen würde (A 167f.). Kommt dem Riesen dann im Verlauf seiner späteren Suchreise Nahrung zu, wird diese sehr schnell und in großen Mengen verzehrt (A 409; 741–43).

Offorus werden zusammenfassend also geläufige Eigenschaften eines Riesen[15] zugeschrieben: die Größe, die Stärke und auch der übermäßige Hunger, der in diesem Fall einen unterhaltenden Faktor mit in die Erzählung einbringt. Die Frage, die im Folgenden behandelt werden soll, ist, was für eine Funktion dieser nun herausgearbeiteten Riesenhaftigkeit, die im Mittelalter für gewöhnlich mit negativen, monströsen Assoziationen verbunden war,[16] im Kontext einer Heiligenlegende zukommt.

Die Funktion der Riesenhaftigkeit in der Heiligenlegende

Für diesen Teil der Untersuchung lohnt es sich, zunächst einen Blick auf die Wirkung zu werfen, die Offorus‘ Erscheinung auf andere Personen hat. Der Riese kann durchaus eine angsteinflößende Wirkung auf andere haben. Hier sei das erste Zusammentreffen mit anderen Personen auf der Suchreise genannt. Nachdem Offorus den Hof seines Vaters mit der Intention, den höchsten Herrn zu finden, verlassen hat und eine längere Zeit umhergeirrt ist, trifft er auf eine Gruppe von Jägern. Als diese ihn sehen, erschrecken sie sich zutiefst, da sie noch nie einen so großen Mann gesehen haben. Ihre erste Reaktion ist es folglich, vor ihm zu fliehen (A 444–49). Einer der Jäger ist dann aus Todesfurcht doch bereit dazu, Offorus zu verraten, wer sein Herr ist (A 456–58). Auch eben dieser adelige Herr fürchtet sich zunächst vor dem Riesen, bis dieser ihm seine Intentionen darlegt (A 498f.).

Neben diesen Reaktionen auf den Riesen geht von anderen Personen Bewunderung über seine Stärke aus. Die Ritter aus dem Heer seines Vaters zum Beispiel verkünden ausdrücklich, dass sie hinter Offorus und seiner Stärke stünden (A 272–74) und vor allem der Vater selbst möchte seinem Sohn keinen urlaub (A 307) geben, weil er nicht auf die Stärke des Riesen in seinem Heer verzichten will (A 310–16). Die außergewöhnliche Erscheinung des Heiden löst also nicht nur negative Reaktionen bei seinen Mitmenschen aus, sondern kann auch als Vorteil angesehen werden. Gerade der eben erwähnten Stärke kommt in dieser Legende ohnehin eine entscheidende Funktion zu.

Sie ist der Grund, weshalb Offorus sich entscheidet, auf die Suche nach dem höchsten Herrn zu gehen. Nachdem der Vater seinen Sohn mit seinem Ritterheer vertraut gemacht hat, welches er zukünftig anleiten soll, gerät Offorus ins Denken. In einem Monolog kommt er zu der Schlussfolgerung, dass seine Stärke am Hof seines Vaters verschwendet sei (A 243–45) und erst dann entscheidet er sich dazu, eben diese Kraft dem höchsten Herrn zu leihen (A 247–50) und sich auf die Suche nach eben diesem zu begeben (A 253–55). Die Riesenhaftigkeit wird auf diesem Wege als bedeutender Aspekt mit in die Heiligenlegende eingebunden. Wie genau dies geschieht, soll abschließend erörtert werden.

Bereits die Geburt des Offorus ist eine Erhörung des Gebetes der kinderlosen, heidnischen Herrin, welches sie in ihrer Verzweiflung an die Jungfrau Maria gerichtet hat (A 110–13). Relativ früh folgt dann im Text die erste Erwähnung des Plans Gottes, den Heiden zu seinem Diener zu machen (A 178–81). Wenig später wird deutlich hervorgehoben, was genau Gottes Plan mit Offorus ist: „also het in got vberladen / mit chreften, da mit er hernach / dient got vil manigen tag.“ (A 198–200). Die übermäßige Stärke, die der Riese besitzt, ist ihm also von Gott gegeben, welcher sie für sich nutzen will.
Nachdem Offorus erkennt, dass er seine Stärke dem höchsten Herrn leihen sollte, nutzt er diese zwar zunächst für einen adeligen Herrn und dann für den Teufel, doch auch der Einsiedler, auf den er zuletzt trifft und der als Wegweiser auf dem Weg zu Christus dient,[17] bietet ihm einen Dienst an, bei dem seine Größe und seine Stärke zur Geltung kommen: Offorus nutzt diese nämlich, um Arme über einen breiten, starken Fluss zu tragen (A 829–44). In diesem Dienst kommt ihm seine Riesenhaftigkeit als Vorteil zu; so folgt ein Abschnitt, in dem beschrieben wird, wie er gleich acht Wanderer auf einmal über den Fluss trägt (A 906–11). Durch seine übermäßige Stärke, die bis zu diesem Punkt des Gedichtes stark hervorgehoben wurde, wirkt dann auch der Moment prägnanter, auf den die Legende zuläuft. Christus, der dem Riesen dann nämlich in der Form eines Kindes erscheint (ab A 955), ist die erste und einzige Person, die der Riese trotz seiner übermäßigen Stärke nicht über den Fluss tragen kann. Offorus erkennt ihn so als höchsten Herrn an, der ihn dann auch in seinen Dienst stellt und somit zu sich bekehrt und tauft (A 1095–1101). Die Riesenhaftigkeit des Offorus und insbesondere die damit zusammenhängende Stärke hat folglich eine zielgerichtete Funktion. Sie ist der Grund, weshalb der Heide sich entscheidet, nach dem höchsten Herrn zu suchen und sie ist es, die von Christus im Fluss übertroffen wird und den Riesen somit zu sich bekehrt. Die Riesenhaftigkeit des Offorus trägt also durchaus dazu bei, dass er zum Christophorus, zum bekannten Christusträger, wird (A 1106–08).

Fazit – Die Riesenhaftigkeit als Gottes Plan

Die Legende des Heiligen Christophorus wird in dem mittelhochdeutschen Gedicht Christophorus A mit dem Topos der Riesenhaftigkeit verbunden. Die Eigenschaften, die dem Heiden Offorus zugeschrieben werden, entsprechen, wie im zweiten Abschnitt dargestellt, gängigen Mustern. So ist der Riese beispielsweise häufig hungrig und der erste Eindruck auf andere ist mehrmalig ein angsteinflößender. Diese Aspekte bringen einen unterhaltenden Faktor mit in das Gedicht. Die Riesenhaftigkeit wird, wie im dritten Teil erörtert, jedoch nicht als eine negative, monströse Eigenart dargestellt. Sie wird, im Gegenteil, mit in die Hagiografie dieser Legende eingebunden. Sie fungiert demnach als ein von Gott gegebenes Merkmal, welches zu der göttlichen Vorbestimmung des Offorus beiträgt, ein Heiliger und ein Diener Christi zu werden. Die Hervorhebung der Riesenhaftigkeit in dieser Dichtung findet also nicht unbedingt nur statt, um einen unterhaltenden Aspekt mit hineinzubringen, sondern wird zielorientiert mit in die Legende des Heiligen eingebaut, indem sie als Plan Gottes inszeniert wird, welchem Offorus zu Anfang zwar unwissend folgt, der sich aber schließlich erfüllt und ihn zu dem Heiligen macht, als der er bis heute bekannt ist.


[1]    Vgl. Hammer, Andreas: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 1–3.

[2]    Vgl. ebd., S. 11f.

[3]    Vgl. ebd., S. 12.

[4]    Vgl. ebd., S. 19.

[5]    Vgl. Dörrich, Corinna: Konfigurationen des Weges in der Christophorus-Legende. In: ZfdPh 132 (2013), S. 353–382 (hier S. 355); vgl. für eine übersichtliche Darstellung der Entwicklung der Legende außerdem: Szövérffy, Joseph: Christophorus hl. Legende und Kult. In: LexMA 2. München/Zürich: Artemis 1983, Sp. 1938–1940.

[6]     Die bekanntesten Überlieferungen sind wohl die Versionen im Passional, in der Legenda Aurea sowie die drei davon unabhängigen mittelhochdeutschen Gedichte Christophorus A, B und C, vgl. für eine umfassende Darstellung die Studie von: Rosenfeld, Hans-Friedrich: Der Hl. Christophorus. Seine Verehrung und seine Legende. Eine Untersuchung zur Kultgeographie und Legendenbildung des Mittelalters. Leipzig: Harrassowitz 1937.

[7]    Diese Stationen fallen je nach Version unterschiedlich aus.

[8]    Vgl. Rosenfeld: Der Hl. Christophorus, S. 7–9.

[9]    Zit. nach Hammer: Erzählen vom Heiligen, S. 19. Nach ihm sei die Untersuchung der eigentümlichen Charakteristika von Heiligenlegenden ein wichtiger Teil der methodischen Herangehensweise an eben diese Texte.

[10]   Das Gedicht, dessen Autor unbekannt ist, wird im Folgenden verwendet und zitiert nach der edierten Fassung: Sanct Christophorus, hrsg. v. A. E. Schönbach. In: ZfdA 17 (1874), S. 85–141. Abgekürzt wird es für diese Arbeit mit der Sigle „A“.

[11]   In dem mhd. Gedicht Christophorus A wird der Riese, anders als in anderen Überlieferungen, als Offorus, nicht Offerus betitelt.

[12]   Für einen grundlegenden Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Gedichte vgl. Rosenfeld: Der Hl. Christophorus, hier insbes. Kapitel 5.

[13]   Rosenfeld, Hans-Friedrich: Christophorus. In: VL 1. Berlin/New York: de Gruyter 1978, Sp. 1230–1234 (hier Sp. 1232–33).

[14]   Zit. nach Dörrich: Konfigurationen, S. 367.

[15]   Vgl. Dörrich: Konfigurationen, S. 367.

[16]   Vgl. Antunes, Gabriela: An der Schwelle des Menschlichen. Darstellung und Funktion des Monströsen in mittelhochdeutscher Literatur. Trier: WVT 2013, S. 4–6.

[17]   Vgl. Dörrich: Konfigurationen, S. 378.