Unschuldig schuldig oder warum ist Cundrîe so hässlich?

Die Gralsbotin Cundrîe spielt eine entscheidende Rolle im Parzival Wolframs von Eschenbach: Aufgrund seiner Verfehlungen verflucht sie Parzival zunächst[1] und beruft ihn nach seiner Wandlung zum Gralskönig.[2] Cundrîe besticht durch ihre unbedingte triuwe gegenüber der Gralsgesellschaft,[3] für die sie Parzival und den anderen Mitgliedern der Tafelrunde sehr couragiert gegenübertritt und auf deren Fehlverhalten aufmerksam macht.[4] Cundrîe ist zudem äußert gebildet und weise.[5] Ihr Gewand ist kostbar und symbolträchtig.[6] Ihre Integrität und Kleidung kontrastieren stark mit ihrer körperlichen Hässlichkeit. Doch die Gralsbotin ist mehr als hässlich, sie ist monströs verunstaltet. Cundrîes Haare gleichen den Rückenborsten einer Sau, ihr Mund einer Hundeschnauze, ihre Zähne Eberzähnen, ihre Ohren Bärenohren, ihre Hände Affenhänden und ihre Fingernägel Löwenkrallen. Ihre Augenbrauen sind übermäßig lang und geflochten, ihr Gesicht stark behaart.[7] Durch das prinzipiell menschliche Aussehen, das mit tierischen Attributen gepaart ist, ist Cundrîe nach mittelalterlichem Weltbild in die Kategorie der Monster einzuordnen.[8] Zu den Elementen des Monströsen im äußeren Erscheinungsbild siehe den Artikel „Die Figur der Cundrîe zwischen Monster und Verführerin“ von J. Kühn.

Bemerkenswert ist, dass sich Cundrîe ihrer Monstrosität bewusst ist:
„ich dunke iuch ungehiure, und bin gehiurer doch dann ir.“[9]

Mit dieser Aussage betont sie ihr Selbstbewusstsein und ihren Mut trotz Hässlichkeit. Die höfische Gesellschaft im Mittelalter ging davon aus, dass ein äußerlich hässlicher Mensch auch innerlich hässlich ist, also über einen schlechten Charakter verfügt und vice versa. Durch diese Widersprüchlichkeit bei Cundrîe wird diese Kongruenz von äußerer und innerer Schönheit bzw. Hässlichkeit hinterfragt.[10] Zur Schönheit und Hässlichkeit im Mittelalter siehe den Artikel „Der Mensch als Monster im Mittelalter. Wann galt ein Mensch als monströs?“ von N. Dobers.

Doch warum ist Cundrîe so hässlich? Dieser Beitrag möchte die Frage untersuchen, warum die Gralsbotin in Bezug auf ihr Äußeres so monströs dargestellt wird und auf welchen Quellen die Begründung für ihre Verunstaltung beruht. Wolfram von Eschenbach legt die Antwort Cundrîes Bruder Malcrêatiure, der ebenso monströs wie seine Schwester aussieht, in den Mund:

Unser vater Adâm,
die kunst er von gote nam,
er gap allen dingen namn,
beidiu wilden unde zamn:
er rekant ouch ieslîches art,
dar zuo der sterne umbevart,
der siben plânêten,
waz die krefte hêten:
er rekant ouch aller würze maht,
und waz ieslîcher was geslaht.
dô sîniu kint der jâre kraft
gewunnen, daz si berhaft
wurden menneschlîcher fruht,
er widerriet in ungenuht.
swâ sîner tohter keiniu truoc,
vil dicke er des gein in gewuoc,
den rât er selten gein in liez,
vil würze er se mîden hiez
die menschen fruht verkêrten
unt sîn geslähte unêrten,
‘anders denne got uns maz,
dô er ze werke übr mich gesaz,‘
sprach er. ‘mîniu lieben kint,
nu sît an sælekeit niht blint.‘
diu wîp tâten et als wîp:
etslîcher riet ir brœder lîp
daz si diu werc volbrâhte,
des ir herzen gir gedâhte.
sus wart verkêrt diu mennischeit:
daz was iedoch Adâme leit,
doch engezwîvelt nie sîn wille.“[11]

Cundrîe und Malcrêatiure sind demzufolge Nachfahren Adams und Evas. Ihre Mutter war eine jener ungehorsamen Töchter, die sich nicht an die Mahnung ihres Vaters Adam hielten und während der Schwangerschaft Kräuter aßen, die zu monströsen Verunstaltungen bei den Kindern führten. Sie waren gierig und begingen wie Eva eine Sünde, weil sie ihre Gier nicht im Griff hatten. Es handelt sich um eine Art „zweiten Sündenfall.“[12] Um nachvollziehen zu können, warum Cundrîes Makel auf eine Sünde im biblischen Sinne zurückzuführen ist, wird im Folgenden das Menschenbild im Mittelalter angerissen.

Der Mensch des Mittelalters war über die Maßen fromm. Das Christentum erlebte in dieser Zeit einen epochalen Aufstieg.[13] Die Religion durchdrang durch alle Stände hinweg sämtliche Lebensbereiche. Der Mensch definierte sich quasi ausschließlich durch seine Religiosität und orientierte sich an den Aussagen und Schriften der Theologie, allen voran der Bibel.[14] Die Bibel galt als höchste Autorität auf intellektueller und geistiger Ebene; treuer Gehorsam war Gesetz.[15]

Die Besessenheit vom Gedanken an die Sünde war charakteristisch für den mittelalterlichen Menschen. Ziel des Menschen war es, keine Sünde zu begehen, d. h. sich nicht dem Teufel hinzugeben, indem man Lastern unterliegt. Diese Laster konkretisierten sich in Form der sieben Todsünden Hochmut, Habsucht, Gier, Wollust, Wut, Neid und Faulheit.[16]

Lucidarius und Wiener Genesis als Quellen Wolframs

Ausgangspunkt für die theologischen, literarischen und künstlerischen Bearbeitungen des Themas Sündenfall waren biblische Berichte über die Erschaffung und den Sündenfall der ersten Menschen, die ca. im Jahr 950 v. Chr. verfasst wurden. Hierauf aufbauend entstanden im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Genesis-Berichte.[17]

Der deutsche Lucidarius ist eine im 12. Jahrhundert entstandene mittelhochdeutsche Enzyklopädie anonymen Autors, die das damalige theologische und naturwissenschaftliche Wissen zusammenfasste.[18] Im Lucidarius ist wie im Parzival Wolframs explizit von Adams Töchtern die Rede:

Adam waʒ der wiʃeʃte man, der ie geborn wart. Do er uʒ dem paradiʃo cam, do ercander die wurʒen alle, die der nature warunt, ʃwel wib die eʒe, daʒ die geburt dauon verwandelt wurde. Do warnete er ʃine dothere, daʒ ʃi der wurʒe nith eʒen. Do gewunnen die wip fúrwiʒ, wie eʒ umbe die wurʒe ʃtuͤnde, vnde aʒent alle die wurʒen, die in ir uatir hete verboten. Die kint, die do uon den wiben wurden geborn, die uerwandeltin ʃich nach den wurʒen vnde miʃʃerietent alʃe ich vor geʃeit han.[19]

Die Enzyklopädie beantwortet somit die Frage nach dem Warum der Hässlichkeit mit der Abstammung von den Töchtern Adams, die durch den Verzehr der Kräuter Sünderinnen wurden und missgebildete Kinder gebaren.[20]

Eine weitere Quelle Wolframs ist die aus dem 11. Jahrhundert stammende Wiener Genesis, deren Autor ebenfalls unbekannt ist.[21] Die Wiener Genesis ist eine von drei Handschriften, die die so genannte Frühmittelhochdeutsche Genesis überliefert. Diese beruht auf der biblischen Genesis und hat die Erschaffung der Welt, den Sündenfall, die Geschichte von Kain und Abel, Abraham, Isaak und dessen Söhne bis zum ägyptischen Joseph zum Inhalt. Teilweise folgt die Erzählung der Wiener Genesis der Bibel, teilweise tauchen paraphrasierende Übersetzungen, gekürzte und ausführliche Beschreibungen und allegorische Deutungen auf.[22]

So handelt es sich bei den Sünderinnen in der Wiener Genesis nicht um die Töchter Adams, sondern um die Töchter Kains, des ersten Mörders in der Menschheitsgeschichte. Die sündhaften Töchter ignorieren die Warnungen ihres Großvaters Adam:

er [Kain] lerte siniu chint die zŏber die hiute sint. dů wurten die scuzlinge glich deme stamme: ubel wůcher si paren, dem tiuele uageten. Adam hiez si miden wurze, daz si inen newurren an ir geburte. sîn gebot si uerchurn, ir geburt si flurn.[23]

Trotz der thematischen Übereinstimmung zwischen Wiener Genesis und Parzival mit Blick auf den verbotenen Verzehr der Kräuter bevorzugt Nellmann den Lucidarius als Quelle Wolframs, weil der Text in der Wiener Genesis Cundrîe zum Nachkommen des ersten Mörders auf der Erde überhaupt und Brudermörders macht, was inakzeptabel wäre.[24] Denn die Verwandtschaft mit einem Menschen, der moralisch gesehen derart verwerflich handelt, würde einen Schatten auf Cundrîes Integrität werfen und sie als Mitglied der Gralsgesellschaft womöglich unglaubwürdig machen.

Schlussbetrachtung

Der Mensch des Mittelalters war in höchstem Maße religiös und lebte nach der Bibel bzw. nach ihren Versionen und Auslegungen. Irritierende Phänomene wie körperliche Verunstaltungen bei Menschen wurden nicht nach naturwissenschaftlichen, sondern nach biblischen Maßstäben erklärt. Demzufolge wird das hässlich-monströse Äußere der Gralsbotin Cundrîe mit dem Sündenfall der Nachkommen Adams und Evas erklärt. Cundrîes und Malcrêatiures Hässlichkeit ist eine Sichtbarmachung der Ursünde. Sie haben keine Sünde begangen, haben lediglich die Sünde ihrer Vorfahren geerbt und sich dadurch schuldig gemacht. In gewisser Weise sind sie unschuldig schuldig.[25]

Diese Art der Erklärung bei Wolfram von Eschenbach ist kein Einzelfall in der Literatur des Mittelalters. In der altenglischen Dichtung Beowulf, dem ältesten vollständig erhaltenen germanischen Heldenepos,[26] wird das Monster Grendel in das Geschlecht Kains eingereiht. Durch den Mord an seinem Bruder Abel verbannte Gott Kain aus dem Menschengeschlecht. Grendel ist ein Monster, weil er von Kain abstammt.

Biblische Berichte wurden im Mittelalter als Erklärung für unverständliche, von der Norm abweichende Erscheinungen herangezogen. Aufgrund der strengen Gläubigkeit der Menschen und der Anerkennung der Bibel als höchste theologische Instanz waren diese Erklärungen für den Menschen des Mittelalters plausibel und unantastbar.[27]


[1] Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2003: 316.

[2] Vgl. PZ: 781.

[3] Vgl. ebd.: 318, 5-12.

[4] Vgl. ebd.: 314, 29-30; 315, 7-9.

[5] Vgl. ebd.: 312, 19-27; 322, 13-30.

[6] Vgl. ebd.: 313, 1-13; 782, 14-30.

[7] Vgl. ebd.: 313, 17-30; 314: 1-10.

[8] Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 17-18.

[9] PZ: 315, 24-25.

[10] Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler 2004, S. 76f.

[11] PZ: 518, 1-30; 519, 1.

[12] Vgl. Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 166.

[13] Vgl. Le Goff, Jacques (Hg.): Der Mensch des Mittelalters. Frankfurt/Main: Magnus 2004, S. 8.

[14] Vgl. Le Goff, S. 10.

[15] Vgl. ebd., S. 44.

[16] Vgl. ebd., S. 36.

[17] Vgl. Hubrath, Margarete: Eva. Der Sündenfall und seine Folgen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 243.

[18] Vgl. Gottschall, Dagmar / Steer, Georg (Hg.): Der deutsche ‚Lucidarius‘. Band 1. Kritischer Text nach den Handschriften. Tübingen: Max Niemeyer 1994, S 25.

[19] Gottschall / Steer (Hg.), S. 25, 4-11.

[20] Vgl. Nellmann, Eberhard: Der ‚Lucidarius‘ als Quelle Wolframs. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 122. Band (2003), S. 54-55.

[21] Vgl. Hamano, Akihiro: Die frühmittelhochdeutsche Genesis. Synoptische Ausgabe nach der Wiener, Millstätter und Vorauer Handschrift. Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. XIX.

[22] Vgl. ebd., S. XI-XII.

[23] Ebd., S. 120, 1282-1291.

[24] Vgl. Nellmann, S. 55.

[25] Vgl. Pappas, S. 166.

[26] Vgl. Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Stuttgart: Reclam 2004,  S. 3.

[27] Vgl. Le Goff (Hg.), S 44.

Kleider machen Leute – Die Symbolik der Kleidung Cundrîes in Wolframs von Eschenbach Parzival

Die Beschreibung der Kleidung, die sogenannte Gewanddescriptio, einzelner Figuren spielt in der Literatur des Mittelalters eine zentrale Rolle. Der Parzival Wolframs von Eschenbach nimmt die Stellung eines der kompliziertesten, facettenreichsten und vielschichtigsten Werke der höfischen Klassik ein und weist komplexe und symbolträchtige Gewanddarstellungen auf.[1]

Cundrîe, die Gralsbotin und Vermittlerin zwischen der Grals- und Artuswelt, ist eine für die Handlung entscheidende Figur, da sie Parzival zunächst verflucht (bei Pappas Verfluchungsepisode genannt[2]) und ihn schließlich zum Gralskönig macht (bei Pappas Berufungsepisode genann[3]). Cundrîe ist rätselhaft, widersprüchlich und grotesk. Ihr monströs-hässlicher Körper und ihr anmaßendes und aggressives Verhalten in der Verfluchungsepisode stehen in starkem Kontrast zu ihrer Bildung und ihrer vornehmen, wertvollen Kleidung.

Da Kleidung im Mittelalter nicht nur zur Bedeckung des Körpers diente, also zum Schutz vor Witterung und unziemlichen Blicken, und nicht nur ästhetischen bzw. modischen Charakter hatte, sondern vielmehr etwas über den gesellschaftlichen Stand und die Gesinnung des Trägers aussagte, war es tabu, gegen die Kleiderordnung zu verstoßen. Das Gewand verfügte dementsprechend über eine soziale Dimension, die stärker ins Gewicht fiel als seine reine praktische Zweckmäßigkeit.[4] Wolfram gibt der Beschreibung von Cundrîes Kleidung viel Raum, was womöglich auf einen großen Symbolgehalt schließen lässt und im Folgenden näher betrachtet wird.

Cundrîes erster Auftritt – Verfluchnung

Cundrîe taucht im VI. Buch völlig überraschend mit ihrem Maultier auf, grüßt niemanden, beschimpft und verflucht Parzival und die anderen Angehörigen des Artushofes und reitet, ohne sich zu verabschieden, fort. Parzival sei aufgrund seines Verhaltens nicht würdig, Mitglied der Tafelrunde des König Artus zu sein. Doch vor ihrem Verschwinden zeigt sie ihre Traurigkeit und Verzweiflung:

„Cundrîe was selbe sorgens pfant.
al weinde si die hende want,
daz manec zaher den andern sluoc:
grȏz jâmer se ûz ir ougen truoc.
die maget lêrt ir triuwe
wol klagen ir herzen riuwe.
wider für den wirt si kêrte,
ir mær si dâ gemêrte.“[5]

Und weiter heißt es: „Cundrîe la surziere, diu unsüeze un doch diu fiere.“[6] Trotz ihres unangenehmen Verhaltens und ihrer körperlichen Hässlichkeit verfügt Cundrîe über Adel und triuwe. Triuwe ist in der Literatur des Mittelalters – insbesondere im Kontext höfischer Romane bzw. Ritterromane – der Sammelbegriff für gute Eigenschaften: Treue, Zuverlässigkeit, Liebe und Ehrgefühl.[7] Es ist nicht klar, warum Cundrîe sich anmaßt, Parzival zu verfluchen. Der Erzähler sagt nicht, dass der Gralskönig sie schickt. Sie handelt wahrscheinlich eigeninitiativ.[8] In Bezug auf ihren Körper wird sie beschrieben als Mädchen, das anders aussieht als andere schöne und feine Damen: Ihr langer Zopf ist schwarz und borstig wie die Rückenborsten einer Sau, die Augenbrauen sind zu Zöpfen geflochten und stehen ab, ihr Gesicht ist stark behaart. Cundrîes Gesicht, Zähne, Ohren, Haut und Hände ähneln denen wilder Tiere.[9] Durch ihre äußerliche Andersartigkeit bzw. ihre Mischung aus menschlichen und tierischen Attributen ist sie nach mittelalterlicher Weltanschauung den monströsen Lebewesen zuzuordnen.[10]

Cundrîe kommt als überaus gebildete Person daher. Sie spricht mehrere Sprachen und ist bewandert in Dialektik, Geometrie und Astronomie. Zudem bezeichnet Wolfram sie mehrfach als „Cundrîe la surziere“[11], was mit Zauberin übersetzt werden kann. Der Name Cundrîe bedeutet allerdings auch „Kundige“, „Wissende“ und „Künderin.“[12] Die Kleidung der Gralsbotin ist ausgesprochen edel, kostbar und bemerkenswert. Sie trägt einen blauen Umhang mit französischem Schnitt, darunter Seide und einen Pfauenhut mit Borte aus London, der mit golddurchwirkter Seide gefüttert ist:

„ein brûtlachen von Gent,
noch plâwer denne ein lâsûr,
het an geleit der freuden schûr:
daz was ein kappe wol gesniten
al nâch der Franzoyser siten:
drunde an ir lîb was pfelle guot.
von Lunders ein pfæwin huot,
gefurriert mit einem blîalt
(der huot was niwe, diu snuor niht alt),
der hieng ir an dem rücke.“[13]

Diese Art der Kleidung ist im Mittelalter Adligen vorbehalten.[14]

Cundrîes zweiter Auftritt – Berufung

In der Berufungsepisode im XV. Buch gibt sich Cundrîe versöhnlich und demütig. Sie wirft sich Parzival zu Füßen, bittet um Entschuldigung[15] und verkündet, dass er Herr des Grals werden soll.[16] Bezüglich ihres Äußeren, teilt Wolfram dem Leser mit, ist sie unverändert:

„si fuorte och noch den selben lîp,
den sô manc man unde wîp
sach zuo dem Plimziœle komm.
ir antlütze ir habt vernomn:
ir ougen stuonden dennoch sus,
gel als ein thopazîus,
ir zene lanc: ir munt gap schîn
als ein vîol weitîn.“[17]

Die Bildung Cundrîes wird in dieser Szene dadurch thematisiert, dass sie Französisch spricht[18] und ihr astronomisches Wissen durch die Erläuterung der Planeten kundtut.[19] Die Kleidung ist genauso herausragend schön wie in der Verfluchungsepisode. Ihr Umhang ist aus schwarzem Samt, „noch swerzer denn ein gênît.“[20] In den Umhang sind mit arabischem Gold viele Turteltauben eingewebt. Ihr Kopfputz ist hoch, strahlend weiß und mit Schleiern besetzt, die ihr Gesicht zunächst verhüllen.[21] Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass sich das Verhalten und das Gewand Cundrîes verändert haben, das Gewand insbesondere in Bezug auf die Farben und Bilder.

Farbsymbolik

Wie bereits einleitend erläutert, hat das Gewand in der Tradition des Mittelalters eine Signalwirkung bezüglich des Standes und der inneren Haltung des Trägers. Nach Raudszus illustriert die Gewandbeschreibung den Charakter einzelner Personen und deren epischen Stellenwert in der Handlung.[22] Ausschlaggebende Kriterien zur Beurteilung der Kleidung sind das Material, der Schnitt, die Bilder und die Farben. Cundrîe trägt bei ihrem ersten Auftritt einen blauen „brûtlachen“[23] aus Gent nach französischem Schnitt, was einem kostbaren Wollstoff aus der belgischen Stadt entspricht. Gent war im Mittelalter berühmt für seine Webereien.[24] Der französische Schnitt steht für modische Raffinesse, denn der französische Hof hatte im Mittelalter eine starke Vorbildfunktion.[25] Die Farbe Blau verkörpert in der Überlieferung des Mittelalters das Himmlische. Sie ist das Symbol für Treue, Dauer und Festigkeit und ist als Farbattribut in ikonographischen Darstellungen Maria, der Mutter Gottes, zuzuordnen.[26] Bei ihrem zweiten Auftritt trägt Cundrîe einen schwarzen Umhang. Schwarz hatte im Mittelalter eine polyvalente Symbolik. Schon Isidor von Sevilla widmete sich in seinen Etymologien dem Thema Kleidung und schreibt schwarzer Kleidung den Ausdruck von Trauer zu.[27] Ferner kann die Farbe auch für Wut, Beleidigung, Kränkung oder allgemein für problematische Umstände stehen[28] sowie für soziales und topographisches Außenseitertum.[29] Schwarz war als dunkelste aller Farben relativ aufwändig herzustellen und markiert in jedem Fall das Besondere. Die Kopfbedeckung Cundrîes ist hoch und weiß. Die Farbe Weiß steht für Keuschheit, für Offenbarung und das Zugeständnis von Liebe, die erste Zuneigung und deren Erwiderung.[30]

Bildsymbolik

Cundrîe trägt in der Verfluchungsszene einen Pfauenhut. Im Medieval Bestiary wird der Pfau folgendermaßen beschrieben:

„The hard flesh of the peacock represents the minds of teachers, who remain unaffected by the flames of lust. The fearful voice of the peacock is like the voice of the preacher who warns sinners of their end in hell. The ‘eyes’ on the peacock’s tail are to signify the ability of the teachers to foresee the danger we all face in the end. The raising of the peacock’s tail when it is praised should remind us to not let pride from praise affect us, so we do not expose our ugly vanity.”[31]

Demzufolge werden dem Pfau, neben Keuschheit, die Fähigkeit zur Warnung vor Gefahren und vor den Folgen begangener Sünden zugeschrieben.

Im Buch der Natur von Conrad von Megenberg, der ersten mittelalterlichen Enzyklopädie in deutscher Sprache, heißt es weiter, der Pfau sei von sich eingenommen. Zudem ist das Tier Sinnbild frommer Prälaten, die sich durch geistliche Würde und fromme Werke auszeichnen. Ergänzend zur Bildsymbolik wird auf die Farbsymbolik eingegangen: „Die Pfauen haben saphirblaue Brüste und Hälse, das Sinnbild festen Glaubens und der Beständigkeit, da sie eine rechte Himmelsfarbe ist.“[32]

Bei ihrem zweiten Auftritt sind Turteltauben, das Wahrzeichen des Grals, in Cundrîes prächtigen Umhang eingewebt. Die Turteltaube wird in der Enzyklopädie Isidors beschrieben als scheuer Vogel, der den Menschen aus dem Weg geht.[33] Conrad von Megenberg bezeichnet die Turteltaube als keusch und schamhaft. Sie ist treu und geduldig, rein und bieder. Durch das Blut des rechten Flügels der Turteltaube können kranke Augen geheilt werden, denn die Kranken erkennen mittels des eingeriebenen Blutes ihre Sünde und ihr unsittliches Wesen.[34]

Fazit

Die Gewänder Cundrîes verleihen ihr einen besonderen Status, da sie sich durch Auffälligkeit, Kostbarkeit und einen hohen Symbolgehalt auszeichnen. Das Blau ihres Capes und ihres Pfauenhutes ist Sinnbild ihrer absoluten Treue gegenüber der Gralsgesellschaft. Durch den Vergleich mit der Farbe Marias wird die Keuschheit und Reinheit der Gralsbotin deutlich, der trotz ihres schlechten Benehmens in der Verfluchungsepisode Jungfräulichkeit[35] und triuwe[36] zugeschrieben werden. Der Pfau steht für ein weises, vorausschauendes Wesen, was Cundrîes Vorwürfe gegenüber Parzival und der Artusgesellschaft erklärt. Der Pfauenhut hat jedoch auch eine negative Konnotation, denn der Pfau ist von sich eingenommen. Dieses Attribut spiegelt Cundrîes superbiaHochmut in der Verfluchungsepisode wider, da sie nicht auf Anweisung des Gralskönigs, sondern wie es scheint, eigenmächtig handelt.[37] Der schwarze Umhang in der Berufungsepisode steht für die Reue und die Demut Cundrîes. Nachdem sich Parzival nun grundlegend gewandelt und für die Rolle des Gralskönigs qualifiziert hat, entschuldigt sie sich für ihr schlechtes Benehmen bei ihrer ersten Begegnung, was durch die Farbsemantik verstärkt wird. Ihr weißer Kopfputz unterstreicht abermals ihre jungfräuliche Keuschheit und ihre Liebe zur Gralsgesellschaft. Das Bild der Turteltauben auf ihrem Umhang ist einerseits Ausdruck für die isolierte Stellung der Gralsgesellschaft, andererseits für die unbedingte Integrität Cundrîes. Das Blut der Turteltaube, das Kranke und Verblendete heilt, steht für die vorausschauende Kompetenz der Botin. Durch ihren Gesinnungswandel in der Berufungsepisode wird klar, das Cundrîe zwar äußerlich, d. h. körperlich, hässlich, aber innerlich schön ist. Das widerspricht der höfischen, mittelalterlichen Auffassung, dass äußere Hässlichkeit mit innerer Hässlichkeit einhergeht.[38] Die Gewänder der Gralsbotin verstärken ihr schönes Inneres. Sie symbolisieren jederzeit den hohen Stand der Cundrîe als Mitglied der Gralsgesellschaft und ihre Gesinnung als kompromisslos treue Person voller triuwe.


[1] Vgl. Raudszus, Gabriele: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. Hildesheim: Georg Olms 1985, S. 100.

[2] Vgl. Pappas, Katherine: Die häßliche Gralsbotin Cundry. Über Verhüllung und Enthüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Verführer, Schurken, Magier. Mittelaltermythen Band 3. St. Gallen: UVK 2001, S. 158.

[3] Vgl. ebd., S. 167.

[4] Vgl. Keupp, Jan: Mode im Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, S. 11.

[5] Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Berlin: De Gruyter 2003: 318, 5-12.

[6] PZ: 319, 1-2.

[7] Hennnig, Beate: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 324-325.

[8] Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart: Metzler 2004, S. 76.

[9] Vgl. PZ 313, 13-30; 314, 1-10.

[10] Vgl. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Köln: Böhlau 2015, S. 17-18.

[11] PZ: 312, 26; 319, 1, 19.

[12] Vgl. Bräuer, Rolf: Die arthurische Dämonologie. Umdeutung eines archaischen Mythos zu einem mythischen Teilsystem ritterlich-höfischer Utopie. In: Müller, Ulrich / Wunderlich, Werner (Hg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. Mittelaltermythen Band 2. St. Gallen: UVK 1999, S. 85.

[13] PZ 313 4-13.

[14] Vgl. Oster, Carolin: Die Farben höfischer Körper. Farbattribuierung und höfische Identität in mittelhochdeutschen Artus- und Tristanromanen. Berlin: De Gruyter 2014, S. 63.

[15] Vgl. PZ: 779, 22-26.

[16] Vgl. PZ: 781, 16.

[17] PZ: 780, 15-22.

[18] PZ 779, 11.

[19] PZ: 786, 1-21.

[20] PZ: 778, 20.

[21] PZ: 778, 21-30.

[22] Vgl. Raudszus, S. 138.

[23] PZ: 313, 4.

[24] Vgl. Martin, Ernst (Hg.): Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Zweiter Teil: Kommentar. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 266.

[25] Vgl. Raudszus, S. 127.

[26] Vgl. Raudszus, S. 128.

[27] Vgl. Müller, Mechthild / Babin, Malte-Ludolf / Riecke, Jörg (Hg.): Das Thema Kleidung in den Etymologien Isidors von Sevilla und im Summarium Heinrici 1. Berlin: De Gruyter 2013, S. 356.

[28] Vgl. Oster, S. 67.

[29] Vgl. ebd., S. 245.

[30] Vgl. ebd., S. 67.

[31] The Medieval Bestiary. Animals in the Middle Ages. Stichwort: peacock. Unter: http://bestiary.ca/beasts/beastalphashort.htm [gesehen am 01.07.2018].

[32] Conrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Greifswald: Julius Abel 1897, S. 177.

[33] Isidor von Sevilla: Etymologiae. Wiesbaden: Marix-Verlag 2008, S. 485.

[34] Vgl. Conrad von Megenberg, S. 187-188.

[35] PZ: 312, 6.

[36] PZ: 318, 9.

[37] Vgl. Pappas, S. 169.

[38] Vgl. Bumke, S. 76-77.