Die Beschreibung der Kleidung, die sogenannte Gewanddescriptio, einzelner Figuren spielt in der Literatur des Mittelalters eine zentrale Rolle. Der Parzival Wolframs von Eschenbach nimmt die Stellung eines der kompliziertesten, facettenreichsten und vielschichtigsten Werke der höfischen Klassik ein und weist komplexe und symbolträchtige Gewanddarstellungen auf.[1]
Cundrîe, die Gralsbotin und Vermittlerin zwischen der Grals- und Artuswelt, ist eine für die Handlung entscheidende Figur, da sie Parzival zunächst verflucht (bei Pappas Verfluchungsepisode genannt[2]) und ihn schließlich zum Gralskönig macht (bei Pappas Berufungsepisode genann[3]). Cundrîe ist rätselhaft, widersprüchlich und grotesk. Ihr monströs-hässlicher Körper und ihr anmaßendes und aggressives Verhalten in der Verfluchungsepisode stehen in starkem Kontrast zu ihrer Bildung und ihrer vornehmen, wertvollen Kleidung.
Da Kleidung im Mittelalter nicht nur zur Bedeckung des Körpers diente, also zum Schutz vor Witterung und unziemlichen Blicken, und nicht nur ästhetischen bzw. modischen Charakter hatte, sondern vielmehr etwas über den gesellschaftlichen Stand und die Gesinnung des Trägers aussagte, war es tabu, gegen die Kleiderordnung zu verstoßen. Das Gewand verfügte dementsprechend über eine soziale Dimension, die stärker ins Gewicht fiel als seine reine praktische Zweckmäßigkeit.[4] Wolfram gibt der Beschreibung von Cundrîes Kleidung viel Raum, was womöglich auf einen großen Symbolgehalt schließen lässt und im Folgenden näher betrachtet wird.
Cundrîes erster Auftritt – Verfluchnung
Cundrîe taucht im VI. Buch völlig überraschend mit ihrem Maultier auf, grüßt niemanden, beschimpft und verflucht Parzival und die anderen Angehörigen des Artushofes und reitet, ohne sich zu verabschieden, fort. Parzival sei aufgrund seines Verhaltens nicht würdig, Mitglied der Tafelrunde des König Artus zu sein. Doch vor ihrem Verschwinden zeigt sie ihre Traurigkeit und Verzweiflung:
„Cundrîe was selbe sorgens pfant.
al weinde si die hende want,
daz manec zaher den andern sluoc:
grȏz jâmer se ûz ir ougen truoc.
die maget lêrt ir triuwe
wol klagen ir herzen riuwe.
wider für den wirt si kêrte,
ir mær si dâ gemêrte.“[5]
Und weiter heißt es: „Cundrîe la surziere, diu unsüeze un doch diu fiere.“[6] Trotz ihres unangenehmen Verhaltens und ihrer körperlichen Hässlichkeit verfügt Cundrîe über Adel und triuwe. Triuwe ist in der Literatur des Mittelalters – insbesondere im Kontext höfischer Romane bzw. Ritterromane – der Sammelbegriff für gute Eigenschaften: Treue, Zuverlässigkeit, Liebe und Ehrgefühl.[7] Es ist nicht klar, warum Cundrîe sich anmaßt, Parzival zu verfluchen. Der Erzähler sagt nicht, dass der Gralskönig sie schickt. Sie handelt wahrscheinlich eigeninitiativ.[8] In Bezug auf ihren Körper wird sie beschrieben als Mädchen, das anders aussieht als andere schöne und feine Damen: Ihr langer Zopf ist schwarz und borstig wie die Rückenborsten einer Sau, die Augenbrauen sind zu Zöpfen geflochten und stehen ab, ihr Gesicht ist stark behaart. Cundrîes Gesicht, Zähne, Ohren, Haut und Hände ähneln denen wilder Tiere.[9] Durch ihre äußerliche Andersartigkeit bzw. ihre Mischung aus menschlichen und tierischen Attributen ist sie nach mittelalterlicher Weltanschauung den monströsen Lebewesen zuzuordnen.[10]
Cundrîe kommt als überaus gebildete Person daher. Sie spricht mehrere Sprachen und ist bewandert in Dialektik, Geometrie und Astronomie. Zudem bezeichnet Wolfram sie mehrfach als „Cundrîe la surziere“[11], was mit Zauberin übersetzt werden kann. Der Name Cundrîe bedeutet allerdings auch „Kundige“, „Wissende“ und „Künderin.“[12] Die Kleidung der Gralsbotin ist ausgesprochen edel, kostbar und bemerkenswert. Sie trägt einen blauen Umhang mit französischem Schnitt, darunter Seide und einen Pfauenhut mit Borte aus London, der mit golddurchwirkter Seide gefüttert ist:
„ein brûtlachen von Gent,
noch plâwer denne ein lâsûr,
het an geleit der freuden schûr:
daz was ein kappe wol gesniten
al nâch der Franzoyser siten:
drunde an ir lîb was pfelle guot.
von Lunders ein pfæwin huot,
gefurriert mit einem blîalt
(der huot was niwe, diu snuor niht alt),
der hieng ir an dem rücke.“[13]
Diese Art der Kleidung ist im Mittelalter Adligen vorbehalten.[14]
Cundrîes zweiter Auftritt – Berufung
In der Berufungsepisode im XV. Buch gibt sich Cundrîe versöhnlich und demütig. Sie wirft sich Parzival zu Füßen, bittet um Entschuldigung[15] und verkündet, dass er Herr des Grals werden soll.[16] Bezüglich ihres Äußeren, teilt Wolfram dem Leser mit, ist sie unverändert:
„si fuorte och noch den selben lîp,
den sô manc man unde wîp
sach zuo dem Plimziœle komm.
ir antlütze ir habt vernomn:
ir ougen stuonden dennoch sus,
gel als ein thopazîus,
ir zene lanc: ir munt gap schîn
als ein vîol weitîn.“[17]
Die Bildung Cundrîes wird in dieser Szene dadurch thematisiert, dass sie Französisch spricht[18] und ihr astronomisches Wissen durch die Erläuterung der Planeten kundtut.[19] Die Kleidung ist genauso herausragend schön wie in der Verfluchungsepisode. Ihr Umhang ist aus schwarzem Samt, „noch swerzer denn ein gênît.“[20] In den Umhang sind mit arabischem Gold viele Turteltauben eingewebt. Ihr Kopfputz ist hoch, strahlend weiß und mit Schleiern besetzt, die ihr Gesicht zunächst verhüllen.[21] Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass sich das Verhalten und das Gewand Cundrîes verändert haben, das Gewand insbesondere in Bezug auf die Farben und Bilder.
Farbsymbolik
Wie bereits einleitend erläutert, hat das Gewand in der Tradition des Mittelalters eine Signalwirkung bezüglich des Standes und der inneren Haltung des Trägers. Nach Raudszus illustriert die Gewandbeschreibung den Charakter einzelner Personen und deren epischen Stellenwert in der Handlung.[22] Ausschlaggebende Kriterien zur Beurteilung der Kleidung sind das Material, der Schnitt, die Bilder und die Farben. Cundrîe trägt bei ihrem ersten Auftritt einen blauen „brûtlachen“[23] aus Gent nach französischem Schnitt, was einem kostbaren Wollstoff aus der belgischen Stadt entspricht. Gent war im Mittelalter berühmt für seine Webereien.[24] Der französische Schnitt steht für modische Raffinesse, denn der französische Hof hatte im Mittelalter eine starke Vorbildfunktion.[25] Die Farbe Blau verkörpert in der Überlieferung des Mittelalters das Himmlische. Sie ist das Symbol für Treue, Dauer und Festigkeit und ist als Farbattribut in ikonographischen Darstellungen Maria, der Mutter Gottes, zuzuordnen.[26] Bei ihrem zweiten Auftritt trägt Cundrîe einen schwarzen Umhang. Schwarz hatte im Mittelalter eine polyvalente Symbolik. Schon Isidor von Sevilla widmete sich in seinen Etymologien dem Thema Kleidung und schreibt schwarzer Kleidung den Ausdruck von Trauer zu.[27] Ferner kann die Farbe auch für Wut, Beleidigung, Kränkung oder allgemein für problematische Umstände stehen[28] sowie für soziales und topographisches Außenseitertum.[29] Schwarz war als dunkelste aller Farben relativ aufwändig herzustellen und markiert in jedem Fall das Besondere. Die Kopfbedeckung Cundrîes ist hoch und weiß. Die Farbe Weiß steht für Keuschheit, für Offenbarung und das Zugeständnis von Liebe, die erste Zuneigung und deren Erwiderung.[30]
Bildsymbolik
Cundrîe trägt in der Verfluchungsszene einen Pfauenhut. Im Medieval Bestiary wird der Pfau folgendermaßen beschrieben:
„The hard flesh of the peacock represents the minds of teachers, who remain unaffected by the flames of lust. The fearful voice of the peacock is like the voice of the preacher who warns sinners of their end in hell. The ‘eyes’ on the peacock’s tail are to signify the ability of the teachers to foresee the danger we all face in the end. The raising of the peacock’s tail when it is praised should remind us to not let pride from praise affect us, so we do not expose our ugly vanity.”[31]
Demzufolge werden dem Pfau, neben Keuschheit, die Fähigkeit zur Warnung vor Gefahren und vor den Folgen begangener Sünden zugeschrieben.
Im Buch der Natur von Conrad von Megenberg, der ersten mittelalterlichen Enzyklopädie in deutscher Sprache, heißt es weiter, der Pfau sei von sich eingenommen. Zudem ist das Tier Sinnbild frommer Prälaten, die sich durch geistliche Würde und fromme Werke auszeichnen. Ergänzend zur Bildsymbolik wird auf die Farbsymbolik eingegangen: „Die Pfauen haben saphirblaue Brüste und Hälse, das Sinnbild festen Glaubens und der Beständigkeit, da sie eine rechte Himmelsfarbe ist.“[32]
Bei ihrem zweiten Auftritt sind Turteltauben, das Wahrzeichen des Grals, in Cundrîes prächtigen Umhang eingewebt. Die Turteltaube wird in der Enzyklopädie Isidors beschrieben als scheuer Vogel, der den Menschen aus dem Weg geht.[33] Conrad von Megenberg bezeichnet die Turteltaube als keusch und schamhaft. Sie ist treu und geduldig, rein und bieder. Durch das Blut des rechten Flügels der Turteltaube können kranke Augen geheilt werden, denn die Kranken erkennen mittels des eingeriebenen Blutes ihre Sünde und ihr unsittliches Wesen.[34]
Fazit
Die Gewänder Cundrîes verleihen ihr einen besonderen Status, da sie sich durch Auffälligkeit, Kostbarkeit und einen hohen Symbolgehalt auszeichnen. Das Blau ihres Capes und ihres Pfauenhutes ist Sinnbild ihrer absoluten Treue gegenüber der Gralsgesellschaft. Durch den Vergleich mit der Farbe Marias wird die Keuschheit und Reinheit der Gralsbotin deutlich, der trotz ihres schlechten Benehmens in der Verfluchungsepisode Jungfräulichkeit[35] und triuwe[36] zugeschrieben werden. Der Pfau steht für ein weises, vorausschauendes Wesen, was Cundrîes Vorwürfe gegenüber Parzival und der Artusgesellschaft erklärt. Der Pfauenhut hat jedoch auch eine negative Konnotation, denn der Pfau ist von sich eingenommen. Dieses Attribut spiegelt Cundrîes superbia – Hochmut – in der Verfluchungsepisode wider, da sie nicht auf Anweisung des Gralskönigs, sondern wie es scheint, eigenmächtig handelt.[37] Der schwarze Umhang in der Berufungsepisode steht für die Reue und die Demut Cundrîes. Nachdem sich Parzival nun grundlegend gewandelt und für die Rolle des Gralskönigs qualifiziert hat, entschuldigt sie sich für ihr schlechtes Benehmen bei ihrer ersten Begegnung, was durch die Farbsemantik verstärkt wird. Ihr weißer Kopfputz unterstreicht abermals ihre jungfräuliche Keuschheit und ihre Liebe zur Gralsgesellschaft. Das Bild der Turteltauben auf ihrem Umhang ist einerseits Ausdruck für die isolierte Stellung der Gralsgesellschaft, andererseits für die unbedingte Integrität Cundrîes. Das Blut der Turteltaube, das Kranke und Verblendete heilt, steht für die vorausschauende Kompetenz der Botin. Durch ihren Gesinnungswandel in der Berufungsepisode wird klar, das Cundrîe zwar äußerlich, d. h. körperlich, hässlich, aber innerlich schön ist. Das widerspricht der höfischen, mittelalterlichen Auffassung, dass äußere Hässlichkeit mit innerer Hässlichkeit einhergeht.[38] Die Gewänder der Gralsbotin verstärken ihr schönes Inneres. Sie symbolisieren jederzeit den hohen Stand der Cundrîe als Mitglied der Gralsgesellschaft und ihre Gesinnung als kompromisslos treue Person voller triuwe.
[1] Vgl. Raudszus, Gabriele: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. Hildesheim: Georg Olms 1985, S. 100.
[2] Vgl. Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 158.
[3] Vgl. ebd., S. 167.
[4] Vgl. Keupp, Jan: Mode im Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, S. 11.
[5] Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2003: 318, 5-12.
[6] PZ: 319, 1-2.
[7] Hennnig, Beate: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 324-325.
[8] Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler 2004, S. 76.
[9] Vgl. PZ 313, 13-30; 314, 1-10.
[10] Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 17-18.
[11] PZ: 312, 26; 319, 1, 19.
[12] Vgl. Bräuer, Rolf: Die arthurische Dämonologie. Umdeutung eines archaischen Mythos zu einem mythischen Teilsystem ritterlich-höfischer Utopie. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. Mittelaltermythen Band 2. St. Gallen: UVK 1999, S. 85.
[13] PZ 313 4-13.
[14] Vgl. Oster, Carolin: Die Farben höfischer Körper. Farbattribuierung und höfische Identität in mittelhochdeutschen Artus- und Tristanromanen. Berlin: De Gruyter 2014, S. 63.
[15] Vgl. PZ: 779, 22-26.
[16] Vgl. PZ: 781, 16.
[17] PZ: 780, 15-22.
[18] PZ 779, 11.
[19] PZ: 786, 1-21.
[20] PZ: 778, 20.
[21] PZ: 778, 21-30.
[22] Vgl. Raudszus, S. 138.
[23] PZ: 313, 4.
[24] Vgl. Martin, Ernst (Hg.): Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Zweiter Teil: Kommentar. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 266.
[25] Vgl. Raudszus, S. 127.
[26] Vgl. Raudszus, S. 128.
[27] Vgl. Müller, Mechthild / Babin, Malte-Ludolf / Riecke, Jörg (Hg.): Das Thema Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Summarium Heinrici 1. Berlin: De Gruyter 2013, S. 356.
[28] Vgl. Oster, S. 67.
[29] Vgl. ebd., S. 245.
[30] Vgl. ebd., S. 67.
[31] The Medieval Bestiary. Animals in the Middle Ages. Stichwort: peacock. Unter: http://bestiary.ca/beasts/beastalphashort.htm [gesehen am 01.07.2018].
[32] Conrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Greifswald: Julius Abel 1897, S. 177.
[33] Isidor von Sevilla: Etymologiae. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008, S. 485.
[34] Vgl. Conrad von Megenberg, S. 187-188.
[35] PZ: 312, 6.
[36] PZ: 318, 9.
[37] Vgl. Pappas, S. 169.
[38] Vgl. Bumke, S. 76-77.