Der Greif – epische Darstellung und Funktion

Im Mittelalter hielt man den Greif, ähnlich wie den Drachen, für ein real existierendes Lebewesen. Der Greif, ein tierisches Mischwesen aus Löwe und Adler lebt laut mittelalterlichen Quellen meist in Indien und hütet Gold.1 Der Rumpf ist der eines Löwen, das Vorderteil entspricht dem eines Adlers. Sein Kopf ist gefiedert und er hat einen kräftigen Schnabel. Er trägt Flügel, die ihn fliegen lassen und hat vier Beine, die mal einem Löwen und mal Adlerkrallen gleichen.2 Während der Greif in der Romanik das Böse in Gestalt von Löwe, Schlange oder Basilisk abwehrt und überwindet, wird der Greif in der Literatur des Mittelalters häufig als gewalttätiges Wesen dargestellt, dass Menschen und Tiere bestialisch tötet. Isidor von Sevilla schreibt in der Etymologie

Der Greif ist ein geflügeltes Tier mit vier Beinen. Diese wilde Tierart stammt aus dem hyperboreischen Gebirge. In allen Teilen seines Körpers gleicht er dem Löwen, nur sein Kopf und seine Schwingen gleichen dem Adler. Besonders feindlich ist er den Pferden. Wenn er Menschen sieht, will er sie in Stücke reißen. 3

Hildegard von Bingen geht sogar davon aus, dass der Greif auf Grund seiner Monströsität Menschen frisst:

De natura autem bestiarum homines comedit […]. Et caro eius ad esum hominis non valet, quia si homo de carnibus illius comederet, multum inde lederetur, quoniam ille nec pleniter naturam volucrum nec pleniter naturam bestiarum in se habet, sed in utraque natura defectum habet.4

Infolge der Bestiennatur aber frisst er Menschen. […]. Und sein Fleisch taugt nicht zur Speise des Menschen, denn wenn der Mensch von seinem Fleisch äße, würde er davon großen Schaden nehmen, weil jener weder vollständig die Natur der Vögel noch vollständig die Natur der Tiere enthält, sondern in jeder Natur einen Mangel hat.5

Hildegard von Bingen ordnet den Greif in die Gattung der Bestiarien ein, da er sich auf Grund seines Aussehens nicht eindeutig einer Gattung zuschreiben lässt.

Nachfolgend wird darauf eingegangen, wie der Greif in der mittelhochdeutschen Literatur dargestellt wird und ob Ähnlichkeiten in Kontext und Funktion eines Romans zu finden sind. Dazu wird näher auf die Greifenepisoden in der Kudrun und im Herzog Ernst eingegangen.

Die Greifenepisode in der Kudrun

Das Kudrunlied ist ein anonymes strophisches Heldenepos, das vermutlich um 1230/40 im bayrisch – österreichischen Raum entstanden ist und gilt neben dem Nibelungenlied als das zweite große Heldenepos der mittelalterlichen deutschen Literatur.6 Das Epos beinhaltet allerdings auch viele Elemente des höfischen Romans; d.h. höfisch – ritterliche Motive spielen in ihm eine große Rolle, z.B. bei der Schilderung zeremonieller Handlungen am Königshof, Verabschiedung und Begrüßung.7

Der erste Teil (Aventiure 1-4) handelt von Hagen, dem Großvater der Heldin Kudrun: Der „übele tieuvel […]/ sînen boten8 in Gestalt eines Greifs, dringt dort in die höfische Welt von König Sigebant und seiner Frau Ute ein, um deren siebenjährigen Sohn Hagen auf eine Insel zu entführen und dort zu töten. Die Greifeninsel befindet sich weit weg von der zivilisierten Gesellschaft und der höfischen Ordnung. Der Greif kommt aus solcher Höhe, dass sein Gefieder Schatten wirft. Der junge Prinz Hagen steht auf einem Turnierfest abseits der Menschenmenge mit seiner unerfahrenen Betreuerin und lauscht einem Gesangsvortrag.

Ez begunde schatewen dar sîn gevidere in truoc,
als ez ein wolken waere. starc was er genuoc.
Vor ir manigen freuden si nâmens war vil kleine.
Diu maget mit dem kinde stuont vor dem hûse vil eine. 9

Dort greift sich der Greif gezielt den Prinzen und umschließt ihn mit seinen Klauen „Der grîfe lie sich nidere und beslôz daz kindelîn / in di sîne klâwe.10 Er trägt ihn mit seiner Kraft hoch empor und schwingt sich auf in die Luft bis fern zu den Wolken „er truog ez harte hôhe mit der sînen maht. / dô kêrte er gegen dem lufte zuo den wolken verre,11 Der alte Greif bringt Hagen zu seinem Nest; die jungen Greife sollen ihn mit ihren Klauen zerreißen und fressen. Hagen ist dem „wilden grîfen12 scheinbar hilflos ausgeliefert, dennoch überlebt er den Angriff mit Gottes Hilfe. Später nimmt ein junger Greif Hagen in seine Klauen und fliegt von Baum zu Baum. Da die Kraft des Greifs nachlässt, fällt der junge Prinz in den Wald und ist zunächst auf wundersame Weise aus dem Horst des Greifs gerettet. Fast verhungert begegnet er drei Königstöchtern, die früher von dem Greif geraubt wurden, in einer Höhle. Nach anfänglicher Skepsis bleibt Hagen bei ihnen und sie kümmern sich um ihn, bis er groß ist. Lange Zeit später strandet ein Schiff auf der Greifeninsel. Der herangewachsene Hagen sieht, wie der alte Greif die Schiffsmannschaft für seine Jungen tötet und frisst. Voller Zorn nimmt Hagen das Kettenhemd eines auf der Insel gestrandeten, toten Kreuzritters und herumliegende Waffen und erschlägt, trotz geringer Kampferfahrung, die Greifen. Er übt Vergeltung, für das ihm angetane Leid. Hagen bringt sich mit den gefundenen Waffen die Ritterkunst bei und kehrt anschließend in seine Heimat zurück. Dort heiratet er die älteste und schönste der drei Königstöchter.

Die Greifenepisode erhält durch die Entführung von Hagen eine besondere narrative Funktion: Hagen steht kurz davor, in die höfische Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Durch die Entführung wird die gerade angelaufene Aufnahme Hagens in die höfische Welt unterbrochen und es folgt eine Aufnahme in die heroische Sphäre auf der mythischen Greifeninsel.13 Somit schafft die Greifenepisode eine regelrechte Zäsur innerhalb des Romans. Mit diesem Szenario bricht die wilde, unzivilisierte Welt in die höfische Welt ein und schafft dort Unordnung. Die wilden Greife stehen in ihrer Darstellung für Unzivilisiertheit, Primitivität und Gottlosigkeit. Ihr Leben spielt sich außerhalb eines zivilisierten Raumes ab. 14 Durch die Kollision beider Welten werden unterschiedliche kulturelle Paradigmen betrachtet. Die Dämonisierung des Greifen und die damit stilisierte Opposition zum Christentum, der Zusammenstoß heroischer und höfischer Elemente sowie die Gegenüberstellung der zivilisierten Welt des Hofes und der wilden Insel der Greifen zeigen diese „Virulenz des Mythischen“ auf. 15 Allerdings scheint die narrative Funktion des Greifenkampfes eng mit der Heldenfigur Hagens zusammen zu hängen.

Die Greifenepisode im Herzog Ernst

Herzog Ernst ist die Titelfigur des gleichnamigen mittelalterlichen Abenteuerromans, der seinen Ursprung um 1180 hat.16 Herzog Ernst wird zunächst als Mitglied der höfischen Welt beschrieben. Durch seine Herkunft, seine standesgemäße Ausbildung und seine Tugenden entspricht er dem Ideal eines höfischen Vorbilds. Nach dem Kampf gegen die Grippianer flieht Herzog Ernst mit seinen Männern ins Lebermeer, wo sich auch der Magnetberg befindet. Dort verhungert die gesamte Mannschaft, lediglich sieben Männer überleben. Herzog Ernst muss mit ansehen, wie die Toten von den Greifen für ihre Jungvögel fortgetragen werden.

Die andern truoc ein grîfe dan
zeinzigen sô sie sturben.
die lebendigen alsô wurben:
swelhen ie der tôt nam,
den truogen die helden lobesam
ûz dem schiffe schiere.
in leiten die degen ziere
obene ûf des schiffes bort:
daz habt ir dicke gehôrt
sagen vür ungelogen.
die grîfen kâmen dar geflogen
und fuortens hin zir neste.17

Graf Wetzel, ein enger Vertrauter Herzog Ernsts, verfolgt den Plan, die Männer in Meerrinderhäute einzunähen und sich dann von den Greifen davon tragen zu lassen.

„ich hân an disen stunden
uns einen list ervunden
daz uns niht bezzer darf wesen.
suln wir immer genesen,
daz muoz gwislîch dâ von geschehen
daz wir suochen unde spehen,
ê daz wir erwinden,
unz wir in den scheffen vinden
etelîcher hande hiute,
und sliefen wir ellende liute
in unser guoten sarwât.
sô man uns dan vernaet hât
in die hiute“, sprach der degen,
„sô suln wir uns danne legen
vor ûf daz schif sâ.
sô nement uns die grîfen dâ
und füerent uns von hinnen.“18

Herzog Ernst entkommt den Greifen, trauert aber um die verbliebenen Toten seines Gefolges.  Anders als Hagen in der Kudrun durchläuft Herzog Ernst keine Krise, vielmehr durchläuft er ein persönliches Weiterkommen. Seine Reise ist geprägt von Misserfolgen und falschen Einschätzungen, bei denen die meisten seines Gefolges sterben. Er gerät in eine Krise und durch seine falschen Einschätzungen ist er gezwungen Buße zu tun. Die Greifenepisode wird hier weniger ausführlich dargestellt. Anders als in der Kudrun werden die Greife nicht als bestialisch mordend beschrieben, sondern eher als Aasfresser, die ihren Gewohnheiten nachgehen. Es sollte auch erwähnt werden, dass Herzog Ernst es nicht für notwendig erachtet die jungen Greife zu töten, sondern sie am Leben lässt.

dieandern wurden z`âsen
den grîfen und den jungen.
in was dicke alsô gelungen
an liuten genuogen
die sie von dannen truogen
zir neste nâch gewonheit19

Zu den Greifenepisoden der oben aufgeführten Beispiele finden sich zahlreiche Parallelen in der mittelalterlichen Literatur. Claude Lecouteux schreibt in seinem Aufsatz „Die Sage vom Magnetberg“ von einem Motivkomplex in der erzählenden Literatur um 1200:

Vom Magnetberg angezogen, retten sich Seeleute, indem sie sich in Tierhäute einnähen, die dann Greifen bis ans Festland oder auf eine andere, aber bewohnte Insel forttragen. 20

Auch in Werken mittelalterlicher Literatur sind deutliche Parallelen zu erkennen. Das Einnähen in Tierhäute und die Rettung durch Greifen, ist auch für die Protagonisten im Böhmischen Volksbuch [Vgl. Claude Lecouteux: `Herzog Ernst`. Das böhmische Volksbuch von Stillfried und Bruncwig und die morgenländischen Alexandersagen. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 108 (1979), S. 306 – 322. Der böhmische Fürst Bruncwig lässt sich in eine Pferdehaut einnähen und von einem Greif forttragen. Nach seiner Befreiung erschlägt Bruncwig den Greif.[/note], in der Virgilius – Sage des Wartburgskriegs21, sowie in Esclarmonde22die Rettung aus der unzivilisierten Welt zurück in die höfische Welt.

Fazit

Der Greif ist in seiner literarischen Darstellung ein äußerst ambivalentes Wesen: Er beeindruckt durch seine imposante Größe und seine majestätische Ausstrahlung. Er wird in der mittelalterlichen Literatur als räuberisch, dämonisch, böse und als eine Gefahr für die Gesellschaft dargestellt.23 Es ergeben sich durchaus Überschneidungen zwischen der naturkundlichen und fiktionalen Betrachtung angesichts der monströsen bzw. exorbitanten Physis des Greifs. Gerade die beschriebene Menschenfeindlichkeit lässt sich in der mittelalterlichen Literatur mehrfach wiederfinden. Der Greif scheint in der Literatur eine Symbolfigur zu sein, die bei dem Helden einen biografischen Wendepunkt herbei führen soll. Er reift vom Kind zu einem Mann. Als Stellvertreter des Guten kämpft er gegen das symbolische Böse, um die höfische Ordnung wieder herzustellen. Ähnlich wie der Drachenkampf, hat die Begegnung mit einem Greif eine narrative literarische Funktion; die Störung der höfischen Ordnung. Er schafft ein kulturelles Paradigma zwischen der zivilisierten, höfischen Gesellschaft und der wilden, mythischen Insel des Greifs.24 Andererseits dient der Greif in der Literatur als Transportmittel, das zwar die Toten frisst, ansonsten aber keine monströsen Eigenschaften beinhaltet. ,Der Lebensraum der Greife lässt sich als Ort der Strafe, der Bewährung, des Existenzkampfes und der Buße erklären. Es ist ein Ort außerhalb der Zivilisation von dem schreckliche Gefahren ausgehen. Die Protagonisten sind isoliert und auf sich selbst gestellt. Die vermeidlichen Helden müssen sich durch Bußfertigkeit beweisen. Einfach fortgehen scheint unmöglich, es wird immer ein Transportmittel benötigt. Da im Zusammenhang der Magnetbergsage die Schiffe zerstört sind oder in Kudrun kein Schiff vorhanden ist, bedienen sich die Protagonisten der Greifen.

dâ von die helde gemeit,
der herzoge und sîne man,
ze lande kâmen wider dan.25

In der Kudrun wird die Greifenepisode ausschweifend erzählt. Hagens Situation wird damit scheinbar noch dramatischer und aussichtsloser dargestellt. Möglicherweise lässt sich dadurch auch eine größere Zeitspanne erklären, in der Hagen zu einem jungen Mann heranwächst und seine Wut auf das Wilde steigt. Im Herzog Ernst erhalten die Greife eine durchaus eindrucksvolle Rolle, da sie die Not und Hilflosigkeit der Gestrandeten verstärken, jedoch werden sie nicht als bewusst mordende Kreaturen dargestellt. In beiden Erzählungen scheint das Ziel der Reise ein Lernprozess der Protagonisten zu sein. Beide Helden wachsen durch ihre Erfahrungen auf der Greifeninsel heran, gewinnen an Erkenntnis und Bußfertigkeit. Letztendlich wird dann mit Gottes Hilfe die höfische Welt wieder hergestellt und somit die wilde, unzivilisierte Welt verdrängt.

Der Drache Pfetan in Wirnts von Grafenberg Wigalois

Wirnts von Grafenberg Roman Wigalois hat seinen Ursprung um 1210/1220 und gehört zu den wichtigsten Artusromanen des Mittelalters.1 Gabriela Antunes betont die herausragende Stellung in der mittelalterlichen deutschen Literatur und seine enorme Bedeutung für die Entwicklung des Artusromans.2 Wigalois ist Ritter der Tafelrunde und der Sohn Gaweins. Im Verlauf der Erzählung soll Wigalois das Land Korntin von teuflischen Kreaturen befreien. In einem Kampf besiegt er den Drachen Pfetan. Als christlicher Held vertraut er dabei auf die Unterstützung von Gott und wird so zum Gottesstreiter.3Der Drache Pfetan wird in Wirnts von Grafenberg Wigalois als deheine crêature4 dargestellt. Für den Verlauf der Geschichte steht er in einem direkten Zusammenhang mit der Befreiung Korntins, denn Pfetan repräsentiert das Chaos und das Böse, welches die Gesellschaft in seiner Ordnung bedroht. Ihn zu bezwingen gilt als Bekämpfung des Bösen – Wigalois, von Gott auserwählt, bezwingt den Drachen und ist in der Lage die (höfische) Ordnung wieder herzustellen.5

Im Folgenden soll darauf eingegangen werden, wie der Drache Pfetan als teuflische Kreatur oder gar als Teufel selbst dargestellt wird.

Definition

Der Definition nach ist ein Drache

„zumeist […] von echsenartiger, mit Schuppen bedeckter Gestalt mit fledermausartigen Flügeln und zwei oder vier raubtierartigen Krallenfüßen, […] er kann mehrköpfig sein, […] speit Feuer, hat einen giftigen Atem und den bösen Blick.“ 6

Dem Drachen werden durchaus auch positive Attribute zugeschrieben, so erzählt Hildegard von Bingen, dass das Drachenblut eine heilende Wirkung besitzt7 und ein Drachenherz, welches im Ackerboden vergraben wird, vor Schaden bewahrt.8 Allerdings gilt er in der abendländischen Tradition „als Verkörperung von Zerstörung und Chaos“9, als „die Inkarnation des Bösen in der Welt, des Teufels Gesellen“.10Claude Lecouteux definiert einen Drachen als jedes Wesen, dass im Originaltext als Drache bzw. mit einem synonymen Begriff, wie Wurm, Wyrm, Draca, Lint, Lintdrache, Lintwurm oder dergleichen bezeichnet wird.11

Darstellung des Drachens im Wigalois

In Wirnts von Grafenberg Wigalois wird der Drache Pfetan detailliert und facettenreich beschrieben.
Er wird als riesenhafte Gestalt dargestellt; die Haut seines Körpers ist geschuppt, Kopf und Beine sind behaart. Vom Kopf bis zum Schwanz sitzt eine scharfe, gelbe, feste Schuppenreihe, die laut Erzähler an die Gestalt eines Krokodils erinnert. Eine weitere Darstellung seines Äußeren vervollständigen das Bild des Drachen: Er trägt einen Hahnenkamm, hat Greifenbeine, Flügel, die wie Pfauenfedern schillern und die Ohren eines Maultiers. Sein Leib ist kerzenförmig, sein Hals knorrig und er besitzt einen langen Schwanz, der drachenspezifische Eigenschaften aufweist, auf die Isidor von Sevilla näher eingeht.

einen kamp hêt er als ein han,
wan daz er ungevüege was;
sîn bûch was grüene alsam ein gras,
diu ougen rôt, sîn sîte gel;
der wurm der was sinwel
als ein kerze hin zetal;
sîn scharfer grât der was val;
zwei ôren hêt er als ein mûl;
sîn houbt was âne mâze grôz,
swarz, rûch; sîn snabel blôz,
eins klâfters lanc, wol ellen breit,
vor gespitzet, unde sneit
als ein niuwesliffen sper;
in sînem giele hêt er
lange zene als ein swîn;
breite schuopen hürnîn
wâren an im über al;
von dem houbet hin ze tal
stuont ûf im ein scharfer grât,
als der kokodrille hât,
dâ er die kiele kliubet mit12

Laut Claude Lecouteux sind die an Pfetan beschriebenen Maultierohren ein eher untypisches Drachenattribut, werden jedoch in der Teufelsdarstellung angewendet und könnten ein Indiz dafür sein, dass Pfetan eine Teufelsfigur darstellen soll.13 Lecouteux betont, dass die umfangreiche Beschreibung Pfetans nicht nur einmalig für die mittelhochdeutsche Literatur sei, sondern überdies auch an den naturkundlichen Quellen von Isidor von Sevilla14, Hildegard von Bingen15 und Konrad von Megenberg 16 anzuknüpfen scheint.17Der Drache Pfetan ist durchaus als Schlüsselfigur im Wigalois zu betrachten. Der tapfere Held Wigalois befreit die Menschheit von dem Bösen, das durch den Drachen Pfetan verkörpert wird. Der Drache scheint zunächst unverwundbar und ist nur mit Hilfe von magischen Hilfsmitteln zu besiegen.18Der faulige Atem des Drachens ist sogar in der Lage ein ganzes Heer zu vernichten und verdeutlicht die von Pfetan ausgehende Gefahr. Dazu steht im Wigalois von sînem stanke verdürbe ein her der im ûz dem halse gêt“19Pfetan wird an mehreren Stellen als Verbündeter des Teufels „tievels bot“20 oder sogar als der „tievel“21 selbst begriffen. Stephan Fuchs bezeichnet den Drachen als „Wurzel des Chaotischen“22, was er unter anderem damit belegt, dass Roaz selbst den Drachen nicht vernichten kann und auch Wigalois durch den Drachen in einen (vorübergehenden) chaotischen, ungeordneten, außergesellschaftlichen Urzustand geworfen wird.23

Darstellung des Drachens in der christlichen Überlieferung

Schon im neuen Testament finden sich Hinweise auf den Drachen als ein Bote des Teufels.
Dort wird er in der Offenbarung des Johannes als Wesen mit sieben Köpfen und zehn Hörnern beschrieben.24 Auf jedem Haupt sitzt eine Krone. Durch seine Zerstörung schlägt er mit seinem Schwanz ein Drittel aller Sterne vom Himmel auf die Erde.25
Es wird von einem Drachen berichtet, der am Himmel erscheint und das Kind einer gebärenden Frau verschlingen will. Mit Gottes Hilfe gelingt es der Frau jedoch, sich zu retten und einen Sohn zu gebären, dem die Herrschaft über alle Völker verheißen ist. Doch währenddessen entbrennt im Himmel ein Kampf zwischen dem bedrohlichen Drachen und dem Erzengel Michael und seinen Engeln, infolgedessen der Drache zur Erde gestürzt wird.

Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten und verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt, und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.26

Diese Passage ist prägend für das europäische Drachenverständnis, da der Drache hier mit der Figur des Teufels in Verbindung gebracht wird.
Die Offenbarung wird als Endzeitgeschichte dargestellt.Auch im Wigalois ist eine deutliche Verbindung zwischen dem Weltlichen und Geistlichen zu finden ist.  Als Wigalois den Drachen sieht, betet er zu Gott, er möge ihm helfen:

nu hilf, keiser, herre got,
daz mich dirre tievels bot
iht scheide vin dem lîbe,
daz ich dem süezen wîbe
erledige ir gesellen.
du solt den tievel vellen,
wand er der werlte schaden tuot.27

Der Drachenkampf steht hier sinnbildlich für die Auseinandersetzung mit Satan, dem Bösen schlechthin. Der Sieg über ihn wird gleichgesetzt mit dem Sieg über alles Lebens- und Gottesfeindliche. Andreas Hammer bezeichnet Wigalois als einen vollkommenen Held, der in seinem eigenen Seelenheil unerschütterlich wirkt. Weiter bemerkt Hammer, dass die starke Besinnung auf christliche Symbole im Wigalois, die sich auch im Aufgreifen der Zweifelsthematik zeigt, die Identifikation des Drachen mit dem Teufel im Sinne der biblischen Offenbarung oder der mittelalterlichen Tierallegorien gestattet.28Allerdings darf dabei die Bedeutung und Herkunft der Schlangen nicht außer Acht gelassen werden, da die Schlange als biblisches Geschöpf eine besondere Stellung einnimmt. Auch im alten Testament dient sie als Instrument des Teufels, indem durch sie durch Hinterlist und Tücke die Menschen aus dem Paradies treibt.29

Darstellung des Drachen bei Isidor von Sevilla

Isidor von Sevilla versucht zunächst eine neutralere Betrachtung des Drachen; so bezeichnet er in seinen Etymologiae Drachen als eine Unterart der Schlangen (serpentes).30 Damit erhalten sie den Stellenwert eines real existierenden Lebewesens, das mit einer Seele ausgestattet ist.31Laut Isidor von Sevilla ist ein Drache gewaltig und mit seinem Schwanz in der Lage Elefanten zu töten, indem er sie damit umwickelt, um sie dann zu strangulieren.32
Hier findet sich eine deutliche Parallele zu Pfetan, der seine Beute ähnlich zu jagen scheint.

der wurm hêt nâch wurmes sit
einen zagel langen;
dâ mit hêt er bevangen
vier rîter lussam,
die er vor dem walde nam,
als im diu vrouwe hêt geseit
durch die er nâch dem wurme reit.
vil kûme hêten si ir leben;
der zagel was umb si gegeben
wol mit drin valten;
sus hêt er si behalten,
als er si ezzen wolde33

Im Hinblick auf Isidor von Sevilla ist lediglich das christliche Drachenbild negativ in seiner Darstellung und basiert auf den Überlieferungen der Bibel. Naturkundlich betrachtet, wird der Drache ausschließlich als Tier wahrgenommen und nicht als böse.34 Denn obwohl Isidor von Sevilla den Begriff „monstrum“ nicht in Verbindung mit dem Drachen verwendet, impliziert er durchaus monströse Eigenschaften, indem er von der physischen Exorbitanz des Drachen spricht.35

Fazit

Viele der genannten Textstellen identifizieren den Drachen Pfetan mit dem Teufel. Da die mittelalterliche Literatur von einem starken christlichen Einfluss geprägt ist, scheint dies auch im Sinne der biblischen Offenbarung zu sein.36
Es ist anzunehmen, dass der Drache nicht für das absolute Böse, für den Teufel steht, sondern als ein Teufel zu betrachten ist, der durchaus auszutauschen oder zu ersetzen ist. Sabine und Ulrich Seelbach sehen im Wigalois eindeutige Parallelen zwischen Pfetan und dem Teufel, die durch das Gesamtkonzept des Romans unterstützt werden. Dabei ist zu bedenken,

dass der Roman sowohl „das Problem des Zweifels [als] Zentrum menschlicher Entwicklung und Bewährung“, wie es typisch für die Literatur im Grenzbereich zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre ist, als auch die axiomatische Ethikkonzeption, wie sie an den dilemmatischen Situationen der Artusromane chretienscher Prägung präsent ist, kennt und beartet.37

Der Drache Pfetan scheint folglich eine literarische Rolle einzunehmen; der vermeidliche Held der Geschichte muss sich seinem übermenschlichen Gegner, der hier als Drache dargestellt wird, stellen und besiegen. Durch den Sieg erlangt der Held eine neue heldenhafte Identität und steigt in seinem Ansehen. Durch die detaillierte, furchteinflößende Beschreibung seines Aussehens, wirkt Pfetan noch bedrohlicher und mächtiger. Diese Attribute vervollständigen auch das Bild des vollkommenen Helden Wigalois. Schlussendlich ist dem Drachen Pfetan durch die Zuordnung zur Gattung der Schlangen, der Verbindung zum Christentum und der sprachlichen Zuordnung im Wigalois zwar eine begriffliche Nähe zum Teufel zuzusprechen, jedoch weist er am Ende keine dämonischen Eigenschaften auf, da er von Wigalois in einem ritterlichen Kampf bezwungen wird;38 Wigalois, der verschiedene Hilfsmittel zur Drachenbekämpfung mit sich führt, die zum einen aus übernatürlichen, christlichen Dimensionen zum anderen aus weltlichen Dimensionen bestehen, besiegt Pfetan nicht durch übernatürliche Kräfte, sondern mit dem Stich seiner Lanze.39